Zu Beginn der neuen Woche steigt die Zahl der mit dem COVID-19-Virus infizierten Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten exponentiell an. Am schlimmsten ist die Lage in Italien. Dort stieg die Zahl der Toten allein gestern erneut um 601 auf mittlerweile über 6.077 und die Zahl der Erkrankten um 4.789 auf fast 64.000. Auch die Lage in Spanien ist dramatisch. Die Zahl der Toten stieg gestern um 435 auf über 2300, die der Infizierten auf mehr als 35.000.
Am schnellsten steigen die Zahlen momentan in den USA. Am Montag gab es fest 10.000 neue Erkrankte und über 500 Tote. Auch in Deutschland steigen die Zahlen rasant. Die Anzahl der Infizierten liegt mittlerweile bei über 29.000 (118 Tote). Experten gehen davon aus, dass sich die Lage in den nächsten Wochen dramatisch verschärfen wird. So warnt der Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, vor bis zu zehn Millionen Infizierten. „Wir haben ein exponentielles Wachstum. Wir sind am Anfang eine Epidemie, die noch viele Wochen und Monate unterwegs sein wird“, erklärte er bereits in der vergangenen Woche auf einer Pressekonferenz.
Angesichts dieser Entwicklung droht auch hier ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems und ein tragischer Anstieg der Zahl der Todesfälle. Auf Grund des Fehlens wirklicher Massentests und der Weigerung der Regierung die notwendigen Maßnahmen einzuleiten – u.a. den Bau neuer Krankenhäuser und die schnelle Beschaffung und Produktion dringend benötigter medizinischer Geräte und Schutzausrüstung – steht zu befürchten, dass sich die Katastrophe, die sich jetzt bereits in Italien und Spanien abspielt, in den kommenden Wochen auch hierzulande entwickeln wird.
Mit der Ausbreitung der Pandemie nehmen die wirtschaftlichen Auswirkungen Dimensionen an, die in der Geschichte beispiellos sind. Da die Menschen angewiesen sind, „soziale Distanzierung“ zu praktizieren, kommt die Wirtschaft zum Erliegen. Kleine und mittlere Unternehmen, insbesondere im Einzelhandel und im Dienstleistungssektor, sind ohne Kunden und müssen schließen. Die Notwendigkeit, die gesamte nicht lebensnotwendige Produktion zu stoppen, bedeutet, dass die Zahl der Arbeitslosen schnell ein Niveau erreichen wird, das dem der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre entspricht und dieses möglicherweise sogar noch übersteigt.
Großen Teilen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht droht der Verlust ihres Einkommens und der Möglichkeit, für ausreichend Essen zu sorgen und ihre wöchentlichen und monatlichen Ausgaben zu decken. In einem sozial gespaltenen Land, in dem zig Millionen Menschen kaum oder gar keine Ersparnisse haben und auf Hartz-IV oder andere staatliche Leistungen angewiesen sind, ist die Pandemie selbst für diejenigen, die nicht mit dem Virus infiziert sind, eine soziale Katastrophe.
Die dringende und unbedingte Priorität der wirtschaftlichen Reaktion auf die Pandemie muss eine Notfinanzierung zur vollständigen Deckung der Lohn- und Gehaltsverluste aller Familien der Arbeiterklasse und der Mittelklasse sein. Hypotheken- und Mietzahlungen, Autokredite, medizinische Kosten, Versicherungsbeiträge sowie Ausgaben für Erziehung und Bildung müssen für die Dauer der Gesundheitskrise ausgesetzt werden.
Gleichzeitig müssen kleine und mittlere Unternehmen finanzielle Unterstützung erhalten, damit sie den Konkurs vermeiden und ihre Geschäfte wieder eröffnen können, sobald es die medizinischen Bedingungen erlauben.
Es muss außerdem Geld bereitgestellt werden, um das Überleben von Bildungs-, Kultur- und anderen gesellschaftlich wichtigen Institutionen zu gewährleisten.
Dieses Programm, das die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse in den Vordergrund stellt, steht in diametralem Gegensatz zu dem milliardenschweren Notpaket der Bundesregierung, das gestern vom Bundeskabinett verabschiedet wurde.
Während Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) betrügerische und zynische Lippenbekenntnisse zum Schutz der Arbeitnehmer abgeben, besteht der Hauptzweck des Pakets darin, den Reichtum und die Profite der superreichen Oligarchen in den Konzernen und der Finanzwelt zu schützen. In einem Ausmaß, das noch größer ist als die Rettungsaktion von 2008-09, fordern die Titanen des DAX und der Vorstandsetagen der Unternehmen, dass die Regierung ihnen unbegrenzte Summen zur Verfügung stellt.
In den letzten Wochen hat die Bundesregierung kaum Gelder für die Katastrophenhilfe im Zusammenhang mit der Pandemie ausgegeben und weigert sich nach wie vor, die elementarsten medizinischen Vorkehrungen zu treffen. Aber nun hat sie quasi über Nacht ein Paket von 756 Milliarden Euro geschnürt. Bereits in der letzten Woche hatte die Europäische Zentralbank (EZB) ein Rettungspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro für die Finanzmärkte verkündet.
Der Großteil der von der Bundesregierung mobilisierten Gelder – 600 Milliarden Euro – sind zur Unterstützung von Großunternehmen vorgesehen und nur 50 Milliarden Euro für kleine Firmen und Selbständige, obwohl diese 58 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Deutschland (knapp 18 Millionen) beschäftigen.
Der Klassencharakter der Notfallmaßnahmen könne kaum deutlicher sein. Während Arbeiter vor einer sozialen und medizinischen Katastrophe stehen, werden die Großbetriebe und die hinter ihnen stehenden Banken mit Geld überschüttet. Der geplante „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ (WSF) übertrifft dabei mit 600 Milliarden Euro sogar den Bankenhilfsfonds Soffin, mit dem die Regierung in der Finanzkrise 2008/09 die Banken rettete.
Alle Bundestagsparteien und die Gewerkschaften sind sich einig, dass 1) massive Geldsummen an die Großkonzerne fließen müssen; 2) keine Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die den Reichtum der Manager und Großinvestoren begrenzen oder bedrohen; und 3) die Interessen des kapitalistischen Profitsystems und des Privateigentums unbehelligt und unangefochten bleiben. Die Banken und Großkonzerne werden nicht nur weiter regieren. Diese Institutionen und ihre Führungskräfte und Großaktionäre sollen reicher und mächtiger denn je aus der Krise hervorgehen.
Das letzte Mal, als dies als Reaktion auf den Absturz von 2008 geschah, war das Ergebnis eine Goldgrube für die superreichen und wohlhabenden Inhaber von Geldvermögen. Allein das Vermögen der 400 reichsten Menschen in Amerika stieg von 1,27 Billionen Dollar im Jahr 2009 auf 2,96 Billionen Dollar im Jahr 2019. Nur drei Personen – Bill Gates, Jeff Bezos und Warren Buffet – besitzen heute mehr als die ärmere Hälfte der amerikanischen Gesellschaft.
Auch in Europa und Deutschland fand eine massive Umverteilung des Reichtums von unten nach oben statt. Während die vor allem von Berlin diktierte Austeritätspolitik Millionen in Armut und soziales Elend gestürzt hat und die Sozial- und Gesundheitssysteme auf dem ganzen Kontinent zerstört wurden, hat sich eine kleine Schicht an der Spitze der Gesellschaft obszön bereichert. In Deutschland betragen die Vermögen der 1000 reichsten Einzelpersonen und 16 wohlhabendsten Großfamilien mittlerweile fast 1,2 Billionen Euro, was ungefähr dem 78-fachen des gesamten Gesundheitshaushalts entspricht.
Die hässliche Realität der kapitalistischen Bereicherungsorgie und die gigantischen Finanzspritzen für Großkonzerne und Banken widerlegen die Lügenphrase, die immer dann intoniert wird, wenn es um die Bedürfnisse der Arbeiterklasse geht: „Es ist kein Geld da!“
Das Problem ist nicht das Fehlen von Geld, sondern die Kontrolle der Produktivkräfte der Gesellschaft durch die Kapitalistenklasse.
Die Sozialistische Gleichheitspartei lehnt die Rettung der Konzerne nachdrücklich ab. Wir fordern, dass die Banken und monopolistischen Konzerne, die Vermögenswerte im Wert von mehreren dutzend und hundert Milliarden Euro kontrollieren, in öffentliche und demokratisch kontrollierte Organisationen umgewandelt werden. Die Investitionen der kleinen und mittleren Aktionäre, von denen viele ihre Ersparnisse für den Ruhestand angelegt haben, und die Löhne und Arbeitsplätze von Millionen, müssen vollständig geschützt werden.
Die Manager, die im vergangenen Jahrzehnt die Unternehmen im Interesse der persönlichen Bereicherung ausgeplündert, umstrukturiert und in vielen Fällen abgewickelt haben, sollten gesetzlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Diese Krise hat, wie der Crash von 2008, den Mythos des kapitalistischen Individualismus entlarvt. Sie hat deutlich gemacht, dass die Banken und Konzerne ohne massive staatliche Unterstützung nicht überleben können.
Mit Aufstellung dieser Forderungen glaubt die SGP zugleich keinen Augenblick daran, dass die Große Koalition, oder eine mögliche andere künftige Regierung, irgendwelche Maßnahmen ergreifen wird, die die Interessen der Finanz-Oligarchie der Unternehmen untergraben.
Deshalb kann das von der SGP geforderte Programm nur durch die politische Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms verwirklicht werden. Alle Arbeiter, die die Notwendigkeit dieses Programms erkennen, sollten Mitglied der SGP werden.
Die globale Pandemie hat in bedeutenden Teilen der internationalen Arbeiterklasse eine Welle sozialistischer Stimmung und Militanz ausgelöst. In der vergangenen Woche erzwangen wilde Streiks in den USA die Schließung der Automobilindustrie, und die Beschäftigten im ganzen Land haben sich geweigert, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten. Auch aus Italien und Frankreich gibt es Berichte über Streiks. Die Stimmung unter Arbeitern hierzulande ist ebenso militant. Diese wachsende Radikalisierung und die zunehmenden Kämpfe der Arbeiterklasse bilden die objektive Grundlage für eine Lösung der Krise auf sozialistischer Grundlage, was die Investition von Billionen von Dollar zur Bekämpfung der Pandemie und zur Erhaltung von Menschenleben durch den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung bedeuten würde.
Wenn die Kapitalistenklasse in ihren Bemühungen, die Arbeiter die Last der Krise tragen zu lassen, keinen Widerstand erfährt, wird dies Millionen von Menschenleben kosten. Die Menschheit hat einen Punkt erreicht, an dem die grundlegendste Funktion der Gesellschaft – die Erhaltung menschlichen Lebens – mit dem Kapitalismus unvereinbar ist.