Vor einigen Wochen hätte sich noch kaum jemand vorstellen können, dass in führenden deutschen Tageszeitungen offen darüber debattiert wird, wie viele Arbeiterleben wirtschaftlichen Interessen geopfert werden sollen. Zu tief saß die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis, die in den großen Industriebetrieben Deutschlands Millionen von Zwangsarbeitern buchstäblich zu Tode gearbeitet hatten. Doch mit der Corona-Krise lassen die Vertreter des Kapitals ihren faschistischen Vorstellungen wieder freien Lauf.
Das Handelsblatt veröffentlichte am Montag ein Interview mit Alexander Dibelius, der elf Jahre lang das Deutschland- und Osteuropageschäft von Goldman Sachs leitete und jetzt das Deutschlandportfolio der Private Equity-Gesellschaft CVC Capital Partners betreut. Der Finanzinvestor spricht unverblümt aus, dass der Tod von Millionen Menschen einem wirtschaftlichen Absturz vorzuziehen sei, der sein Vermögen und den Reichtum seiner Kundschaft gefährdet.
Dibelius lehnt die Maßnahmen ab, die eine Ausbreitung des Virus verlangsamen sollen. Er begründet das damit, dass „der akute Absturz der Weltwirtschaft mit all seinen Folgewirkungen der weit größere und gefährlichere Stresstest als Sars-CoV-2“ sei. Der „nahezu diskussionslose und mit dem zusätzlichen moralischen Zeigefinger implementierte kollektive Shutdown der Wirtschaft und des Sozialwesens“ mache ihm „mehr Angst als diese Virusinfektion“.
„Ist es richtig,“ fragt er, „dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?“ „Besser eine Grippe als eine kaputte Wirtschaft“, fasst er seinen Standpunkt zusammen.
Dibelius, der Medizin studiert hat, bevor er in die Wirtschaft ging, weiß natürlich, dass Covid-19 keine Grippe ist. Er spricht für eine Finanzoligarchie, die durch Jahrzehnte des Sozialabbaus unermesslich reich geworden ist. Nun ist sie bereit, über Leichen zu gehen und „zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung“ zu opfern, um ihren Reichtum zu verteidigen. Wie schon die Finanzkrise 2008/2009 betrachtet sie auch die Corona-Krise als Chance, den Sozialabbau voranzutreiben und sich weiter zu bereichern.
Es ist nur eine Frage von Tagen, bis Dibelius und seinesgleichen fordern werden, Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich weigern ihre Gesundheit zu gefährden, gewaltsam zur Arbeit zu zwingen. Seine asozialen Tiraden im Handelsblatt sind ein subjektiver Ausdruck der objektiven Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaft derart verrottet und die Klassengegensätze derart zugespitzt sind, dass sich die herrschende Klasse nur noch mit faschistischen Methoden an der Macht halten kann, wie sie dies in der Großen Depression der 1930er Jahre tat.
Dibelius selbst und seine Familie brauchen sich wegen der Covid-19-Pandemie keine Sorgen machen. Sein dreistelliges Millionenvermögen garantiert ihnen Zugang zu den besten Ärzten. Und sollten sie in die Verlegenheit kommen, sich in Quarantäne begeben müssen, stehen ihnen neben einer 3500-Quadratmeter-, 40-Zimmer-Villa in Berlin-Dahlem mehrere Zweitwohnsitze zur Verfügung: Eine 10-Millionen-Euro-Villa in St. Tropez, eine 16-Millionen-Euro-Villa in der Nähe von Kitzbühel und eine Immobilie im teuren Londoner Stadtteil Belgravia.
Dibelius vertritt keine Einzelmeinung. Das Handelsblatt hat das Interview mit dem umstrittensten Investmentbanker Deutschlands bewusst platziert, um eine Debatte anzustoßen und seinen faschistischen Auffassungen zum Durchbruch zu verhelfen. „Die Handelsblatt-Redaktion ist sich bewusst, dass die von Alexander Dibelius begonnene Diskussion angesichts von nunmehr bald 15.000 Coronatoten schmerzhaft und kontrovers ist“, heißt es dazu im Handelsblatt Morning Briefing. „Wir sind aber der Meinung, dass auch diese Debatte in verantwortungsvoller Weise geführt werden sollte.“
Dibelius selbst gehört zu den bestvernetzten Figuren der deutschen Wirtschaft und Politik. Er berät Bundeskanzlerin und ist Mitglied des deutsch-amerikanischen Elitenetzwerks Atlantik- Brücke, das derzeit vom ehemaligen SPD-Vorsitzenden und Außenminister Sigmar Gabriel geleitet wird.
Er unterhält intensive Kontakte zu den Spitzen der deutschen Wirtschaft. So verbinden ihn enge persönliche und geschäftliche Bande mit Eckhard Cordes, der nacheinander Vorstandsmitglied bei Daimler-Benz, Vorstandsvorsitzender der Investmentholding Franz Haniel und Vorstandsvorsitzender des Metro-Konzerns war und heute Partner des Hedgefonds Evian und Aufsichtsratsvorsitzender des Industriedienstleisters Bilfinger ist.
Bei der Investmentbank Goldman Sachs, deren Geschäftsbereich Mergers & Acquisitions er seit 1998 leitete, bevor er die Gesamtverantwortung für Deutschland, Osteuropa und Russland übernahm, war Delius für zahlreiche Übernahmen und Fusionen verantwortlich, denen zehntausende Arbeitsplätze zum Opfer fielen – darunter den später wieder rückgängig gemachten Zusammenschluss von Daimler-Benz und Chrysler, die feindliche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone, den Verkauf der Karstadt-Immobilien an Goldman Sachs und den Verkauf der Siemens-Tochter VDO an Continental.
Dibelius‘ Handelsblatt-Interview gibt in ungeschminkter Form die Auffassungen wieder, die auch der Politik der Bundesregierung und sämtlicher Bundestagsparteien zugrunde liegen. Sie schüttet 600 Milliarden Euro an Großkonzerne aus, während sie für Kleinbetriebe und Arbeiter nur Almosen übrig hat. Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie unternimmt sie so gut wie nichts. Obwohl die WHO dies dringend empfiehlt, finden keine flächendeckenden Corona-Tests statt. Selbst für Leute mit ernsthaften Symptomen ist es fast unmöglich, sich testen zu lassen. Und die Krankenhäuser sind auf den Anstieg der Fälle nicht vorbereitet.
Der Kampf gegen die Corona-Krise muss vom Prinzip ausgehen, dass die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen absoluten und bedingungslosen Vorrang vor allen Profitinteressen und Privatvermögen haben. Es geht nicht darum, was die herrschende Klasse behauptet, sich leisten zu können, sondern darum, was die Masse der Menschen braucht. Dafür kämpft die Sozialistische Gleichheitspartei im Rahmen eines internationalen sozialistischen Programms.
Siehe auch:
Corona-Notpaket der Bundesregierung: Milliarden für die Reichen, Almosen für die Armen (24. März 2020)
Keine Rettungsaktionen für Banken und Konzerne! Direkte finanzielle Mittel an die Arbeiter, nicht an die kapitalistische Elite! (24. März 2020)
Wie die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen ist: Ein Aktionsprogramm für die Arbeiterklasse (18. März 2020)