Maybrit Illner: Öffentliches Fernsehen im Dienst der „Zurück an die Arbeit“-Propaganda

Die ZDF-Talkshow Maybrit Illner vom 23. April trug den Titel „Deutschland macht auf – mutig oder riskant?“ Doch wer eine informative Debatte über die Risiken der schrittweisen Aufhebung der Corona-Einschränkungen erwartet hätte, wurde bitter enttäuscht.

Obwohl ernstzunehmende Wissenschaftler dringend davon abraten, die Distanzierungsmaßnahmen herunterzufahren, und vor einer zweiten Welle der Pandemie warnen, bestand die Runde mit einer Ausnahme nur aus Leuten, die für eine rasche Öffnung im Interesse der Wirtschaft warben.

Nur die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, die über Video zugeschaltet war, zeigte sich besorgt über diese Entwicklung. Was mühsam erkämpft wurde, werde nun wieder aufs Spiel gesetzt, bedauerte sie. Hätte man sich mehr Zeit gelassen, wäre die Chance größer, die Ausbreitung des Virus nachhaltig zu bremsen. „Wir sind gerade erst am Anfang der Pandemie“, warnte sie. Die Gefahr, dass sich die Intensivbetten in Deutschland füllen könnten, sei noch nicht gebannt.

Für die Regierungschefs, die die Lockerung der Kontaktsperren zu verantworten haben, war die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) zugeschaltet. Sie verteidigte stur ihre Entscheidung, ein großes Outlet-Center in Rheinland-Pfalz wieder zu öffnen, obwohl dies sowohl Beschäftigte wie Kunden unnötig gefährdet.

Für die Wirtschaft saß mit VW-Chef Herbert Diess einer der bestbezahlten Manager Deutschlands höchstpersönlich im Studio. Er verteidigte die Entscheidung, die Produktion ab dieser Woche wieder hochzufahren, mit der Behauptung, VW sei „sehr gut vorbereitet“. Der Konzern, der staatliche Verkaufsprämien verlangt, um den Absatz wieder anzukurbeln, hätte höchstens noch „zwei oder drei Wochen, vielleicht sogar vier“ durchalten können, aber nicht „beliebig lang“, sagte er.

Diess musste sich allerdings nicht besonders anstrengen, um die Wiederaufnahme der Arbeit bei VW zu rechtfertigen. Diese Aufgabe nahm ihm der Bonner Virologe Hendrik Streeck ab. Wann immer Nguyen-Kim vor den Folgen warnte, grinsten sich Diess und Streeck im Studio gegenseitig an.

Streeck, der in der Sendung den Ton angab, bemühte sich unablässig, die Gefahren des Coronavirus zu verharmlosen. „Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben“, fasste er seinen Standpunkt zusammen. Natürlich könne es sein, „dass wir eine zweite oder dritte Infektionswelle haben”. Er gehe allerdings nicht davon aus. Dass dies zum Kollaps des Gesundheitssystems und zu Zehntausenden Toten führen würde, interessierte ihn wenig. „Wir werden damit leben müssen, wie wir mit allen anderen hier endemischen Coronaviren leben, die immer wieder im Winter Probleme machen“, sagte er.

Ein weiterer Studiogast war der Grünen-Politiker Cem Özdemir, dessen Rolle sich darauf beschränkte, die eigene Corona-Infektion zu schildern und Bundeskanzlerin Angela Merkel in den höchsten Tönen zu loben.

Professor Hendrik Streeck von der Universität Bonn zählt zu den häufigsten Interviewpartnern und Talk-Show-Gästen, seit er seine Bereitschaft bewiesen hat, die Wissenschaft in den Dienst politischer und wirtschaftlicher Interessen zu stellen. Deutlich wurde dies anhand der sogenannten Heinsberg-Studie, die Streeck seit Ende März im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung leitet.

Die Studie untersucht anhand von rund 1000 Einwohnern der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg, einem frühen Epizentrum der Pandemie in Deutschland, wie sich Corona ausbreitet und wie viele Menschen bereits dagegen immun sind. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der sich um den CDU-Vorsitz und die Nachfolge Angela Merkels im Kanzleramt bemüht, dient sie vor allem dazu, sich zu profilieren und die Aufhebung der Kontaktsperren zu forcieren. Streeck erweist sich dabei als sein williger Helfer.

Die Studie war gerade zwei Wochen alt, da präsentierten Laschet und Streeck am 9. April auf einer Pressekonferenz erste Ergebnisse und eine „vorläufige Schlussfolgerung“. Fast 15 Prozent der getesteten Personen seien inzwischen immun gegen das neue Coronavirus, behaupteten sie, der Prozess „bis zum Erreichen einer Herdenimmunität“ sei in Gangelt bereits eingeleitet. Die Letalitätsrate, also die Sterbewahrscheinlichkeit, liege nur bei 0,37 Prozent statt bei den 1,8 bis 1,9 Prozent, die das Robert-Koch-Institut für ganz Deutschland annimmt.

Es sei zu erwarten, folgerten sie, dass durch Hygienemaßnahmen eine derart weite Senkung der Viruskonzentration erreicht werden könne, dass Menschen nicht so schwer an Covid-19 erkranken und gleichzeitig doch immun werden. Zusammengefasst lautete ihre Botschaft: Man braucht sich keine Sorgen mehr zu machen, wenn man bloß regelmäßig die Hände wäscht.

Beweise für diese Annahmen lieferte Streeck nicht. Wissenschaftler – darunter der Top-Experte für Coronaviren in Deutschland, Christian Drosten von der Berliner Charité – monierten, dass weder die Zusammensetzung der Stichproben noch die Methodik der Untersuchung bekannt, die Schlussfolgerungen also schlicht nicht nachvollziehbar seien. Daran hat sich auch zwei Wochen danach nichts geändert; die Studie ist bis heute nicht veröffentlicht worden.

Stattdessen ist jetzt bekannt, dass die Studie von der PR-Agentur Storymachine promotet wird. Laut einem Gründer von Storymachine, dem ehemaligen Stern-Online-Chefredakteur Philipp Jessen, beschäftigen sich zehn Mitarbeiter der Agentur damit, die Arbeit der Forscher auf Twitter, Facebook und anderen Kanälen zu „dokumentieren“.

Storymachine ist eine hochpolitische PR-Agentur. Gegründet wurde sie vom langjährigen Bild-Chef Kai Diekmann, einem der wichtigsten Strippenzieher in Politik und Medien, dem Event-Manager Michael Mronz, der mit dem 2016 verstorbenen FDP-Chef und deutschen Außenminister Guido Westerwelle verheiratet war, und Jessen. Streeck ist laut eigener Aussage persönlich mit Mronz befreundet. Die FDP, ein Lobbyverband der Wirtschaft und der Reichen, drängt neben der rechtsextremen AfD am heftigsten auf eine schnelle Rückkehr zur Arbeit.

Normalerweise wahrt Storymachine striktes Stilschweigen über ihre Kunden. Laut Spiegel-Informationen hat die Agentur auch den Twitter-Account von Ursula von der Leyen gemanagt, als sie erfolgreich für den Vorsitz der EU-Kommission kandidierte.

Die Werbung für Streecks Heinsbergprojekt erfolge aus „Eigeninitiative“ und kostenlos, behauptete Jessen gegenüber der Website Meedia.de. Allerdings werde „ein Teil der Kosten von Partnern dankenswertere Weise übernommen“ – mit anderen Worten, die Werbung für die Studie wird von Wirtschaftsinteressen gesponsert, die auf eine rasche Lockerung der Kontaktsperren und die Rückkehr zur Arbeit drängen.

Streeck hatte die Distanzierungsmaßnahmen zur Einschränkung des Coronavirus von Anfang an kritisiert. So hatte er Ende März behauptet, es sei fraglich, ob es beim Friseurbesuch oder beim Einkaufen zu Übertragungen kommen könne. Im Gegensatz zu Christian Drosten von der Charité ist Streeck kein Corona-Spezialist. Er hat bisher vor allem an der Erforschung des HIV-Virus gearbeitet, unter anderem auch für das amerikanische Militär. 2012 wurde er an das United States Military HIV Research Program berufen, wo er eine Abteilung leitete. Er ist nach wie vor als Gastwissenschaftler für das Programm tätig.

Drosten war schon 2003 an der Erforschung des SARS-Virus beteiligt und hat mit einem Team einen Schnelltest gegen das neue Coronavirus entwickelt, der bereits ab Mitte Januar weltweit zur Verfügung stand. Anders als Streeck hat sich Drosten von Anfang an für strikte Eindämmungsmaßnahmen ausgesprochen. Lockerungsmaßnahmen hält er nur für zulässig, wenn ihnen neue Maßnahmen wie Handy-Tracking entgegengestellt werden.

Der Skandal um das Heinsbergprojekt stellt Streecks Integrität als Wissenschaftler in Frage. Er ist bestens dokumentiert. Die Zeit, die Welt und andere Zeitungen haben ausführliche Artikel darüber veröffentlicht. Dass Streeck seither umso häufiger als Interview-Partner und Talk-Show-Gast eingeladen wird, zeigt, in welchem Ausmaß die deutschen Medien – einschließlich der öffentlich-rechtlichen – bemüht sind, die Meinung zu manipulieren. Wenn es um die Unterordnung von Menschenleben unter die Interessen der Wirtschaft geht, sind sie zu allem bereit.

Sie empören sich gern und oft über die Gängelung der Medien in China und Russland, doch angesichts der scharfen sozialen Gegensätze, die durch die Coronakrise weiter vertieft werden, existiert die unabhängige Presse auch in den westlichen kapitalistischen Ländern nur noch auf dem Papier.

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