Coronakrise deckt verheerende Zustände in der Fleischindustrie auf

In keiner Branche sind bisher so viele Menschen am Coronavirus erkrankt wie in der Fleischindustrie. Die Schlachthöfe in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein entwickeln sich seit Wochen zu wahren Corona-Hotspots; dort haben sich Hunderte Arbeiter, meist Werksverträgler aus Osteuropa, mit dem gefährlichen Virus infiziert.

In Nordrhein-Westfalen wurden bei Westfleisch in Coesfeld bis Dienstagmittag 264 von 1200 Arbeitern positiv getestet, und auch in Oer-Erkenschwick sind bei einem weiteren Schlachthof desselben Konzerns 40 Beschäftigte infiziert. Die Schlachthöfe wurden vorübergehend geschlossen, und die NRW-Landesregierung hat die breite Testung aller Fleischindustrie-Beschäftigten in NRW angeordnet.

Dabei zeigte sich, dass auch bei einem weiteren Betrieb, bei Boeser Frischfleisch in Schöppingen (Kreis Borken), schon 34 Arbeiter angesteckt waren. Bei dem bundesweit größten Fleischverarbeiter, der Großschlachterei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (ebenfalls NRW), dauert das Testen von insgesamt 7000 Beschäftigten noch an.

In Schleswig-Holstein wurden derweil beim Schlachthofbetreiber Vion schon vor einer Woche über 100 Beschäftigte positiv auf Covid-19 getestet. Auch in Baden-Württemberg ist die Zahl der Infizierten bei Müller Fleisch in Birkenfeld weiter angestiegen. Dort haben sich mittlerweile 412 Arbeiter, weit mehr als jeder Dritte der insgesamt 1100 Beschäftigten, mit dem Virus infiziert.

Aus dem baden-württembergischen Enzkreis, in dem Birkenfeld liegt, heißt es inzwischen, dass fast 150 Mitarbeiter von Müller Fleisch wieder genesen seien. Das bedeutet jedoch nur, dass sie jetzt unter versschärften Ausbeuterbedingungen die Arbeit wieder aufnehmen müssen, während die so genannte „Betriebsquarantäne“ weiterläuft.

Denn trotz Pandemie arbeiten die meisten Schlachthöfe weiter, und für die Arbeiter hat sich der Arbeitsdruck noch einmal verschärft: In Birkenfeld stehen die gesunden Arbeiterinnen und Arbeiter seit zwei Wochen in überlangen Schichten bis zu zwölf Stunden am Band, um die Ausfälle auszugleichen.

In NRW haben Arbeiter von Westfleisch in Coesfeld gegenüber einem WDR-Team deutlich gemacht, dass ein derart brutaler Arbeitsdruck durchaus auch zu normalen Zeiten vorherrscht. Dort berichteten zwei Rumänen: „Im Vertrag steht eine Arbeitszeit von acht Stunden. Aber normalerweise arbeitest du zehn oder zwölf Stunden, auch am Samstag und oft sonntags dazu.“ Andere zeigten den Kamerateams, wo sie wohnen: Es sind Sammelunterkünfte für Leiharbeiter im Kreis Coesfeld, wo sich drei Männer ein Zimmer und zehn Personen die Küche und die Waschräume teilen.

Tatsächlich sind es gerade die unhygienischen, überfüllten und verkommenen Unterkünfte, in denen sich das Virus ausbreiten kann. Organisiert werden sie von Subunternehmern, die den Schlachthöfen die Billigarbeitskräfte vermitteln, auf deren Ausbeutung das Milliardengeschäft der Fleischindustrie beruht. Auch die Subunternehmer selbst machen dabei ein Riesengeschäft, da sie den osteuropäischen Arbeitsmigranten einen Großteil des Lohns für Unterkunft, Vermittlung, Transport, etc. abknöpfen.

„Wir haben es mit einem kriminellen Milieu zu tun“, erklärte dazu Peter Adrian, Leiter des SWR-Rechercheteams Unit, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ). „Diese Subunternehmer rekrutieren sich zum Teil aus ehemaligen Rockerclubs. Es können auch Drogen- oder Zuhälterringe sein.“ Dabei dürfe man „die kriminelle Energie nicht unterschätzen“. Aus den osteuropäischen Arbeitern werde „das Maximum herausgepresst“, man betrüge sie systematisch um Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsrechte.

Das Grundproblem, setzte Adrian hinzu, sei Folgendes: „Die Fleischindustrie setzt auf Subunternehmer und Werksverträge.“ Damit hat die Corona-Pandemie in der Schlachtbranche mit einem Schlag eine riesige Eiterbeule aufgedeckt, die schlimmer stinkt als das berüchtigte Gammelfleisch.

Tatsächlich sind die schreienden Zustände seit Jahren bekannt. Erst jetzt, da die Corona-Pandemie droht, die Fleischindustrie lahmzulegen, werden sie zum Thema für die offizielle deutsche Politik.

Am Mittwoch sahen sich Bundesregierung und Parlament gezwungen, eine „aktuelle Stunde“ im Bundestag dem Thema Fleischindustrie zu widmen. Die Grünen hatten die Aussprache beantragt. Ihr Agrarsprecher, Friedrich Ostendorff, empörte sich: „Die primitive Beschäftigungs- und Unterbringungssituation war schon vor der Corona Krise eine Zumutung, jetzt wird sie auch noch zum Seuchen-Hotspot.“

Absurderweise entrüstete sich auch Hubertus Heil über die Zustände. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende ist seit über zwei Jahren Bundesarbeits- und Sozialminister; seine Partei und die Grünen haben mit den Hartz-Gesetzen die Voraussetzungen für die Niedriglöhne in den Schlachthöfen geschaffen.

Heil beschwerte sich zunächst darüber, dass „in Coesfeld jetzt der Lockdown wieder sein muss“, wodurch „ein großer Schaden für die ganze Gesellschaft“ entstanden sei, und versprach dann, „mit diesen Verhältnissen aufzuräumen“. Die Gesellschaft dürfe nicht weiter zuschauen, wie Menschen aus Mittel- und Osteuropa ausgebeutet würden, sagte Heil und kündigte bundesweit verbindlichen Kontrollen an.

Tatsächlich liegen der Regierung seit langem detaillierte Informationen über die Zustände in der Fleischindustrie vor. Vor fünf Jahren wurde 2015 eine sogenannte „Selbstverpflichtung der Fleischbetriebe und Werksvertragsfirmen“ beschlossen, die zwei Jahre später noch einmal erneuert wurde. Nichts hat sich grundsätzlich geändert. Im Herbst 2019 ergab eine umfangreiche Kontrolle teils gravierende Verletzungen der Bestimmungen in über 85 Prozent der Betriebe.

Die Fleischindustrie selbst hat am Mittwoch einen neuen Runden Tisch mit Minister Heil sowie Landwirtschaftsministerin Klöckner und Gesundheitsminister Spahn (beide CDU) angekündigt. Gleichzeitig wies der Verband der Fleischwirtschaft (VDF) jegliche Kritik an den Arbeitsbedingungen zurück. Er konnte sich darauf berufen, dass die Fleischbosse, Zwischenhändler und Subunternehmer das deutsche Arbeitsrecht und dasjenige der EU eingehalten hätten.

Die vorherrschenden Zustände sind das gewollte Ergebnis der EU-Osterweiterung. Sie wurden von denselben Parteien, die sich heute entrüsten, bewusst angestrebt und herbeigeführt. Die Werksverträge, die Leiharbeit und die Subunternehmerstrukturen sind Teil der Marktreformen, die auf die kapitalistische Restauration vor dreißig Jahren in Osteuropa folgten.

Die EU-Ostererweiterung hat in den Jahren von 2004 bis 2009 die soziale Krise in den neuen Mitgliedsländern massiv verschärft. Durch das Spardiktat der EU wurden Länder wie Bulgarien und Rumänien in die Armenhäuser Europas verwandelt. Davon profitierten besonders die deutschen Konzerne, denen es in den darauf folgenden Jahren gelang, sozialversicherungspflichtige Standard-Arbeitsverhältnisse durch Billiglohnjobs zu ersetzen. Die heutigen Sklavenbedingungen und mafiösen Strukturen sind die logische Folge dieser Entwicklung.

Die Fleischindustrie ist nur die Spitze des Eisbergs. Unter ähnlichen Bedingungen schuften heute auch Arbeiter in der Landwirtschaft, in der Reinigungsbranche, bei den Paketzustellern, bei Amazon, in der Bauindustrie (Beispiel Großbaustelle „Stuttgart 21“), in den Busbetrieben und dem gesamten Nahverkehr, dem Transportwesen, den Flughafenbodendiensten, etc. – und natürlich im Pflegebereich und dem gesamten Gesundheitsdienst.

Von der Corona-Pandemie sind die unterdrücktesten Teile der Arbeiterklasse am stärksten betroffen, einschließlich zahlreicher Todesopfer. Sie haben die größte soziale Last zu tragen. Ihnen werden auch die wirtschaftlichen Kosten der Krise in Form von Kurzarbeit, Lohnverzicht und Entlassungen aufgebürdet.

Um den Kampf dagegen aufzunehmen, ist es notwendig, dass Arbeiter mit den nationalistischen Gewerkschaften brechen. Sie müssen sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und seine Sektionen, die Sozialistischen Gleichheitsparteien, treten in diesem Kampf als weltweit einzige Organisation für eine sozialistische Perspektive ein..

Loading