Mit immer größerer Geschwindigkeit gehen die Regierungen der Bundesländer dazu über, die Kitas und Schulen wieder zu öffnen. Dabei klaffen Theorie und Praxis weit auseinander. Landespolitiker aller Parteien nehmen den Ausbruch neuer, verhängnisvoller Covid-19-Ausbrüche sehenden Auges in Kauf.
In Sachsen sind die Kindergärten schon seit dem 18. Mai wieder offen, in Thüringen seit dem 25. Mai. Zum 8. Juni hat der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) den „Übergang vom Corona-Krisenmodus zum Regelbetrieb“ ohne weitere feste Vorgaben angekündigt. Auch das grün regierte Baden-Württemberg und mehrere weitere Länder wollen spätestens Ende Juni zum normalen Regelbetrieb ohne Abstandsgebote übergehen.
Eines der Bundesländer, die jetzt nicht schnell genug zum Normalbetrieb zurückkehren können, ist Nordrhein-Westfalen. Dort dürfen alle Vorschulkinder die Kitas schon ab dem gestrigen Donnerstag (28. Mai) wieder besuchen. Ab 8. Juni sollen die Einrichtungen wieder für sämtliche Kinder offenstehen.
Was das in der Praxis bedeutet, zeigte Jan Weinrich, Erzieher aus NRW, in einem kurzen, spontanen „Erzieherstatement“ aus seinem Kindergarten, das er ins Netz gestellt hat. Darin sagt er: „Ab dem 8. 6. sind hier 22 Kinder drin, ein Kind davon Integrativ-Kind, zwei Kinder müssen gewickelt werden – aber: Ja, ich krieg‘ das hin.“
Dabei müsse er die Gruppe alleine betreuen, weil seine Kollegin zur Risikogruppe zähle. Die Kinder dürfe er auch nicht auf den Flur oder nach draußen schicken, da keine Infektionskette entstehen dürfe. „Aber – wie ist das tragbar?! Ich kann weder auf die Toilette gehen, noch die Kinder wickeln, noch für Getränke oder Essen sorgen, weil ich hier zu sein habe.“
Er nehme seine Pflicht ernst und fühle sich dafür verantwortlich, dass es den Kindern gut geht, aber – „mit 22 Kindern in diesem Raum: Die Kinder werden bekloppt, ich werde bekloppt. Ihr Leute, ihr habt einen Kindergarten zum letzten Mal besucht, als ihr 5 oder 6 wart, und ihr stellt solche Regelungen auf? Ihr kennt den Alltag gar nicht!“
Er lade alle Politiker, die solche Entscheidungen treffen, dazu ein, einen Tag bei ihm zu hospitieren. „Und dann könnt ihr sagen, ob das tragbar ist.“
Auf dieses Video hin nahm die Redaktion der World Socialist Web Site Kontakt mit Jan auf. Wie er erklärte, betreut seine Einrichtung normalerweise 90 Kinder, die in vier Gruppen aufgeteilt sind. Während des Corona-Lockdowns seien noch 24 Kinder in den Notbetrieb gekommen.
Von insgesamt sieben Erzieherinnen und Erziehern gehörten drei der Risikogruppe an, seien also zuhause, darunter auch seine Kollegin. „Sie ist zuhause, weil sie beim Notbetrieb mit sieben Kindern als gefährdet gilt. Warum soll sie jetzt, bei 22 Kindern, wieder kommen?“ fragte Jan.
Tatsächlich soll auch Personal, das zur Risikogruppe gehört, laut NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) am 8. Juni wieder zur Arbeit kommen. Er gehe davon aus, dass alle Erzieherinnen und Erzieher „normal zur Arbeit kommen“, so der Minister. Dazu sagte Jan: „Lieber mache ich es allein, als sie herkommen zu lassen.“
Theoretisch hätten ab Donnerstag insgesamt schon 25 „Maxi-Kinder“ (Vorschulkinder) zu den 20 Kindern der „systemrelevanten“ Eltern hinzukommen können. Zum Glück seien nicht alle gekommen; dafür sei er dankbar, sagte Jan. „Die Eltern sind oft vernünftiger als die Politiker.“
Wie er schon in seinem Video berichtet hat, nimmt die Einrichtung auch behinderte Kinder auf. „Da fängt wirklich die Arbeit an“, erläuterte Jan. Das erfordere im Prinzip den Einsatz von deutlich mehr Personal. „Schon vor Corona hatten wir unter dem Erziehermangel zu leiden.“
Schuld daran ist die extrem angespannte Personalsituation, bei der zehntausende Erzieher fehlen. Schon im letzten Herbst gab es allein in NRW einer Studie zufolge für eine kindgerechte Betreuung 15.600 Vollzeit-Fachkräfte zu wenig. Dazu heißt es im „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann-Stiftung, die Betreuungssituation in den Kitas sei „noch immer nicht kindgerecht und stellt zudem eine hohe Arbeitsbelastung für die Fachkräfte dar“.
Die Corona-Krise hat diese Situation noch einmal verschärft und für alle sichtbar gemacht. Jan berichtete: „Es ist auch für die Kinder eine angespannte Situation, mit der viele nicht zurechtkommen.“ Dies beginne schon beim Mundschutz, auf den viele Kinder erschreckt reagierten. Oft bleibe gar nichts anderes übrig, als darauf zu verzichten und das Kind hochzuheben und zu trösten.
Dabei werden Erzieher und Kinder einem großen Risiko ausgesetzt. Die Schwierigkeit, so Jan, bestehe ja gerade darin, dass man sich der Bedrohung ständig bewusst sei: „Wir arbeiten bei Regelbetrieb mit 90 Personen zusammen, die alle potentiell Überträger des Virus sein könnten, denen man es aber sehr wenig anmerkt.“
Er fügte hinzu: „Zu Recht werden keine Großveranstaltungen zugelassen, und von den Erwachsenen erwartet man, dass sie Abstand halten. Aber was ist mit den Zwei-bis-vier-Jährigen? Mit ihnen ist das Abstandhalten nicht möglich.“
Die Politiker erwarteten, dass in den Kitas strenge Hygieneregeln eingehalten würden. Das Personal dürfe die Kinder nur in festgelegten Gruppen betreuen und keine Covid-19-Infizierten zulassen. Doch zwischen Theorie und Praxis herrsche eine „totale Diskrepanz. Wir gewähren die größtmögliche Sicherheit für alle – aber letztendlich kann die Kita das nicht leisten.“
„Die Politiker widersprechen sich selbst; ihre Angaben sind in sich widersprüchlich – was soll man glauben?“ Jan sagte, er fühle sich nicht ernst genommen, und er habe das Vertrauen in die Politik verloren. Eine große Unsicherheit sei unter allen Erziehern zu spüren.
Was dieser Erzieher berichtet, bestätigt alles, was die World Socialist Web Site seit Monaten schreibt: Die verantwortungslos organisierte schnelle Öffnung von Kitas und Grundschulen „verwandelt Kinder in potentielle Opfer und Ansteckungsquellen … Auch wenn dies nicht offen gesagt wird, beruht die Lockerungskampagne auf dem Konzept der ‚Herdenimmunität‘ … Die herrschende Klasse lässt zu, dass sich die Krankheit ungehindert ausbreiten kann.“ (siehe die Erklärung der Sozialistischen Gleichheitspartei: „Verhindert die Ausbreitung von Covid-19 und rettet Leben! Baut Aktionskomitees in den Betrieben auf!“)
Dies wird in der arbeitenden Bevölkerung zunehmend verstanden, wie seit Wochen immer neue Leserkommentare und Blogeinträgen bestätigen.
Schon vor zwei Wochen schrieb eine Gruppe von Erziehern in Halle in einem offenen Brief an die Politiker: „Täglich nehmen wir unsere Arbeit ohne Mundschutz, ohne Handschuhe und ohne Abstand, mit Herz und Hingabe auf … Wir haben den Eindruck, dass sich über die Berufsgruppe der Erzieher keinerlei Gedanken gemacht wird. Aber auch wir machen uns Sorgen und haben Angst, was unsere Gesundheit betrifft!!!“
Auf der Website des sächsischen Kultusministeriums zu den Kita- und Schulöffnungen finden sich zahlreiche Kommentare von Eltern und Erziehern, darunter auch dieser von Karla Kolumna: „Steuern wir jetzt absichtlich auf eine Katastrophe zu? Wenn SO eine vorsichtige, vernünftige und schrittweise Öffnung aussehen soll, dann gute Nacht! Arme Kinder, Eltern und Lehrer. Ich finde DIESES Konzept unverantwortlich.“