Der Corona-Ausbruch in einem Hochhauskomplex in Göttingen zieht immer weitere Kreise. Bis zum Freitag sind dort 120 Menschen Covid-19 positiv getestet worden, darunter über fünfzig Kinder. Insgesamt drei Personen mussten sofort ins Krankenhaus, eine davon ringt an der Beatmungsmaschine um ihr Leben. In Niedersachsen sind bisher 607 Covid-19-Patienten von über 12.200 erkannten Infizierten verstorben.
Nach dem Ausbruch in Göttingen sind in dieser Stadt und weiteren Kommunen Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens mehrere hundert Kontaktpersonen ersten Grades ermittelt worden, darunter viele Schüler. Diese müssen sich für zwei Wochen isolieren. Allerdings sollen die Göttinger Schulen, Kitas und alle Sportvereine, die nach dem Ausbruch geschlossen wurden, schon am Montag schrittweise wieder öffnen.
Infektionsherd für den neusten Ausbruch war offenbar eine Feier am 23. Mai im Iduna-Hochhauskomplex nahe der Göttinger Innenstadt, als mehrere Familien gemeinsam das muslimische Zuckerfest zum Ende des Ramadan feierten. Viele Kinder kamen zusammen, und mehrere Männer sollen gemeinsam eine Shisha-Bar aufgesucht haben, wo sich das Virus ausbreiten konnte.
Inzwischen ist ein weiterer Corona-Fall in einem Göttinger Seniorenheim gemeldet worden, wo ein Altenpfleger positiv getestet wurde. Auch ein Mitarbeiter eines Göttinger Freibads hat sich infiziert. Auf Nachfrage räumte die Sozialdezernentin Petra Broistedt (SPD) am Freitag ein, dass in beiden Fällen bisher kein direkter Zusammenhang mit dem Ausbruch im Iduna-Zentrum nachgewiesen sei.
Dennoch schieben die Medien die ganze Verantwortung auf die „illegalen, privaten Familienfeiern“, wie es beispielsweise in der Hamburger Morgenpost heißt. Ihre Überschrift lautet: „Göttingen droht neuer Lockdown – weil einzelne die Regeln brechen“. Die unvermeidliche Dreckschleuder namens Bild-Zeitung hetzt über „arabisch-albanische Clans“, die keinerlei Rücksicht auf die andern Hochhausbewohner nähmen, und nennt den Hochhauskomplex nur noch den „Corona-Block“.
Tatsächlich ist der neue Corona-Ausbruch eher der krassen sozialen Ungleichheit und ihren Folgen für die Schichten geschuldet, die das Iduna-Zentrum überwiegend bewohnen. Der Gebäudekomplex bietet das bekannte Bild des sozialen Niedergangs in den letzten dreißig Jahren. Der Betonbau aus den siebziger Jahren mit etwa 400 Appartements und Wohnungen wirkt heute heruntergekommen. Früher einmal waren das begehrte Wohnungen in Stadtnähe, mit Restaurant und Schwimmbad im Erdgeschoss. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Heute finden hier nur noch sozial schwache Schichten wie Billiglohnarbeiter, Studenten oder Hartz-IV-Empfänger eine Bleibe. Die Bewohner des Iduna-Zentrums kommen in den Medien-Berichten selbst kaum zu Wort, aber ein Fotograph, Ingmar Björn Nolting, hat einige von ihnen vor einem halben Jahr in sehr persönlichen Foto-Tableaus vorgestellt. Unter ihnen sind neben studierenden Jugendlichen und Sozialhilfeempfängern auch verarmte Rentner und Flüchtlingsfamilien.
Dass sich das Coronavirus in der Siedlung ausbreiten konnte, ist kein Wunder. So gelten Aufzüge als besonders gefährlich, aber welcher Bewohner des 17. oder 18. Stockwerks wird jedes Mal die Treppe hochsteigen? Die Wohnbedingungen in dem Hochhaus-Komplex sind keineswegs geeignet, um Abstandsregeln einzuhalten, und den Menschen, die hier wohnen, fehlt schlicht das Geld, um ein gesundes und sicheres Leben führen zu können. Auch könnten sie in hoher Zahl den Risikogruppen angehören. Womöglich hat es auch schon vor dem 23. Mai unentdeckte Covid-19-Fälle gegeben.
Gerade finden drei Tage lang im Parkdeck unter dem Iduna-Zentrum Corona-Tests statt. Alle rund 700 Bewohner des Wohnkomplexes werden auf Covid-19 getestet. Die Polizei ist Tag und Nacht vor Ort, so dass sich die Bewohner wie unter Belagerungszustand vorkommen. Jede offizielle behördliche Mitteilung strotzt vor Drohungen gegen die „Quarantäne-Brecher“ und „Test-Verweigerer“, gegen die es „strafrechtliche Konsequenzen“ geben werde.
In Wirklichkeit sind die meisten Bewohner froh, endlich getestet zu werden, wie der NDR berichtet. Schließlich ist es schon fast ein Privileg, einen Corona-Test zu bekommen. Den überlasteten Gesundheitsämtern fehlt es an Personal und Zeit, um die notwendigen Proben vorzunehmen, und schon lange stellen sie bei positiven Covid-19-Fällen meist nur die Kontaktpersonen unter Quarantäne. Vor kurzem wurde bekannt, dass in Deutschland nicht einmal die Hälfte des heute vorhandenen Test-Potentials von einer Million Tests pro Woche abgerufen wird. Dabei wollen nicht nur die Bewohner der Göttinger Hochhäuser wissen, ob sie infiziert sind oder nicht.
Sowohl das martialische Gehabe und die aggressiven Drohungen mit der Polizei, wie auch die Medienkampagne gegen unverantwortliche „arabischen Großfamilien“ dienen demselben Zweck. Sie sollen davon ablenken, dass trotz neuer Corona-Ausbrüche der Shutdown im Interesse der Wirtschaft jetzt rasch aufgehoben wird.
In Niedersachsen sollen die Schulen am Montag, den 8. Juni, schrittweise wieder geöffnet werden. Wie der Krisenstab der Landesregierung Niedersachsen am Freitag bestätigte, sind kulturelle Veranstaltungen bis maximal 250 Teilnehmer wieder erlaubt, solange jeder Teilnehmer einen Sitzplatz hat. Gleichzeitig dürfen alle Bars und Hotels wieder öffnen, letztere bis zu einer Auslastung von 80 Prozent, und Busreisen dürfen wieder stattfinden, wenn Masken getragen werden.
Im benachbarten Nordrhein-Westfalen gehen die Lockerungen noch viel weiter. Dort sollen die Schulen und Kitas schon ab dem heutigen Montag für alle uneingeschränkt wieder offenstehen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung die Öffnung der Grenzen für die Sommersaison ab dem 15. Juni angekündigt. Sehenden Auges riskieren die Politiker eine todesgefährliche zweite Welle.
In Göttingen wird bloß das Betreiben von Shisha-Bars weiterhin verboten. Die Seitenhiebe gegen Muslime, wie auch das martialische Polizeigehabe, sollen gleichzeitig Nationalismus schüren und die staatliche Aufrüstung stärken. Schließlich bereitet gerade jetzt jeder Blick auf die USA den Herrschenden schlaflose Nächte: Dort hat sich am Polizeimord an George Floyd eine soziale Explosion entzündet, die sich wie ein Lauffeuer ausbreitet und auch auf dieser Seite des Atlantiks für große Demonstrationen sorgt.
In den USA sind weit über 100.000 Menschen an Covid-19 gestorben, und mehr als 40 Millionen haben Arbeit und Existenz verloren. Die Pandemie hat zur Erkenntnis geführt, dass die drängenden Probleme ihren Ursprung nicht in der Rassenfrage, sondern in der sozialen Ungleichheit und Unterdrückung haben. Diese Erkenntnis ist das einzige, was sich weltweit schneller ausbreitet als das Corona-Virus.