Jeder fünfte stationäre Corona-Patient in Deutschland ist gestorben

Zu Beginn dieser Woche, am 27. Juli 2020, starb der rumänische Dirigent Camil Marinescu an Covid-19. Der auch in Berlin als Gastdirigent geschätzte Musiker wurde nur 55 Jahre alt. Er ist einer von rund 50.000 Menschen weltweit, die in dieser Woche ihr Leben an die Corona-Pandemie verloren haben.

Sein Schicksal beleuchtet einmal mehr die große Gefahr, die von SARS-CoV-2 ausgeht. Gegen die Lungenkrankheit ist bisher kein Impfstoff bekannt, und sie ist hochansteckend. Wie rasch ein einzelner Infizierter beispielsweise eine ganze Klasse anstecken kann, das hat die TU Berlin anhand einer Simulation eindrucksvoll dokumentiert. Sie macht verständlich, mit welcher Unruhe jetzt Lehrer, Eltern und Schüler dem Herbstschulbeginn entgegenblicken.

Auch im Schlachtbetrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (NRW) ging der Massenausbruch mit über 1.500 Coronafällen von ganz wenigen Infizierten aus. Das ergab eine Analyse des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, die diese Woche publiziert wurde. Das bisher größte sogenannte Superspreading-Event in Deutschland begann demnach mit nur zwei infizierten Arbeitern.

Die besonderen Arbeitsbedingungen im Schlachthof hätten dann ein Übriges getan, erklärte Adam Grundhoff, ein Verfasser der Studie. Dabei hätten „die niedrige Temperatur, eine geringe Frischluftzufuhr und eine konstante Luftumwälzung durch die Klimaanlage in der Halle, zusammen mit anstrengender körperlicher Arbeit“ die Ausbreitung begünstigt.

Intensivpatient (Foto: Calleamanecer / CC-BY-SA 3.0)

In Deutschland ist bisher mindestens jeder fünfte Corona-Patient gestorben, der zur stationären Behandlung ins Krankenhaus musste. Das ergab eine deutschlandweite Untersuchung von Covid-19-Fällen, die in dieser Woche in The Lancet Respiratory Medicine vorgestellt wurde. Die Studie stammt von dem Wissenschaftsinstitut der AOK (WIdO), der TU Berlin und von Divi (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin). Die Wissenschaftler untersuchten die Fälle von mehr als 10.000 Personen, die vom 26. Februar bis zum 19. April 2020 mit bestätigten Covid-19-Diagnosen in eins von 920 Krankenhäusern eingeliefert worden waren.

Mehr als jeder fünfte von ihnen ist gestorben (22 %); unter Senioren war es sogar fast jeder Dritte. Von den 17 % der Patienten, die künstlich beatmet werden mussten, hat sogar weniger als jeder zweite überlebt: Bei ihnen lag die Sterblichkeit bei 53 %. Dies unterstreicht erneut die Gefährlichkeit des Coronavirus, und zu Recht betonen die Autoren in der Pressemitteilung der TU, dass „weiterhin alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden“ müssten.

Weltweit hat die Pandemie schon rund 675.000 Menschenleben dahingerafft. Weit über 17 Millionen haben sich infiziert. Auch in Deutschland nimmt das Infektionsgeschehen gerade wieder mächtig zu.

Das RKI meldete 902 Neuinfektionen am Donnerstag und 870 am Freitag. Bisher sind hier mindestens 9.141 Menschen an Covid-19 gestorben. Das Sieben-Tage-Mittel hat sich innerhalb von zwei Wochen beinahe verdoppelt, von 2.237 neuen Fällen am 15. Juli auf gestern 4.141 Fälle. Die Fallzahl pro 100.000 Einwohner ist in derselben Zeit von 2,7 auf 5,0 angestiegen.

Die Reproduktionszahl (R-Wert), die seit Tagen konstant über eins liegt, weist auf den Trend zum exponentiellen Wachstum hin. Der 7-Tage-R-Wert steht bei 1,17. Und dabei ist zweifellos bei all diesen Zahlen die Dunkelziffer immer noch sehr hoch, da längst nicht überall, wo es nötig wäre, systematisch getestet wird.

Immer mehr neue Hotspots werden gemeldet, und oft sind Arbeiter, Saisonkräfte und arme Großfamilien betroffen, die wenig Möglichkeiten haben, sich zu schützen. Nachdem sich im bayrischen Mamming 176 osteuropäische Erntehelfer infiziert hatten, wurde ein zweiter größerer Herd mit 48 Infizierten im Landkreis Hof im Zusammenhang mit einem Supermarkt registriert. In Schwäbisch-Gmünd (Baden-Württemberg) wurden nach einer Trauerfeier bisher 90 Infizierte festgestellt, dort wurde am Freitag eine Grundschulklasse geschlossen. In Sinsheim, ebenfalls Baden-Württemberg, gab es einen weiteren Ausbruch mit 40 Infizierten in einer rumänischen Pfingstgemeinde.

Auch in Schleswig-Holstein und in Thüringen wurden neue Ausbrüche festgestellt. In Weimar zeigen die beschlossenen neuen Maßnahmen, wie sträflich bisher gerade die Thüringer Landesregierung vorging, in der Die Linke regiert: Nachdem Bodo Ramelow im Mai offiziell die Aufhebung der Maskenpflicht verkündet hatte, werden Regeln wie das Maskentragen in Läden und die Feststellung der Personalien im Gastronomie-Außenbereich erst jetzt wieder eingeführt.

Während die Medien und Politiker die Verantwortung für eine drohende zweite Corona-Welle der „verantwortungslosen“ Bevölkerung in die Schuhe schieben, ist der wirkliche Grund die rigorose Weigerung aller Regierungspolitiker, Leben und Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung anstatt der Profite an erste Stelle zu setzen. Um keinen Preis der Welt sind sie bereit, einen zweiten Lockdown oder irgendwelche einschneidenden Veränderungen zu organisieren, die ihre Profite schmälern könnten.

Dies wird besonders an dem neuen Arbeitsgesetzesentwurf deutlich, mit dem Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf den Covid-19-Ausbruch bei Tönnies reagiert. Der Massenausbruch hatte die Sklaven-artigen Arbeitsbedingungen und Dumpinglöhne der osteuropäischen Werksvertragsarbeiter, die sich am allerwenigsten vor Corona schützen können, ins Rampenlicht gerückt.

Heils neues Gesetz, so der Minister, richte sich gegen die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ in diesen Betrieben und werde damit „aufräumen, und zwar gründlich“. Allerdings ist das Gegenteil der Fall, wie ein Blick darauf verrät, was bisher bekannt ist: Das Gesetz soll nur für die Fleischindustrie, für Betriebe ab 50 Beschäftigten gelten. Für sie sollen Werksverträge ab dem 1. Januar 2021 verboten sein. Ab dem 1. April dürfen sie auch keine Leiharbeiter mehr beschäftigen.

Darauf hat Tönnies bereits reagiert, indem er in großer Eile fünfzehn Tochterunternehmen eintragen ließ, die an die Stelle der bisherigen Subunternehmen treten, und über die künftig Arbeitskräfte angeheuert und ausgebeutet werden könnten.

Der Entwurf des Arbeitsministers sieht weiter vor, dass die Zustände in der Fleischindustrie ab 2026 – also in sechs Jahren! – „verbindlich kontrolliert“ werden. Was heißt „verbindlich kontrolliert?“ Pro Jahr soll dann mindestens jeder 20. Betrieb kontrolliert werden. Mit anderen Worten, jeder Großbetrieb muss nur alle zwanzig Jahre mit einer Kontrolle rechnen!

Dieser Gesetzesentwurf, den die DGB-Gewerkschaft Nahrung, Gaststätten, Genuss (NGG) schon als „Schritt in die richtige Richtung“ begrüßt hat, stellt höchstens eine Beruhigungspille für die alarmierte Öffentlichkeit dar. Er entlarvt die gesamte Fleischindustrie als eine einzige unkontrollierte Grauzone, in der die Arbeiter auf Gedeih und Verderb Milliardären wie Tönnies und seinen halbseidenen Arbeitsvermittlern ausgeliefert sind.

In einem Kommentar zu diesem Geschenk an die Fleisch- und anderen Großunternehmen charakterisiert der Journalist Gabor Steingart, ein rechter Zyniker, die Unternehmer, die davon profitieren, mit den Worten: Sie „beten zu Clemens Tönnies und bekennen sich zum Raffzahnprinzip, das in seiner ethisch veredelten Form auch als ‚Survival of the Fittest‘ bezeichnet wird“. Der Fleischbaron Tönnies sei dafür bekannt, „geltende Regeln nicht zu brechen, sondern nur zu seinen Gunsten zu biegen“.

Steingart fährt fort, da die neuen Regelungen nicht für Betriebe gelten sollen, die weniger als 50 Personen beschäftigen, werde Tönnies künftig „mit seinen Leiharbeitern das tun, was er in seinen Schlachtbetrieben auch tut – alles übersichtlich portionieren“. Das ist zwar zynisch, aber nicht ganz verkehrt. Die Firma Tönnies darf seit Mitte Juli wieder schlachten. Obwohl erneut mindestens sechs Beschäftigte Corona-positiv getestet wurden, darf Tönnies den Schlachtbetrieb uneingeschränkt fortsetzen.

Die pauschale Quarantäne für alle Tönnies-Mitarbeiter im Kreis Gütersloh ist seit dem 18. Juli aufgehoben. Mit welcher Verachtung für diese Arbeiter die Behörden dabei vorgehen, hat eine Reportage des ARD-Politikmagazins „Monitor“ am Donnerstagabend aufgedeckt. Das Kreis-Gesundheitsamt hat über die Ordnungsämter der Gemeinden offenbar hunderten Arbeitern falsche Bescheide zugestellt.

Am 17. Juli, dem Tag an dem die Quarantäne endete, wurden in Rheda-Wiedenbrück und Rietberg beinahe 800 Briefe zugestellt. Offenbar enthalten sie wortgleiche Textbausteine, und viele Arbeiter werden darin aufgefordert, weiter in Quarantäne zu bleiben, weil sie positiv getestet worden seien, oder weil sie telefonisch über Krankheitssymptome geklagt hätten. Anderen Arbeitern wurde mitgeteilt, sie hätten Kontakt zu Infizierten gehabt und müssten deshalb weiter zuhause bleiben.

Diese Mitteilung erhielten auch Arbeiter, die bereits selbst infiziert gewesen, aber nicht mehr ansteckend und aus der Quarantäne offiziell entlassen waren. Viele Arbeiter, die gerade vier Wochen Quarantäne hinter sich hatten, verstanden nicht genau, was da auf Deutsch stand, und waren extrem verunsichert. Das sei „wie ein sich wiederholender Albtraum“, sagte einer von ihnen, „wie ins Gefängnis gesteckt zu werden, aber ohne Urteil“.

Bei zahlreichen „Monitor“-Nachfragen stellte sich heraus, dass die Angaben in allen Stichproben falsch waren und es keinen Grund gab, die Arbeiter weiter einzusperren. Auf Nachfrage der „Monitor“-Redaktion erklärten die Gemeinden Rheda-Wiedenbrück und Rietberg, es habe sich um „Missverständnisse und Irrtümer“ gehandelt. „Dass in einzelnen Fällen Fehler passiert sind, das ist menschlich und auch nachvollziehbar“, rechtfertigte Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) gegenüber Radio Gütersloh diesen schlampigen Umgang.

Vor ein paar Tagen schrieb ein Journalist von Der Freitag: „Eigentlich schreit alles nach sozial-ökologischer Politik. Eigentlich. Für einen echten Aufbruch bräuchte es ein gesellschaftliches Gegenprojekt zum Neoliberalismus.“ Darauf antwortete ein Leser trocken auf Twitter: „Dieses Projekt gibt es bereits, es heißt #Sozialismus.“

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