EU verweigert Hunderten im Mittelmeer geretteten Flüchtlingen die Aufnahme

Mehr als 400 Flüchtlinge warten im zentralen Mittelmeer vor Sizilien auf die Zuweisung zu einem sicheren Hafen. Die geschwächten und zum Teil verletzten Flüchtlinge sind in der letzten Woche von den privaten Seenotrettungsschiffen Louise Michel und Seawatch 4 vor dem Ertrinken gerettet worden. Die Louise Michel, die mehr als 200 der schiffbrüchigen Flüchtlinge aufgenommen hatte, war so überfüllt, dass sie länger als einen Tag manövrierunfähig auf den Wellen trieb.

Hilferufe an die maltesischen und italienischen Behörden blieben unbeantwortet. Außerdem harren auf dem dänischen Tanker Maersk Etienne 27 Migranten, darunter Kinder und eine schwangere Frau, seit fast vier Wochen aus, ohne an Land gehen zu können.

Durch die Einstellung jeglicher staatlichen Seenotrettungsmissionen im zentralen Mittelmeer haben Unglücke von Flüchtlingsbooten mit häufig tödlichem Ausgang in den letzten Wochen stark zugenommen. Durch die illegale Festsetzung von privaten Seenotrettungsschiffen wie der Ocean Viking, der Alan Kurdi und der Sea Watch 3 patrouillierten wochenlang auch keine zivilen Seenotrettungsschiffe im Mittelmer.

Wie dramatisch zugespitzt die humanitäre Situation in dem Seegebiet zwischen Libyen und Italien aber tatsächlich ist, machen die Rettungsmissionen der Seawatch 4 und der vom britischen Streetart-Künstler Banksy finanzierten Louise Michel deutlich.

Die Louise Michel nach einer Rettungsaktion am 29. August (AP Photo/Santi Palacios)

Die Seawatch 4 ist am 15. August vom spanischen Burriana aus gestartet und hat nach Ankunft im Zielgebiet am 22. und 23. August innerhalb von 48 Stunden mehr als 200 Flüchtlinge aus dem Meer gerettet. „Die meisten der heute Morgen geretteten Personen waren schwach und desorientiert, rochen stark nach Benzin und zeigten Symptome einer Kraftstoffinhalation. Über 90 Personen benötigten Notduschen, da sie dem Benzin ausgesetzt waren, das den Motor antreibt, schädliche Dämpfe erzeugt und in Verbindung mit Salzwasser stark ätzend ist“, schrieb die medizinische Projektkoordinatorin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen an Bord der Seawatch 4, Barabara Deck.

Wenige Tage später ist die Louise Michel ebenfalls von Burriana aus in See gestochen. Das nur 31 Meter lange ehemalige Patrouillenboot des französischen Zolls, ist zu klein, um hunderte Flüchtlinge mehrere Tage unterzubringen und zu versorgen. Es ist aber mit einer Höchstgeschwindigkeit von 27 Knoten wesentlich schneller als andere zivile Rettungsschiffe und kann daher vor Ort Rettungsmaßnahmen einleiten. Die Crew hat so die Bergung von mehr als hundert Flüchtlingen durch die Seawatch 4 unterstützt.

Am vergangenen Donnerstag jedoch musste sie selbst 89 Flüchtlinge aufnehmen. Am nächsten Tag folgte die Louise Michel einem Notruf des Aufklärungsflugzeuges Moonbird, das von Flüchtlingshelfern betrieben wird. Die Moonbird hatte ein Schlauchboot entdeckt, das sich nicht mehr von der Stelle bewegte und voll Wasser lief. „Wir waren schockiert, als wir das Schlauchboot entdeckten. Es war unglaublich überfüllt und die Menschen an Bord versuchten mit ihren bloßen Händen das Wasser aus dem Boot zu schaufeln. Wir wussten sofort, dass es sich um eine ernste Notfallsituation handelte und funkten ein Notruf an alle Behörden und Akteure in der Nähe. Die eigentlich verantwortlichen europäischen Behörden reagierten jedoch nicht und nur die Lousie Michel beantwortete unseren Notruf“, erklärte Neeske Beckmann vom Moonbird.

Während die europäischen Behörden ihrer Pflicht zur Seenotrettung nicht nachkamen und alle Notrufe ignorierten, rettete die Louise Michel Freitag früh 130 Flüchtlinge aus akuter Seenot. Ein Flüchtling konnte nur noch tot vom Schlauchboot geborgen werden, drei weitere waren bereits zuvor ertrunken. Viele der Geretteten weisen starke Verätzungen durch die Mischung von Benzin und Salzwasser im Boot auf, erklärte die für die Operation der Louise Michel verantwortliche Lea Reisner.

Da die Louise Michel keine 219 Flüchtlinge an Bord aufnehmen konnte, befestigte die Crew eine Rettungsinsel am Rumpf, wodurch das Schiff jedoch manövrierunfähig wurde und selbst Hilfe benötigte. Stundenlang wurde der Notruf der Louise Michel von den Rettungsleitstellen in Italien, auf Malta oder in Bremen ignoriert. Erst am Samstag kam ein italienisches Küstenwachtschiff der nahe der italienischen Insel Lampedusa hilflos treibenden Louise Michel zu Hilfe und übernahm 49 Flüchtlinge, die dringend auf medizinische Hilfe angewiesen sind. Später übernahm dann die Seawatch 4 weitere 150 Flüchtlinge und wartet nun darauf mit 350 Flüchtlingen an Bord einen sicheren Hafen anlaufen zu können.

Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) forderten die Europäische Union auf, sofort einen sicheren Hafen für die insgesamt mehr als 400 Flüchtlinge auf hoher See zur Verfügung zu stellen. In einer gemeinsamen Erklärung betonten die beiden Organisationen, dass „es eine humanitäre Pflicht sei, Menschenleben zu retten“. Das Fehlen einer EU-weiten Kooperation, Flüchtlinge aufzunehmen, sei „keine Entschuldigung dafür, gefährdeten Menschen einen sicheren Hafen und die benötigte Hilfe zu verweigern, wie es das Völkerrecht vorschreibt“, heißt es in der Erklärung weiter.

Doch die Behörden auf Malta und Italien verweigern sich und blockieren die Anlandung der Flüchtlinge. In Italien setzt die Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte auch ohne die rechtsextreme Lega und ihren früheren Innenminister Matteo Salvini die rassistische und flüchtlingsfeindliche Politik fort. Im Juli erklärte die neue parteilose Innenministerin Luciana Lamorgese, Italien werde durch die unkontrollierte Einwanderung in Zeiten von Corona vor ernsthafte gesundheitliche Probleme gestellt, und beorderte Militäreinheiten nach Sizilien.

Damit schürt sie Rassismus im Stile Salvinis und versucht, Flüchtlinge für den Wiederanstieg der Fallzahlen verantwortlich zu machen, für den in Wirklichkeit die italienische Regierung verantwortlich ist. Obwohl in Italien bereits im Frühjahr Zehntausende unter fürchterlichen Umständen an Covid-19 starben, treibt auch die Conte-Regierung die Lockerungspolitik voran und gefährdet damit die Gesundheit und das Leben von Millionen. Die Flüchtlinge werden zu Sündenböcken erklärt, um die Schulöffnungen und die Aufrechterhaltung der Produktion in den Fabriken durchzusetzen.

Tatsächlich ist klar, dass von den Flüchtlingen, die die Überfahrt von Tunesien oder Libyen nach Italien schaffen, keinerlei Infektionsgefahr ausgehen müsste. Doch statt sie systematisch zu testen und sicher und menschenwürdig unterzubringen, werden sie wochenlang auf Quarantäneschiffen oder in völlig überfüllten Flüchtlingslagern festgehalten. Der Präsident der italienischen Region Sizilien hatte erst vor einer Woche angeordnet, dass alle Aufnahmezentren der Insel geschlossen und sämtliche Flüchtlinge abgeschoben werden sollen. Regionalpräsident Nello Musumeci begründete diesen barbarischen Plan ebenfalls mit der Sorge vor steigenden Covid-19-Infektionen.

In seiner Anordnung verfügte der von rechten und rechtsextremen Kräften ins Amt gehievte Musumeci weiter, dass kein Flüchtling die Insel mehr betreten, durchreisen oder dort Station machen dürfe. Betroffen von der Anordnung sind auch die zivilen Seenotrettungsschiffe der Hilfsorganisationen, darunter jetzt die Seawatch 4 und die Louise Michel.

In Italien sind seit Anfang des Jahres knapp 19.000 Flüchtlinge aus Nordafrika angelandet, wobei vor allem der Anteil der aus ihrem Land fliehenden Tunesier sprunghaft angestiegen ist. Nach offiziellen Zahlen sind dabei 359 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Die tatsächliche Opferzahl dürfte dabei weit höher liegen. Da sich die Europäische Union aus der Seenotrettung zurückgezogen hat und zugleich die zivile Seenotrettung weitgehend blockiert worden ist – immer wieder werden Rettungsschiffe unter fadenscheinigen Gründen festgesetzt – bleiben viele Bootsunglücke im zentralen Mittelmeer unbemerkt.

Das legen auch Berichte der Organisation Alarm Phone nahe, die Hilferufe registriert und an die Seenotrettungsstellen weiterleiten. Zwischen dem 16. und dem 23. August gingen in einer einzigen Woche bei Alarm Phone vier Hilferufe von Flüchtlingen ein. Die Organisation geht davon aus, dass bei diesen vier Unglücken mindestens 100 Flüchtlinge ertrunken sind. Weitere 160 Flüchtlinge werden vermisst.

Das ist eine unvollständige Liste der jüngsten Tragödien.

  • Am 18. August platzt bei einem Schlauchboot mit mindestens 95 Insassen in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste der Schlauch. Die Seenotleistelle in Rom will aber nicht einschreiten, da angeblich die libysche Küstenwache zuständig sei. Die wiederum verweist auf technische Probleme und kann kein Boot zur Verfügung stellen. Stunden später kreist ein Aufklärungsflugzeug der EU über der Unglücksstelle, unternimmt aber nichts. Erst am nächsten Tag nimmt ein libysches Fischerboot 65 Überlebende auf und bringt sie zurück nach Libyen.
  • Am 16. August wird ein Schlauchboot mit 82 Flüchtlingen an Bord vor der libyschen Küste beschossen und fängt Feuer. 45 Menschen sterben, die Überlebenden werden nach Libyen gebracht und in Lager interniert, obwohl sie dringend medizinische Hilfe benötigen.
  • Am gleichen Tag kentert ein weiteres Boot vor der libyschen Küste. Von den 40 Flüchtlingen an Bord überlebt nur einer.
  • Am 18. August gerät vor der tunesischen Küste ein Flüchtlingsboot in Seenot. Von den 18 Insassen sterben drei.

Die Gleichgültigkeit der Europäischen Union gegenüber dem tausendfachen Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer – alleine seit 2014 sind offiziell mehr als 14.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken – ist ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht und ein humanitäres Verbrechen. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft wird die mörderische Politik der Flüchtlingsabwehr weiter verschärft. Geplant sind die Internierung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen und die Durchführung von Asylschnellverfahren und damit massenhaften Deportationen.

Das im Kern rassistische und faschistische Vorgehen der europäischen Eliten trifft jedoch auf immer stärkeren Widerstand. Die Stiftung der Louise Michel durch den britischen Streetart-Künstler Banksy nach einer Konversation mit der Kapitänin und Seenotretterin Pia Klemp ist nur ein Ausdruck dieser Entwicklung.

Die Louise Michel ziert eine Abwandlung von Banksys berühmten Graffiti „Mädchen mit Ballon“ in Form eines Flüchtlingskindes, das auf einen herzförmigen Rettungsring zeigt. In einem auf Instagram veröffentlichtem Video begründet Banksy die Stiftung des Schiffes, das nach einer französischen Autorin und Anarchistin benannt ist, die im 19. Jahrhundert die Pariser Commune verteidigte, mit den Worten: „Wie die meisten Menschen, die es zu etwas in der Kunstwelt gebracht haben, habe ich eine Yacht gekauft, um auf dem Mittelmeer herumzukreuzen. Es ist ein Schiff der französischen Marine, das wir in ein Rettungsboot umgebaut haben, weil die EU-Behörden Notrufe von ‚Nicht-Europäern‘ absichtlich ignorieren.“

Eine Petition auf Change.org mit dem Titel „Straffreiheit für Seenotrettung“, die nach der Verfolgung von Klemp durch ein italienische Gericht im vergangenen Jahr initiiert worden war, hat mittlerweile über 460.000 Unterschriften erhalten.

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