Es ist dringend notwendig, die Arbeiterklasse in ganz Europa und international in einem Generalstreik zu mobilisieren, um das Wiederaufleben der Corona-Pandemie zu stoppen. Nach der verfrühten Aufhebung der Lockdowns, die in diesem Frühjahr verhängt wurden, haben die europäischen Regierungen durch die vollständige Wiedereröffnung von Schulen, Arbeitsstellen und öffentlichen Veranstaltungsorten den Weg für ein verheerendes Wiederaufflammen des Virus geebnet.
Erste Proteste dagegen sind bereits ausgebrochen. In ganz Griechenland haben Schüler ihre Schulen besetzt und Ärzte, Hafenarbeiter und die Beschäftigten der Fluglinien haben gestreikt. Auch in Madrid fanden Massenproteste statt. Es liegt jedoch in der Natur des Virus, das Grenzen überschreitet und keinen Reisepass benötigt, dass man weder im lokalen noch im nationalen Rahmen ein Kampf dagegen führen kann. Nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Europa im Rahmen eines internationalen Generalstreiks kann die von der Europäischen Union (EU) eingeleitete Wiederöffnung der Schulen und der Arbeitsstellen gestoppt, Lockdowns zur Kontaktreduzierung verhängt und ein schrecklicher Verlust an Menschenleben verhindert werden.
Das Wiederaufflammen der Pandemie, das sich bereits im Juli angekündigt hat, ist nun in vollem Gange. In Spanien, Frankreich und Großbritannien werden täglich etwa 10.000 Fälle von Covid-19 diagnostiziert. Diese Zahlen übertreffen die Werte, die auf dem Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr registriert wurden. Dies ist auch in der Tschechischen Republik der Fall. In der Türkei, wo die Infektionen sprunghaft ansteigen, hat die Zahl der Todesfälle pro Tag zum ersten Mal seit Anfang Mai den Wert von 70 überschritten. In allen größeren europäischen Ländern nimmt die Zahl der Fälle rasch zu.
Die Vertreter der Regierungen sind sich sehr wohl darüber bewusst, dass die Ausbreitung des Coronavirus in diesem Maßstab einen massiven Verlust an Menschenleben bedeutet. Am Montag erklärten britische Regierungsvertreter, dass sich das Ausmaß der Pandemie jede Woche verdoppelt, wobei die Zahl der Neuinfektionen in Großbritannien bis Mitte Oktober täglich 50.000 erreichen werde. Nachdem diese 50.000 Menschen die Inkubationszeit durchlaufen hätten, würden Wochen später jeden Tag Hunderte oder Tausende sterben.
Ein solches Szenario, bei dem Millionen Menschen infiziert würden und in jedem größeren europäischen Land monatlich viele Tausende sterben würden, ist eine unmittelbare Gefahr. Schon jetzt sind in Europa über 218.000 Menschen durch Covid-19 gestorben. Ein Bericht des deutschen Innenministeriums vom 18. März, der in diesem Sommer online veröffentlicht wurde, stellt fest, dass die meisten Wissenschaftler „die Frage ,was passiert, wenn nichts getan wird‘ mit einem Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 [beantworten würden] – für Deutschland allein.“
Dennoch haben die europäischen Staaten den Aufruf zum Handeln der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 17. September beiseite gewischt, während in der vergangenen Woche in Europa 300.000 neue Fälle diagnostiziert wurden. Stattdessen folgen sie dem französischen Präsidenten und ehemaligen Banker Emmanuel Macron, der erklärte, Frankreich müsse „lernen, mit dem Virus zu leben“. Begrenzte lokale Maßnahmen zur „Einschränkung“, die in Madrid und Nordengland eingeführt wurden, sehen nicht vor, dass die Arbeit in der nicht lebensnotwendigen Industrie oder der Präsenzunterricht in Schulen gestoppt wird. Diese Maßnahmen, die den Zutritt von Arbeitern zu Parks und Bars am späten Abend einschränken, werden weder zu einer sozialen Distanzierung noch zu einer deutlichen Verlangsamung des Infektionsgeschehens führen.
Im Gegenteil ergreifen Regierungen in ganz Europa Maßnahmen, um Eltern, die sich weigern, ihre Kinder zur Schule zu schicken, strafrechtlich zu verfolgen, und begrenzen die Tage, an denen Arbeiter zu Hause Schutz suchen oder ihre Kinder betreuen dürfen, auf deren reguläre Urlaubstage.
Der Kampf, mit dem Arbeiter angesichts von Covid-19 konfrontiert sind, ist ein internationaler politischer Kampf gegen das kapitalistische System und eine von der Finanzaristokratie bewusst verfolgte Politik des Massensterbens. Europäische Regierungsvertreter haben eine Politik zur Ausbreitung von Covid-19 gefordert. Im März erklärte einer der führenden wissenschaftlichen Berater der britischen Regierung Sir Patrick Vallance: „Es ist nicht möglich, jeden einzelnen daran zu hindern, [das Virus] zu bekommen, und es ist auch nicht wünschenswert, denn Sie wollen ja eine gewisse Immunität in der Bevölkerung erreichen, damit wir in der Zukunft geschützt sind.“
Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der für die Durchsetzung der EU-Austeritätspolitik in Griechenland berüchtigt ist, trat unverhohlen für das Sterben ein. Im April forderte er eine Rückkehr an die Arbeitsplätze und prangerte die „fürchterliche[n] Folgen“ der Lockdowns an. „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt“, so Schäuble weiter, „dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
Auf die Frage, warum seine Regierung nicht rascher gegen Covid-19 vorgegangen sei, sagte er: „[D]ie wirkliche Antwort ist: Wir haben doch alle miteinander gehofft, dass es schon nicht so schlimm kommen wird.“ Doch das war eine Lüge. Einen Monat zuvor hatte das Innenministerium in einem Bericht geschrieben, dass Untätigkeit allein in Deutschland über eine Million Tote zur Folge hätte.
Die Covid-19-Pandemie ist ein auslösendes Ereignis, das die politischen Probleme, mit denen die internationale Arbeiterklasse konfrontiert ist, in aller Deutlichkeit offenbart. Die EU, die 1992 nach der Wiedereinführung des Kapitalismus in Osteuropa und der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie gegründet wurde, ist eine brutale Diktatur der Banken. Aufgebaut mit dem Ziel, den globalen Einfluss der imperialistischen Mächte Europas mit einer aggressiven Handels- und Militärpolitik zu verfestigen, verfolgte sie eine rücksichtslose Politik gegen die Arbeiterklasse, indem sie im ehemaligen Ostblock die Marktbeziehungen durchgesetzt und gleichzeitig den Lebensstandard der Arbeiter im Westen unerbittlich geschliffen hat.
Die Unterstützung der EU-Regierungsvertreter für die massenhafte Ausbreitung einer Pandemie, die besonders für ältere Menschen tödlich ist, kann nicht getrennt von ihren jahrzehntelangen Rentenkürzungen betrachtet werden. In einem Bericht des Beratungsunternehmens XPS Pensions Group in London vom Juli hieß es, dass Finanzunternehmen, die Rentensysteme betreiben, „begierig auf Informationen darüber warten, wie sich Covid-19 auf ihr System auswirken wird“. Der XPS-Bericht kam zu dem Schluss, dass Covid-19 „die Verbindlichkeiten aus Rentensystemen um bis zu 90 Milliarden Pfund reduzieren könnte“.
Bankiers und Vertreter der Finanzministerien in ganz Europa führen zweifellos Berechnungen durch, wie dieses Geschenk des Himmels, als das sie Covid-19 finanziell betrachten, die Rentner töten und damit die Rentenausgaben drastisch verringen wird. Laut wissenschaftlichen Schätzungen wäre es für eine „Herdenimmunität“ erforderlich, dass sich 60-70 Prozent der Bevölkerung anstecken und gegen Covid-19 immun werden. In einer wissenschaftlichen Studie mit dem Titel „Assessing the potential impact of Covid-19 on life expectancy“ („Bewertung der potenziellen Auswirkungen von Covid-19 auf die Lebenserwartung“) wurde berechnet, dass die Lebenserwartung massiv sinken würde, wenn sich 70 Prozent der Europäer mit Covid-19 infizieren würden – wahrscheinlich um etwa 6,5 Jahre, möglicherweise jedoch bis zu 10,9 Jahre.
Ein solcher Rückgang der Lebenserwartung in ganz Europa würde es den Banken ermöglichen, jedes Jahr Hunderte Milliarden Euro umzuleiten, um die laufenden Rettungsaktionen für Unternehmen in Billionenhöhe und die Erhöhung der Militärausgaben zu finanzieren, um die Entwicklung einer von Washington unabhängigen Außenpolitik durch die EU zu unterstützen. Diese Motive werden in der Presse diskutiert. Mit Blick auf „geopolitische Interessen“, die mit der Back-to-work-Politik im April verbunden sind, schrieb Der Spiegel, die Konzernchefs wollten „den europäischen Markt stärken, um einen Gegenpol zu den Wirtschaftsmächten USA und China zu bilden“.
Damit verbunden ist ein erneuter Angriff auf den Lebensstandard und die sozialen Grundrechte der europäischen Arbeiterklasse. Millionen haben ihren Arbeitsplatz verloren, die Arbeitslosenunterstützung für Dutzende Millionen von arbeitslosen oder unterbeschäftigten Arbeitern in ganz Europa wird gekürzt. Unterdessen schätzen Wirtschaftswissenschaftler, dass die Banken im Verlauf der kapitalistischen Krise infolge der Pandemie bis zu 59 Millionen Arbeitsplätze in der EU vernichten könnten.
Weltweit erreicht die soziale Ungleichheit ein Niveau, das mit demokratischen Herrschaftsformen unvereinbar ist. In den Vereinigten Staaten erklärt die Trump-Regierung, dass sie nach den Präsidentschaftswahlen nicht zurücktreten werde, wodurch sie die Wahl faktisch in einen Putsch verwandelt. Die europäische Bourgeoisie ist letztlich nicht weniger faschistoid als Trump. Während sie den Finanzmärkten und Superreichen Billionen von Euro aus den öffentlichen Kassen übergibt, bereitet sie ein Ausmaß an Masseninfektionen und Arbeitslosigkeit vor, das im Hinblick auf den Versuch, es den Arbeitern aufzuzwingen, letztlich ein autoritäres Regime erfordern würde.
Die Arbeiterklasse kann die kriminelle Politik der herrschenden Eliten stoppen. Es war eine Welle spontaner Streiks in wichtigen Auto-, Produktions- und Lebensmittelfabriken in Italien und ganz Europa, die in diesem Frühjahr die ersten Schließungen durchsetzte.
Dieser Kampf kann jedoch nur auf internationaler Ebene geführt werden, als bewusster politischer Kampf, unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie und den mit ihnen verbündeten „linkspopulistischen“ Parteien. Die aufkommenden Proteste von Jugendlichen und Arbeitern setzen die Notwendigkeit, unabhängige Aktionskomitees für Sicherheit zu organisieren und einen rationalen, wissenschaftlichen Kampf gegen Covid-19 zu erzwingen, auf die Tagesordnung. Über diese Politik kann jedoch nicht mit den EU-Regierungen verhandelt, sondern nur über einen Kampf für die Organisierung von Generalstreiks geführt werden, die sich zum Ziel setzen, diese Regierungen zu stürzen und die Macht an die Arbeiterklasse zu übertragen.
Die Gewerkschaftsbürokratien und ihre politischen Verbündeten machen sich voll und ganz mitschuldig an der Back-to-School- und Back-to-Work-Politik, bei deren Durchsetzung sie mithelfen, während sie gleichzeitig einige begrenzte, taktische Kritikpunkte vorbringen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die wichtigsten Gewerkschaftsverbände Frankreichs unterzeichneten ausdrücklich eine Unterstützungserklärung für das jüngste EU-Rettungspaket für Banken und Großkonzerne in Höhe von 750 Milliarden Euro, das von Berlin und Paris vereinbart wurde. Die spanischen Gewerkschaften haben keinerlei Widerstand gegen die EU-Politik der „Herdenimmunität“ mobilisiert, die ihr Verbündeter, die „linkspopulistische“ Podemos-Partei, in der Regierung mit durchsetzt.
Man darf sich keiner Illusion hingeben: Die Unterstützung der Gewerkschaften und „linkspopulistischen“ Parteien für die EU-Politik ist kein Zeichen dafür, dass die „Herdenimmunität“ ungefährlich ist, sondern dass sie selbst bestochene kleinbürgerliche Werkzeuge der Banken sind. Sie erwarten, dass sie an den Milliardensummen der Rettungspakete, die durch die Chefetagen der Konzerne und die Betriebsratsbüros laufen, beteiligt werden.
Die Ereignisse haben die Warnungen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) bestätigt. Schon Wochen vor der Einführung der Lockdowns in Europa forderte das IKVI eine global koordinierte Notfallreaktion auf die Pandemie und legte die reaktionären Pläne der Regierungen in Berlin, London, Paris, in ganz Europa und weltweit offen. Beim Aufbau unabhängiger Aktionskomitees für Sicherheit am Arbeitsplatz hat das IKVI mit wichtigen Teilen der Lehrerschaft, der Arbeiter im Transportwesen und in der Autoindustrie zusammengearbeitet.
Die europäischen Sektionen des IKVI und dessen sympathisierende Gruppe in der Türkei erneuern ihre Aufrufe zu einem Generalstreik gegen die mörderische Politik der Rückkehr an die Arbeitsplätze und in die Schule. Die Arbeiterklasse in Europa mobilisiert und radikalisiert sich in wachsendem Maße. Sie ist nun mit der Aufgabe konfrontiert, die von der herrschenden Klasse in Jahren obszöner Rettungsaktionen gestohlenen Ressourcen zu beschlagnahmen, die EU-Regierungen und das kapitalistische System zu stürzen und die reaktionäre EU durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu ersetzen.