In ganz Ägypten haben sich Arbeiter trotz eines Demonstrationsverbots an Protestveranstaltungen gegen die Regierung beteiligt.
Sie protestierten gegen staatliche Korruption und den Anstieg der Preise für Nahrungsmittel und Grundgüter sowie gegen den Abriss von Häusern, die ohne staatliche Genehmigung oder auf Ackerland gebaut wurden.
Die Kundgebungen dauern seit dem 20. September an, dem Jahrestag der Proteste, bei denen im letzten Jahr 3.000 Menschen von den Sicherheitskräften verhaftet wurden. Ihre zentrale Forderung ist der Rücktritt des brutalen ägyptischen Diktators Präsident Abdel Fattah al-Sisi, der im Jahr 2013 den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi gestürzt hatte.
Der Aufruf zu den Protesten stammt von dem Bauunternehmer Mohamed Ali, der in Spanien lebt. Er hat im Internet Videos veröffentlicht mit Beweisen über die Korruption führender Politiker, darunter auch al-Sisi. Damit hat er sich den Zorn der ägyptischen Behörden zugezogen, die jetzt seine Auslieferung wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche fordern.
Die Polizei hatte vor dem 20. September umfassende Vorbereitungen getroffen, um die Demonstrationen zu verhindern. In der Kairoer Innenstadt patrouillierten Streifenwagen, vor allem rund um den Tahrir-Platz. Dieser war im Jahr 2011 der Schauplatz von Massendemonstrationen, die zum Rücktritt des lange Zeit von den USA unterstützten Diktators Hosni Mubarak geführt hatten.
Wichtige Gebäude wurden von Polizisten gesichert, die Sicherheitskräfte hielten Fußgänger an, durchsuchten sie und ließen sich Ausweise zeigen. Laut Al-Arabi al-Jadeed wurden im Vorfeld der Demonstrationen mehr als 1.000 junge Männer und Frauen vor den U-Bahnstationen und in den Straßen rund um den Tahrir-Platz verhaftet.
Al-Sisi hat im Auftrag des Internationalen Währungsfonds (IWF) ein „Reformprogramm“ durchgesetzt, in dessen Rahmen Subventionen gekürzt, die Treibstoffpreise erhöht, die Mittel für das Gesundheits- und Bildungswesen gekürzt und Beamtenstellen abgebaut wurden. Durch diese Maßnahmen verringerte sich das Haushaltsdefizit zwar von 12,5 Prozent im Jahr 2016 auf 6,7 Prozent im Jahr 2019, allerdings ruinierten sie einen Großteil der Mittelschicht Ägyptens und führten zu stark steigender Armut.
Letzten Monat begann die Regierung mit dem Abriss von Häusern, die ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Hiervon sind möglicherweise eine große Zahl von Menschen betroffen, vor allem im Ballungsraum Kairo mit 20 Millionen Menschen, in dem dringend bezahlbarer Wohnraum benötigt wird. Da sich der Abriss und die Zwangsräumung der Bewohner durch hohe Geldstrafen abwenden lassen, kam der Verdacht auf, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, Geld aus der Bevölkerung zu pressen. Die Wut war so groß, dass die Regierung vor drei Wochen die Geldstrafen für Verstöße gegen die Genehmigungsvorschriften für Vermieter und Firmen senken musste.
Die Wohnungsnot wurde noch weiter verschärft durch al-Sisis extravagante Bauprojekte wie die Erweiterung des Sueskanals und die neue Verwaltungshauptstadt für 58 Milliarden Dollar, von der die Baukonzerne des Militärs und die Finanzelite profitieren werden. Diese Projekte sind inmitten der Pandemie zu Investitionsruinen geworden. Der neue Regierungssitz, der 64 Kilometer außerhalb von Kairo in der Wüste gebaut wird, hat bereits mehr als 35 Milliarden Dollar gekostet und wird Luxushäuser für fünf Millionen Wohlhabende, jedoch nur 100.000 „bezahlbare“ Häuser umfassen.
Die Demonstrationen am 20. September waren klein und konzentrierten sich in Dörfern und Städten außerhalb der Hauptstadt, hauptsächlich im Nildelta. Doch innerhalb weniger Tage breiteten sie sich auf andere Landesteile aus, u.a. auf die Gouvernements Giseh, Alexandria, al-Minya, Damietta, Sues, Qalyubia, Beni Suef und Kairo, die wichtigsten Industrieregionen des Landes.
Die Mainstreammedien in Ägypten und dem Rest der Welt haben die Proteste und die repressive Reaktion der Regierung bisher weitgehend ignoriert. Doch in sozialen Medien und oppositionellen Fernsehsendern erschienen Videos, auf denen zu sehen ist, wie die Sicherheitskräfte Demonstranten mit Tränengas und Gummigeschossen auseinandertreiben.
Am Freitag wurde mindestens ein Demonstrant von ägyptischen Sicherheitskräften getötet. Das Genfer Komitee für Gerechtigkeit erklärte, in dem Dorf Balayda im Gouvernement Giseh, einem Teil des riesigen Ballungsraums von Kairo, sei ein 25-jähriger Demonstrant von Bereitschaftspolizisten getötet wurden. Laut anderen Berichten wurden noch drei weitere Menschen getötet, darunter ein Kind.
Seit Beginn der regierungsfeindlichen Kundgebungen vor mehr als einer Woche wurden Hunderte Teilnehmer verhaftet. Laut den Menschenrechtsanwälten, die sie vertreten, lauten die Anklagen gegen die Verhafteten u.a. „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, „Verbreitung von Falschmeldungen“, „Missbrauch sozialer Netzwerke“ und illegale Proteste.
Die Proteste finden vor dem Hintergrund der Pandemie statt, welche die bereits jetzt schrecklichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verschärft hat, unter denen ein Großteil der 102 Millionen Einwohner Ägyptens leben. In Ägypten gibt es fast 103.000 Infektionen mit dem Corona-Virus und fast 5.900 Todesopfer.
Die offizielle Arbeitslosenquote liegt mit 9,6 Prozent zwei Prozentpunkte höher als letztes Jahr. Im Verlauf dieses Jahres wird sie voraussichtlich auf 20 Prozent ansteigen. Besonders betroffen sind gut ausgebildete junge Menschen zwischen 24 und 34 Jahren. Der Ausfall der Einnahmen aus dem Tourismus, der Gebühren von Schiffen, die durch den Sueskanal fahren, und der Überweisungen in Höhe von 25 Milliarden Dollar pro Jahr von den fünf Millionen Ägyptern, die am Golf arbeiten, haben die Wirtschaft stark geschwächt. Die Folge waren Massenentlassungen, Lohnsenkungen und weit verbreitetes Elend.
Die Arbeitslosenquote in Ägypten wurde auch durch die Rückkehr von entlassenen Arbeitern aus den Golfstaaten erhöht. In Kuwait hat die Regierung erklärt, sie werde ausländische Arbeiter für die Dauer der Pandemie nicht zurückkehren lassen, was den Status der 700.000 Ägypter, die dort arbeiten, völlig in Frage stellt.
Auch das riesige Erdgasfeld Zohr im Mittelmeer, das ein milliardenschwerer Rettungsanker für die angeschlagene ägyptische Wirtschaft zu sein schien, wurde von der Rezession getroffen, die infolge der Pandemie ausgebrochen war.
Ägypten musste weitere Kredite beantragen, zusätzlich zu einem Kredit beim IWF in Höhe von 12 Milliarden Dollar. Seine massiven Auslandsschulden von 120 Milliarden Dollar, bzw. 90 Prozent des BIP, werden sich um weitere acht Milliarden erhöhen. Das bedeutet eine jährliche Schuldentilgungsrate von etwa 13 Milliarden Dollar; außerdem muss das Land einen Weg finden, ein Viertel der Schulden umzuschulden. Laut einer Schätzung der Arab Reform Initiative muss Ägypten die Leitzinsen erhöhen, um Inflation und Kapitalflucht zu verhindern, das ägyptische Pfund aufwerten oder frei schwanken lassen und zusätzliche Darlehen beantragen.
Ein Grund für die relativ geringe Größe der Proteste war, dass der Initiator des Aufrufs, Mohamed Ali, keine Partei und kein politisches Programm hat. Allerdings sind sie von entscheidender Bedeutung wegen der Desillusionierung, die auf die revolutionäre Bewegung folgte, die Mubaraks Diktatur im Jahr 2011 gestürzt hatte. Sie wurde durch ein noch brutaleres Regime ersetzt. Dass die Proteste stattfinden, aller Unterdrückung von al-Sisis Kräften zum Trotz, das verdeutlicht die Tatsache, dass sein Regime auf einem sozialen und wirtschaftlichen Pulverfass sitzt. In Kommentaren ist bereits von einer möglichen Intervention des Militärs die Rede, um al-Sisis Rücktritt zu organisieren und eine andere Figur aus dem Militär als Retter des Regimes an die Macht zu bringen.
Die neue Protestbewegung der mächtigen ägyptischen Arbeiterklasse muss vor allem die Ursache ihrer Niederlage von 2011 bis 2013 verstehen. Die wichtigste Aufgabe in dieser revolutionären Erhebung wäre es gewesen, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen bürgerlichen Kräften zu sichern, die Mubaraks Nachfolge antreten wollten. Dazu zählten Offiziere, bürgerliche „liberale“ Parteien und die Muslimbruderschaft.
Ein Beispiel für das kleinbürgerlich-pseudolinke Milieu in Ägypten, das die wohlhabenden Teile des Kleinbürgertums repräsentiert, ist die Rolle, welche die Revolutionären Sozialisten damals spielten. Der Name ist irreführend. Diese Organisation behauptete anfangs, die Militärjunta, die auf Mubarak folgte, würde Reformen durchführen. Danach versuchte sie, den anhaltenden Widerstand der Arbeiterklasse vor den Karren der Muslimbruderschaft zu spannen, und behauptete, ihr Wahlsieg im Jahr 2012 sei ein „Sieg für die Revolution“. Als im Jahr 2013 der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Regierung Mursis und der Muslimbrüder anwuchs, stellten die RS die neu gegründete Kampagne Tamarud („Rebellion“) als „Weg zur Vollendung der Revolution“ dar. Diese Kampagne war jedoch vom Militär- und Geheimdienstapparat finanziert und gefördert. Dies ermöglichte es dem Militär, Mursi im Juli 2013 zu stürzen. Al-Sisis Putsch, der eine Terrorherrschaft einleitete, wurde von den RS als „zweite Revolution“ begrüßt.
In den letzten Monaten sind im ganzen Nahen Osten revolutionäre Kämpfe ausgebrochen. Im Irak, im Libanon, dem Iran und dem Sudan sowie in den USA und Europa gab es Streiks und Proteste. Die grundlegende Aufgabe ist jedoch weiterhin der Aufbau einer revolutionären Partei, die die Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus und den imperialistischen Krieg und für den Sozialismus mobilisiert. Solche Parteien müssen als Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Ägypten und dem gesamten Nahen Osten aufgebaut werden.
Siehe auch:
Proteste in Ägypten erschüttern al-Sisis blutige Militärdiktatur
[23. September 2019]