Ein Jahr nach dem Terror in Halle: faschistische Netzwerke im Staatsapparat breiten sich aus

Gestern jährte sich der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle, der beinahe zum schlimmsten Massenmord an Juden in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführt hätte. Am 9. Oktober 2019 hatte der Neonazi Stephan Balliet am jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, in die Synagoge in Halle einzudringen. Dabei erschoss er zwei Menschen. Nur die massive und fest verankerte Holztür verhinderte ein Massaker.

All die Beileidsbekundungen und Krokodilstränen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der gestrigen Trauerfeier in Halle können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verantwortung für den rechten Terror bei der herrschenden Klasse liegt. Sie hat in den letzten Jahren systematisch das ideologische Klima und die politischen Voraussetzungen für rechtsextreme Bluttaten wie die in Halle oder Hanau geschaffen.

Vertreter aller Bundestagsparteien hofieren die AfD und setzen die rassistische Flüchtlingspolitik der faschistischen Partei in die Tat um. Politik und Medien verharmlosen fremdenfeindliche Demonstranten als „besorgte Bürger“ und verteidigen rechtsradikale Akademiker wie den Humboldt-Professor Jörg Baberowski („Hitler war nicht grausam“). Rechtsextreme Netzwerke in Polizei, Bundeswehr und den Geheimdiensten werden vom bürgerlichen Staat und seinen Parteien gezielt gefördert und gedeckt und breiten sich immer weiter aus.

In den letzten Tagen wurden erneut zahlreiche Fälle von Rechtradikalismus innerhalb deutscher Sicherheitsbehörden bekannt. Das ARD-Magazin Monitor berichtete über eine rechte Chatgruppe in der Berliner Polizei, und das erst vor drei Wochen aufgedeckte rechtsextreme Netzwerk in der nordrhein-westfälischen Polizei erstreckt sich nach jüngsten Recherchen der Rheinischen Post offenbar bis in den Verfassungsschutz des bevölkerungsreichsten Bundeslandes.

Erst Mitte September war in NRW ein umfassendes rechtsradikales Netzwerk in der Mülheimer Polizei mit Verbindungen in alle drei Landesoberbehörden der Polizei NRW aufgeflogen. Jetzt sind fünf weitere Fälle ans Licht gekommen. Zum einen wurden Arbeitsplatz und Wohnung eines Beamten aus Bielefeld durchsucht. Laut einem Bericht auf tagesschau.de hatte der Kommissar „rechtsextremistische Propaganda“ in einer privaten Chatgruppe, die 50 Polizisten umfasst, geteilt. Zum anderen wurde bekannt, dass drei Mitarbeiter des Observationsteams des Landesverfassungsschutzes und ein Verwaltungssachbearbeiter in der Polizeiabteilung im Landesinnenministerium unter Rechtsextremismusverdacht stehen.

Sie teilten „islam- oder fremdenfeindliche“ Videos in Chats und sozialen Netzwerken, teilte der Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) auf einer Pressekonferenz mit. Gegenüber der RP erklärte er, „in den Videos werden Muslime pauschal als Bedrohung festgestellt“. Dabei relativierte Reul selbst die rassistische Gesinnung seiner Mitarbeiter, indem er erklärte, die Inhalte der Chats seien zwar nicht akzeptabel, aber weit weniger gravierend als die Inhalte aus Mülheim.

Reuls Mitarbeiter pflegten Facebook-Kontakte in die rechtsextremistische Szene. Die drei Mitarbeiter des Observationsteams waren unter anderem für die Beobachtung von Rechtsextremisten zuständig. Mit anderen Worten: die Nazis überwachen sich selbst. Reul fügte fadenscheinig hinzu, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass Dienstgeheimnisse verraten worden seien oder die Observationen nicht einwandfrei abgelaufen wären.

Der NRW-Innenminister wusste nach eigenen Angaben seit fast einem Jahr von den jetzt öffentlich bekannt gewordenen Fällen. Reul hatte vor einer Woche im Innenausschuss des Landtags berichtet, dass seit 2017 insgesamt hundert Mitarbeiter der Polizei NRW des Rassismus und Rechtsextremismus verdächtigt wurden. 29 Fälle seien abgeschlossen, wobei es nur bei acht zu Konsequenzen für die Beamten gekommen sei, da sich bei den restlichen 21 „der Verdacht nicht bestätigt“ habe – „oder es sei aus anderen Gründen nicht möglich gewesen, eine Maßnahme zu verhängen“, berichtete der Spiegel.

„Das betroffene Team im Verfassungsschutz wurde aufgelöst, das Führungspersonal ausgewechselt“, teilte das Innenministerium NRW mit. Einer der Beamten wurde bereits im Schnellverfahren mit einer Disziplinarmaßnahme belegt, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf die von oben aufgebauten und unter besonderem Schutz stehenden rechtsextremen Strukturen im Staatsapparat zu lenken. Das Innenministerium versucht hier gezielt, durch Desinformation und Ablenkung das Ausmaß der rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden zu verschleiern.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat am 6. Oktober den Lagebericht über Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vorgestellt, der die rechtsextremen Netzwerke im Staatsapparat verharmlost und Antisemiten und Rassisten einen Freibrief ausstellt.

Nachdem immer neue Gruppen in Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeflogen sind, die neonazistische und antisemitische Chats austauschen, linke Anwälte und Aktivisten bedrohen, Waffen horten und sich auf einen Staatsstreich am „Tag X“ vorbereiten, musste Seehofer zugeben, dass es zwischen 2017 und April 2020 weit über 400 Rechtsextremismus-Verdachtsfälle bei den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern gab. Er behauptete aber, dass es „keinen strukturellen Rechtsextremismus“ in Sicherheitsbehörden gebe.

In Wirklichkeit sind Seehofers Zahlen maßlos untertrieben. Erstens sind darin die Verdachtsfälle in der Bundeswehr nicht enthalten, deren offizielle Zahl im selben Zeitraum bei 1064 lag. Zweitens beruhen die Zahlen auf Angaben, die die von rechtsextremen Netzwerken durchsetzten Sicherheitsbehörden selbst gemacht haben; es gab keine unabhängige Untersuchung. Drittens ist der massive Anstieg der Fälle seit März nicht berücksichtigt; allein in NRW ist die Zahl der Verdachtsfälle seither von 45 auf 104 gestiegen. Viertens liegt die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher, da in Polizei und Bundeswehr ein Korpsgeist herrscht, der jede Weitergabe von Informationen als „Verrat“ brandmarkt.

Über die genauen Inhalte der Videos und Chats und mögliche Verbindungen der vier aktuellen Fälle zu dem Mitte September aufgedeckten rechtsradikalen Netzwerk in der Polizei NRW hüllt sich das Innenministerium NRW bewusst in Schweigen. Offensichtlich sollen die faschistischen Inhalte und die umfassenden Terrorstrukturen vertuscht werden.

Die durch das ARD-Magazin Monitor bekannt gewordene Kommunikation der rechtsextremen Chatgruppe innerhalb der Berliner Polizei wirft eine Schlaglicht auf die Faschisierung der deutschen Polizei.

Rassismus, Hass gegen Linke und Gewaltfantasien wurden in der Chatgruppe der Beamten völlig normal neben Verabredungen zum Frühstück oder zum Sport ausgetauscht. Seit über drei Jahren existiert diese aus über 25 Polizisten bestehende Chatgruppe bereits. Auch wenn angeblich nur sieben Polizisten für das Posten der rechtsextremen Inhalte verantwortlich sein sollen, bekamen sie vom Rest der Kollegen regen Zuspruch für ihre faschistische Hetze.

Laut den zwei Informanten, die dem Magazin Monitor Einblick in denChatverlauf gaben, fallen im Rahmen des Dienstes an der Waffe in der Berliner Polizei regelmäßig Begriffe wie „Neger, Mohr, Kanake, Ölauge, Schwuchtel, Transe“.

Als Beispiel wird eine Gruppenführerin genannt, die mit den Worten, „Wir halten jetzt da vorne mal das Ölauge an“, ganz selbstverständlich eine rassistische Personenkontrolle angeordnet hat. Der Leiter einer Berliner Dienststelle wird mit den Worten zitiert: „Hier bei uns putzen ja mittlerweile auch Kopftuch-Terroristen.“ Vorgesetzte wussten von der Chatgruppe, dessen Verlauf nun in Auszügen durch das ARD-Magazin veröffentlicht wurde, und haben nichts unternommen.

Die rechtsextremen Beamten haben Nachrichten ausgetauscht, in denen Muslime als eine „fanatische Primatenkultur“ und Flüchtlinge, die „wie Heuschrecken über Europa“ kommen, als „Vergewaltiger, Mörder, Hochkriminelle und Terroristen“ sowie „Ratten“ bezeichnet werden. Sie berufen sich in ihrer rechten Hetze auf den „großen Austausch in Europa“, wonach die weiße Bevölkerung gezielt durch Migranten ersetzt werde.

Ähnliche Hetztiraden fanden sich in Balliets Manifest, das der Halle-Attentäter kurz vor seiner Mordtat veröffentlichte. Auch in den rechtsextremen Chats der Polizei wird offen zur Ermordung von Flüchtlingen und linken Demonstranten aufgerufen.

So fordern die waffentragenden Mitglieder der Chatgruppe einen faschistischen Gesinnungstest zur Aufnahme in die Reihen der Polizei. Eine der praktische Aufgaben soll lauten: „Erschießen Sie sechs illegale Einwanderer.“ Bezogen auf die polizeiliche Praxis gegenüber Migranten verlangen sie, dass „jeden Tag […] einer ins Jenseits“ befördert werden müsse, um der Polizei den nötigen Respekt zu verschaffen.

In Bezug auf die Demonstranten gegen den G-20 Gipfel in Hamburg treten sie für den „Schusswaffengebrauch“ und das „Abknallen“ ein. Weiter sehen sie in Neonazis „Verbündete“, mit denen sie gemeinsam „eine gewaltige Schlagkraft“ entwickeln könnten, um den „Rechten eine Party zu gönnen“.

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