Das Verfassungsreferendum und der Klassenkampf in Chile

Eine überwältigende Mehrheit von 78 Prozent der Chilenen stimmte am Sonntag für eine neue Verfassung als Ersatz für die Charta, die 1980 von General Augusto Pinochets verhasster Militärdiktatur mittels eines gefälschten Volksentscheids eingeführt wurde. Die Beteiligung war die höchste seit der Einführung der freiwilligen Abstimmung im Jahr 2012.

Das Referendum war das Ergebnis der Bemühungen der parlamentarischen „Linken“, des Gewerkschaftsapparats und pseudolinker Gruppen, die ein Jahr lang daran gearbeitet hatten, die explosive Entwicklung von Massenkämpfen der chilenischen Arbeiter und Jugendlichen gegen den Kapitalismus in die Kanäle einer sinnlosen Wahlkampagne zu leiten. Ihr Ziel ist, angesichts der wachsenden Gefahr autoritärer Herrschaft und Diktatur eine revolutionäre Situation abzuwenden.

Wähler stehen am Sonntag, dem 25. Oktober, in Santiago de Chile Schlange, um bei dem Referendum abzustimmen, ob das Land seine 40 Jahre alte Verfassung ersetzen soll. (AP Photo/Esteban Felix)

Die Entwicklungen in Chile sind Teil eines internationalen Ausbruchs von Klassenkämpfen angesichts der zunehmenden Armut und wirtschaftlichen Unsicherheit, die in der breiten Masse antikapitalistische Gesinnungen befeuern. Seit der Finanzkrise von 2008, in der die Regierungen die öffentlichen Kassen geplündert haben, um die Wirtschafts- und Finanzelite zu retten, ist der Lebensstandard der Arbeiterklasse überall gesunken.

Genau wie im Rest der Welt haben der Kapitalismus und seine staatlichen Institutionen auch in Chile jede Glaubwürdigkeit verloren und sind mit einer historischen Krise ihrer Herrschaft konfrontiert. Auf diese existenzielle Bedrohung von unten reagieren sie, genau wie an anderen kritischen Punkten des 20. Jahrhunderts, indem sie die Dienste der bürokratischen Gewerkschaftsorganisationen und der opportunistischen Wirtschaftsnationalisten in Anspruch nehmen, aus denen sich die „Linke“ in Chile zusammensetzt. Sie zählen darauf, dass diese Parteien und Gewerkschaften die Kämpfe der Arbeiterklasse desorientieren, ablenken und harmlos machen. Gleichzeitig bereiten sie den staatlichen Unterdrückungsapparat für den Einsatz gegen die Massen vor.

Im Oktober 2019 verwandelte sich der studentische zivile Ungehorsam gegen eine Erhöhung der Fahrpreise fast über Nacht in eine Bewegung von Millionen von Arbeitern, Teilen des Kleinbürgertums und der Jugend. Es kam überall im Land zu Protesten, Streiks und Demonstrationen. Es entwickelte sich eine Massenbewegung gegen die jahrzehntelange extreme soziale Ungleichheit, Polizeigewalt und gegen die zutiefst verhasste politische Kaste, die während des Übergangs von der Militär- zur zivilen Herrschaft entstanden war.

Präsident Sebastian Piñera rief als Reaktion auf die Proteste den Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre aus und mobilisierte zum ersten Mal seit Jahrzehnten das Militär. Am 20. Oktober 2019 erklärte er bei einem gemeinsamen Fernsehauftritt mit General Javier Iturriaga und Ex-Verteidigungsminister Alberto Espina: „Wir befinden uns im Krieg mit einem mächtigen, gnadenlosen Feind, der nichts und niemanden respektiert und der ohne jede Hemmung zu Gewalt und Verbrechen bereit ist.“

Bis zum 12. November kam es während Piñeras „Krieg“ zu zahllosen Menschenrechtsverletzungen durch Carabineros, Spezialkräfte, die Eliteeinheit „Boinas Negras“ (schwarze Barette) und das Militär. Zwei Dutzend Menschen wurden getötet oder entführt, Hunderte durch scharfe Munition schwer oder dauerhaft verletzt, tausende Verhaftete wurden schwer verprügelt, sexuell missbraucht, vergewaltigt oder gefoltert.

Die ultrarechte Regierung hat außerdem eine Reihe von polizeistaatlichen und diktatorischen Maßnahmen eingeführt, die später vom Senat bewilligt wurden und bis heute in Kraft sind. Ein Gesetz sieht lange Haftstrafen für Sozialproteste vor. Mehr als 2.000 politische Gefangene – die meisten davon Jugendliche, die wegen ihrer Teilnahme an Protesten verhaftet wurden – befinden sich immer noch in Haft, ohne dass sie wegen eines Verbrechens verurteilt wurden. Ein weiteres Gesetz erlaubt es dem Präsidenten, „strategisch wichtige Infrastruktur“ durch das Militär schützen zu lassen und Teile der Regierung auch ohne Ausnahmezustand unter militärische Aufsicht zu stellen. Durch ein weiteres Gesetz wird der Nationale Geheimdienst umgestaltet und umfasst den Militärgeheimdienst, den Sicherheitsdienst und den Inlandsgeheimdienst. Es ermöglicht große Datensammeloperationen wie sie die lateinamerikanischen Diktaturen und der US-Imperialismus in den 1970er und -80ern während der Operation Condor durchgeführt haben.

Da diese Maßnahmen die Proteste jedoch nur weiter angefacht und radikalisiert haben und zu einem zweiten Generalstreik führten, forderte Piñera Mitte November die parlamentarische „Linke“ zu Verhandlungen über die nationale Einheit auf. Alle parlamentarischen Parteien – die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), die Radikalen, die Liberalen, die Humanisten, die Grünen, die pseudolinke Breite Front (Frente Amplio) und die stalinistische Koalition um die Kommunistische Partei – stimmten zu.

Piñera erklärte in Bezug auf das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“: „Ich musste mich zwischen zwei Wegen entscheiden: dem Pfad der Gewalt durch die Verhängung eines neuen Ausnahmezustands, oder dem Pfad der Vernunft... Wir haben uns für den Pfad der Vernunft entschieden, um dem Frieden eine neue Chance zu geben.“

Seitdem hat es sich die parlamentarische „Linke“ in Chile zur Aufgabe gemacht, die explosiven Massenkämpfe in die sicheren Kanäle der parlamentarischen Politik zu lenken, indem sie das Referendum unterstützte. Sie behauptete, das Referendum werde es der „Bevölkerung“ ermöglichen, über die Verfassung und damit den Charakter des Staates selbst zu entscheiden. Es dauerte ein Jahr und brauchte eine Pandemie, um dieses Vorhaben durchzusetzen.

Die Propagierung von nationalem Exzeptionalismus – dass Chile auf einer angeblich „demokratischen“ und „parlamentarischen“ Tradition beruht und dass seine Institutionen und sein Unterdrückungsapparat sich an „verfassungsgemäße“ Normen halten – ist der ganze Daseinszweck der chilenischen Pseudolinken. Sie hat diese Theorie in ihrer fast einhundertjährigen Existenz und in unzähligen Formen verbreitet, während sie im Kongress und der Exekutive saß und den Gewerkschaftsapparat sowie die sozialen Organisationen dominiert hat.

Diese Theorie, die am entschiedensten von der stalinistischen Kommunistischen Partei Chiles (PCCh) propagiert wurde, hat 1973 dem Militärputsch gegen die Koalitionsregierung von Salvador Allende und der brutalen Unterdrückung der chilenischen Arbeiterklasse den Weg geebnet.

Jetzt versucht die parlamentarische „Linke“, die Illusion zu schüren, der Staat sei ein unabhängiger Vermittler und könne von der Bevölkerung kontrolliert werden. Damit demonstrieren sie, dass sie die marxistische Theorie des Klassencharakters des Staates zurückweisen. Laut dieser ist der Staat ein Instrument zur Aufrechterhaltung der politischen Diktatur der Kapitalistenklasse, die bei einer Bedrohung durch eine Revolution das Parlament und die konstitutionellen Normen beiseite fegt und mit Gewalt herrscht.

Das ist, kurz gesagt, was die Stalinisten den Arbeitern und Jugendlichen während der revolutionären Periode von 1968 bis 1973 verheimlicht haben, als sie die Carabineros und das Militär als „Volk in Uniform“ bezeichneten. Das Gleiche versuchen sie heute mit ihrer Unterstützung für das Verfassungsreferendum.

Zweifellos ist Augusto Pinochets Verfassung von 1980 ein autoritäres Instrument und wird gegen die Arbeiterklasse eingesetzt. Ihr Verfasser Jaime Guzman, Gründer der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI), ließ sich von dem Nazi-Juristen Carl Schmitt und dem reaktionären spanischen Klerikalismus inspirieren.

Allerdings ignoriert die „Linke“ die Tatsache, dass die „demokratischen Reformen“ an der bestehenden Verfassung, die der ehemalige PS-Präsident Ricardo Lagos im Jahr 2005 umgesetzt hat, die arbeiterfeindlichsten Klauseln wie Artikel 9, Absatz 1, über den Terrorismus beibehalten hat. Dieser Artikel wurde benutzt, um die Interessen der Holz-, Energie- und Bergbaukonzerne in La Araucania mit einem massiven Militäraufgebot gegen die unterdrückte eingeborene Bevölkerung zu verteidigen.

Die Kommunistische Partei Chiles (PCCh) hat eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Illusionen in eine Verfassungsreform gespielt, was zu ihrer ganzen Geschichte passt. Gegründet 1922 von Luis Emilio Recabarren (1876–1924) kam sie unter den Einfluss des Rechtsrucks, der mit dem Aufstieg der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion einherging – verbunden mit dem Rückschritt in die nationalistische Theorie des „Sozialismus in einem Land“ und der Wiederbelebung der menschewistischen Zweistufentheorie der Revolution.

Nach einem politischen Konflikt mit dem Gründer Recabarren wurde eine Schicht junger PCCh-Führer in den Staat eingebunden. Sechs ihrer Mitglieder arbeiteten am Entwurf der bürgerlichen Verfassung von 1925 mit. Sie wurde zu einem Zeitpunkt verfasst, an dem sich das Land aufgrund des Zusammenbruchs seiner Salpeterexporte und dem Rückgang der Interessen des britischen Imperialismus mitten in einer schweren Wirtschaftskrise befand, explosive Kämpfe der Arbeiterklasse stattfanden und das Militär rebellierte.

Dieses konterrevolutionäre Dokument wurde von dem populistischen Regime von Arturo Alessandri durchgesetzt, um die Entwicklung einer revolutionären sozialistischen Bewegung zu verhindern. Im Gegensatz zu den revolutionären Verfassungen Frankreichs und der USA, deren Autorität auf dem souveränen Volk basieren, erklärte die Verfassung von 1925, die Souveränität „beruht im wesentlichen auf der Nation“ und „delegiert deren Ausübung an die Obrigkeit“.

Der Grund dafür liegt darin, dass Chile bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, wie viele andere halbkoloniale Länder unter der Herrschaft des Imperialismus, mächtige Bataillone der Arbeiterklasse geschaffen hatte, deren zahlreiche sozialen Probleme und Forderungen sie in Konflikt mit den Profitinteressen der Salpeter- und Kupferbergbaubarone brachten. Von 1905 bis 1925 hat das zutiefst antikommunistische, von preußischen Offizieren ausgebildete chilenische Militär Hunderte von Streiks niedergeschlagen und zwischen 5.300 und 6.800 Arbeiter niedergemetzelt.

Die Entwicklung der PCCh lag auf einer Linie mit dem scharfen Rechtsruck des sowjetischen Stalinismus, der in den 1930ern die Politik der Volksfront einführte, und sie hat sie bis heute beibehalten.

Mit der Übernahme der Volksfrontpolitik, die vorgeblich dem Kampf gegen den Faschismus diente, wies der Stalinismus das Ziel der proletarischen sozialistischen Revolution zurück, forderte ein Bündnis mit „liberalen“, „demokratischen“ und „republikanischen“ Teilen der Bourgeoisie und verteidigte offen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Dies bildete die Grundlage für den Verrat des Stalinismus an der spanischen Revolution in den 1930ern und den Verrat der chilenischen Revolution durch die PCCh in den 1970ern.

Ein Umschreiben der Verfassung wird nicht zu einem Ende der kapitalistischen Krise, des Klassenkampfs oder der Gefahr einer Diktatur in Chile führen. Die kritische Aufgabe, vor der die chilenische Arbeiterklasse und Jugend steht, ist der Aufbau einer revolutionären Führung. Sie muss eine neue Partei auf der Grundlage des Programms des revolutionären internationalen Sozialismus aufbauen. Für diese Perspektive kämpft das Internationale Komitee der Vierten Internationale. Nur diese internationale Partei, die von Leo Trotzki gegründet wurde, hat durch ihren unerbittlichen Kampf gegen den Stalinismus, die Sozialdemokratie, den pablistischen Revisionismus und alle anderen Formen von nationalistischem Antimarxismus die politische Kontinuität des Marxismus verteidigt. Arbeiter und Jugendliche müssen diese strategischen politischen und theoretischen Erfahrungen studieren und die notwendigen Schlüsse ziehen, um den revolutionären Kampf in Chile voranzubringen.

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