Die Auszählung der Stimmen bei der US-Präsidentschaftswahl war auch am Montag in einem halben Dutzend Bundesstaaten noch nicht abgeschlossen. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, den die wichtigsten Medien am Samstag zum Wahlsieger erklärt hatten, gewann dabei sowohl im Wahlmännerkollegium als auch in der Gesamtzahl der Stimmen weiter an Vorsprung vor Donald Trump. Dieser ist damit der erste US-Präsident seit 28 Jahren, der nicht für eine zweite Amtszeit gewählt wird.
Bidens Vorsprung wuchs sowohl im Bundesstaat Pennsylvania, wodurch er auch die Mehrheit im Wahlmännerkollegium gewann, als auch in Nevada und Georgia. Bis zum Montagabend führte der ehemalige Vizepräsident in Pennsylvania mit 45.222 Stimmen, in Nevada mit 36.186 und mit 10.620 in Georgia. Die ersten beiden dieser Staaten wurden Biden am Samstag zugeschrieben, in Georgia müssen noch provisorische Stimmzettel und Stimmen von Militärangehörigen ausgezählt werden; zudem findet eine Neuauszählung statt.
In Arizona führt Biden mit 17.131 Stimmen, allerdings lag er vor vier Tagen noch mit 60.000 Stimmen vor Trump. Fox News und Associated Press haben Biden zum Sieger in Arizona erklärt, doch andere Medienorganisationen halten sich noch bedeckt. In North Carolina führt Trump mit 75.118 Stimmen, allerdings müssen noch mehr als 110.000 provisorische Wahlzettel und Briefwahlstimmen ausgezählt werden. Diese Auszählung wird erst am 10. November beginnen.
Das Wahlmännerkollegium tritt am 14. Dezember zusammen, um formell den nächsten Präsidenten zu wählen. Biden liegt bisher mit 306 Wahlmännerstimmen vor Trump (232). Mit dem gleichen Abstand hatte sich Trump im Jahr 2016 gegen Hillary Clinton durchgesetzt und das damals einen „Erdrutschsieg“ genannt.
Clinton hatte innerhalb kürzester Zeit ihre Niederlage erklärt und sogar Neuauszählungen in Bundesstaaten abgelehnt, in denen Trump nur einen knappen Sieg errungen hatte – u.a. in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania. Trump hingegen bezeichnet sich weiterhin als Wahlsieger und hat Millionen Dollar gesammelt, um in vielen Bundesstaaten mit knappem Ausgang juristisch vorzugehen.
Äußerungen von Trumps Sprecher und von führenden Republikanern im Kongress waren von ätzender Schärfe, mit wilden, haltlosen Vorwürfen des Wahlbetrugs. Sie behaupteten u.a., die Demokraten hätten Stimmen von Toten gezählt, mit Computerprogrammen Stimmen von den Republikanern an sich übertragen oder direkt Zehntausende von Stimmzetteln für die Demokraten fabriziert.
Die Auszählung der Stimmen wurde in allen Fällen von Beobachtern aus beiden Parteien kontrolliert, und es gab keine Berichte über nennenswerte Diskrepanzen. Sofern Fehler vorkamen, wurden sie von Wahlbeamten selbst gemeldet und dann von Trump und seinen Anhängern in den sozialen Netzwerken hemmungslos übertrieben.
Die Tatsache, dass die Republikaner in mehreren umstrittenen Bundesstaaten (u.a. in Georgia, Arizona und Nevada) die Wahlbehörden kontrollieren, macht Trumps Behauptungen über Wahlbetrug besonders unglaubwürdig. In Pennsylvania kontrollieren die Demokraten zwar die Exekutive, die Republikaner jedoch die meisten Counties – und genau in diesen werden massenhaft Briefwahlstimmen für die Demokraten gezählt.
Die Trump-Regierung versucht außerdem, eine Entscheidung über juristisch vorgeschriebene Schritte in die Länge zu ziehen, die den Übergang zu einer neuen Regierung unter den Demokraten erleichtern sollen. Am wichtigsten ist dabei die Bundesbehörde General Services Administration (GSA), die einen Großteil der zivilen Infrastruktur der Regierung verwaltet. Sie muss feststellen, dass das Wahlergebnis endgültig ist und damit Bidens Übergangsteam die Freigabe für Sicherheitsüberprüfungen, interne Informationen der Regierung und zusätzliche Mittel erteilen. Dass die GSA-Leiterin Emily Murphy, die von Trump eingesetzt wurde, dies bisher noch nicht getan hat, könnte zu einer langwierigen juristischen Auseinandersetzung führen.
Den Republikanern scheint es bei ihrer Kampagne um „Wahlbetrug“ weniger darum zu gehen, das Wahlergebnis zu ändern – obwohl auch dies noch immer möglich ist. Vielmehr scheinen sie Biden damit politische und personelle Zugeständnisse bei der Bildung einer neuen Regierung abnötigen zu wollen. Alles deutet darauf hin, dass Biden und die Führung der Demokraten im Kongress bereit und regelrecht begierig darauf sind, solche Zugeständnisse zu machen.
Bidens nationaler Sprecher, Jamal Brown, erklärte am Sonntag: „Joe Biden hat es in seiner Karriere immer geschafft, in Krisenzeiten Republikaner und Demokraten aus dem ganzen politischen Spektrum zusammenzubringen.“ Biden selbst konzentrierte sich in seiner Siegesrede am Samstagabend darauf, zur Zusammenarbeit zwischen beiden Parteien aufzurufen.
Den Medien wurden aus Bidens Wahlkampfteam Listen mit potenziell Nominierten für Kabinettsposten zugespielt. Auf ihnen sind zahlreiche Persönlichkeiten vom rechten Flügel der Demokraten und dem nationalen Sicherheitsapparat aufgeführt, u.a. Michele Flournoy als Verteidigungsministerin, Lael Brainard als Finanzministerin und Susan Rice oder Chris Coons als Außenminister. Insgesamt sind auf den Listen mehr Republikaner vertreten als Vertreter des Sanders/Warren-Flügels der Demokraten.
Es sieht so aus, dass die Demokraten im Kongress die Führung bei einer Kampagne zur Säuberung des linken Flügels der eigenen Partei übernommen haben, um die Republikaner schon im Voraus zu beschwichtigen. Senator Joe Manchin, der in der demokratischen Fraktion für seine rechten Positionen berüchtigt ist, machte den „Sozialismus“ für das schlechte Ergebnis in den Wahlen für die Senats- und Repräsentantenhaus-Sitze in den Bundesstaaten verantwortlich. Er behauptete, ohne den kleinsten Beweis vorzulegen, das sei der Grund für die meisten Menschen in seinem Bundesstaat West Virginia gewesen, die für die Republikaner gestimmt haben.
Eine Stellungnahme im Stil der McCarthy-Ära von der Abgeordneten und ehemaligen CIA-Agentin Abigail Spanberger (Virginia), die am 3. November mit knapper Mehrheit wiedergewählt wurde, stieß in der Kongressfraktion der Demokraten und den Medien auf große Resonanz. Sie behauptete während einer Telefonkonferenz nach der Wahl, der Grund für die Verluste der Demokraten im Repräsentantenhaus seien die Forderungen nach „Mittelkürzungen für die Polizei“ und „Medicare für alle“ gewesen.
Während der Konferenz erklärte Spanberger: „Wir dürfen die Worte ,sozialistisch‘ oder ,Sozialismus‘ nie wieder benutzen. Wir haben deshalb gute Mitglieder verloren.“ Die Tonaufzeichnung des Gesprächs wurde später der Presse zugespielt, um dieses rechte Narrativ zu stärken.
Die Behauptung, die Demokraten seien zu links aufgetreten, ist lächerlich. Sie ist eine rechte kapitalistische Partei, deren wichtigster Zustrom an Führungspersonal in den letzten zwei Jahren aus einer Gruppe von ehemaligen CIA-Agenten und Angehörigen der Special Forces, ehemaliger Militärkommandanten und hoher ziviler Berater aus den Kriegen im Irak und Afghanistan bestand. Diese Gruppe stellt jetzt mindestens 15 Mitglieder der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus und wird im nächsten Kongress das Kräfteverhältnis beeinflussen.
Bei den Senatswahlen konnte Minderheitsführer Chuck Schumer mehrere rechte Kandidaten durchsetzen, u.a. drei ehemalige Militärs und Geheimdienstler in drei wichtigen Wahlen in Kentucky, North Carolina und Texas. Alle drei erlitten eindeutige Niederlagen, zwei mit großem Abstand. Genauso verloren die konservativeren wirtschaftsfreundlichen Kandidaten in Iowa, Alaska, Kansas und Maine. Die Demokraten nominierten keinen einzigen Kandidaten vom Sanders-Flügel der Partei für einen umkämpften Senatsposten. Dennoch macht niemand den rechten Flügel der Partei für den gescheiterten Versuch verantwortlich, die Kontrolle über den Senat zurückzugewinnen.
Abgesehen von Manchins Hetzrede gegen den Sozialismus wies der Fraktionsführer im Repräsentantenhaus, Jim Clyburn, der eine wichtige Rolle bei Bidens Nominierung gespielt hatte, in Fernsehinterviews am Sonntag die Behauptungen von Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders zurück, die Partei müsse ein progressives wirtschaftspolitisches Programm anbieten, um ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der arbeitenden Bevölkerung zu erhalten. Er erklärte, Etiketten seien nicht wichtig und fügte hinzu, die Partei solle angesichts der Stichwahlen um zwei Senatssitze in Georgia, von denen die Kontrolle über den Senat abhängt, jede Verbindung zu „radikaler“ Politik in Bezug auf den Klimawandel, die Gesundheitsversorgung oder die Polizeigewalt vermeiden.
Weder Bidens Wahlkampfteam noch die Führung der Demokraten im Kongress hat irgendwelche nennenswerten Vorschläge für den Kampf gegen die Corona-Pandemie vorgebracht, an der in den USA bereits 240.000 Menschen gestorben und mehr als zehn Millionen erkrankt sind. Stattdessen will Biden eine Taskforce unter Leitung von zwei früheren Beamten des Gesundheitswesens, David Kessler und Vivek Murthy, vorstellen, um Maßnahmen wie das Tragen von Masken auf ausschließlich freiwilliger Basis zu empfehlen.
Der Kongress wird bald zur „Lame Duck“-Periode zusammentreten, in der er bis zur Amtsübergabe die Bewilligungsvorlagen für das aktuelle Haushaltsjahr bis zum 30. September 2021 aushandeln wird. Diese Gesetzentwürfe werden den Rahmen der Ausgaben für die ersten acht Monate der Biden-Regierung festlegen, doch die Grundlagen werden Trump und der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, mit der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, aushandeln. Biden hat für diesen Zeitraum keine Notfallgesetze zur Bekämpfung der Arbeitslosenkrise gefordert.
Zudem ist er jeder Diskussion über umfassendere Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung des rapiden Anstiegs der Covid-19-Fälle aus dem Weg gegangen – und das, obwohl der Public Health Service Act von 1944 den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) die Befugnis erteilt, „Regelungen zu entwerfen und durchzusetzen, die sie für notwendig halten, um die Einführung, Übertragung und Ausbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhindern...“
Bidens äußerst zaghafte Schritte und seine versöhnliche Herangehensweise an die Blockadehaltung der Trump-Regierung stehen in scharfem Kontrast zu dem Verhalten, das ein gewählter Republikaner vor seinem Amtsantritt an den Tag legen würde.
Als George W. Bush im Dezember 2000 vom Obersten Gerichtshof durch das berüchtigte Urteil Bush vs. Gore zum Präsidenten ernannt wurde, verhielt er sich, als hätte er einen Erdrutschsieg erzielt. Allerdings hatte er 500.000 Stimmen weniger als der Demokrat Al Gore, einen Gleichstand von 50:50 im Senat und nur eine Mehrheit von vier Stimmen im Repräsentantenhaus – deutlich weniger als die Mehrheit der Demokraten im Jahr 2021.
Bush setzte sofort eine massive Steuersenkung für Reiche und weitere reaktionäre Maßnahmen durch, die von einem beträchtlichen Teil der Demokraten unterstützt wurden. Obwohl Biden das Repräsentantenhaus hinter sich hat und mit mindestens fünf Millionen Stimmen vor Trump liegt, verhält er sich, als hätten die Republikaner die Wahl gewonnen.