Merkels Regierungserklärung: Profite vor Leben

Deutschland steht zunehmend im Zentrum der internationalen Covid-19-Pandemie. Das Robert-Koch-Institut meldete gestern 590 Tote binnen 24 Stunden und damit einen neuen Höchstwert. Laut Worldometers starben sogar 622 Menschen an Corona und damit mehr als in Großbritannien (616), Russland (562) und Frankreich (491). Mit 18.319 Neuinfektionen lag auch diese Zahl um einige tausend höher als in Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien – den Ländern mit den insgesamt höchsten Infektions- und Todeszahlen innerhalb der Europäischen Union.

Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gibt es in Deutschland mittlerweile täglich fast genauso viele Corona-Tote wie in den USA. Vor allem im Herbst sind die Todeszahlen regelrecht explodiert. Seit dem 23. Oktober hat sich die Gesamtzahl der Corona-Toten in Deutschland von 10.000 auf 20.000 verdoppelt. Mit anderen Worten, jedes zweite Corona-Opfer ist in den letzten sechs Wochen gestorben, davon 6280 allein im November. In diesem Monat ist die Situation mit bislang 3300 Toten noch katastrophaler. Bleiben die Todeszahlen auf dem gleichen Niveau, werden bis zum 31. Dezember mehr als 14.000 zusätzliche Menschen sterben.

Angesichts dieser Entwicklung und der wachsenden Besorgnis und Wut in der Bevölkerung sah sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer gestrigen Regierungserklärung im Bundestag gezwungen, die dramatische Situation anzusprechen. „Die Fallzahlen liegen auf einem viel zu hohen Niveau, und ganz alarmierend ist, wie stark die Zahl der Menschen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, und die Zahl der Menschen wachsen, die an dem Virus sterben“, erklärte sie.

Merkel bei ihrer Regierungserklärung (AP Photo/Markus Schreiber)

Notwendige Sofortmaßnahmen, um den Tod von Zehntausenden zu verhindern, schlug Merkel jedoch nicht vor. Im Gegenteil: ihre zur Schau getragene Betroffenheit und wiederholten Appelle „vorsichtig zu sein“, sollen kaschieren, dass ihre Regierung und die herrschende Klasse voll und ganz für die Katastrophe verantwortlich sind. Die hohen Todes- und Infektionszahlen sind das direkte Ergebnis der „Profite vor Leben“-Politik, die trotz der hohen Todes- und Fallzahlen fortgesetzt werden soll.

In ihrer Rede spekulierte Merkel zwar darüber, die Winterferien möglicherweise um einige Tage zu verlängern, schloss aber eine umfassende Schließung der Schulen und nicht lebensnotwendigen Betriebe aus. „Wir haben als Lehre aus dem Frühjahr gesagt: Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Kitas und Schulen offen zu halten. Wir werden alles tun, um Kitas und Schulen offen zu halten.“ Zynisch fügte sie hinzu: „Allerdings gehört in den Wintermonaten auch das Lüften dazu. Das ist einfach so, weil wir besondere Bedingungen haben.“

Die Kanzlerin sprach offen aus, was die Prioritäten der herrschenden Klasse sind. Nicht die Gesundheit und das Leben der arbeitenden Bevölkerung, sondern die wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen des deutschen Kapitalismus. „Diese Pandemie ist ja etwas, was die Kräfteverhältnisse auf der Welt durchaus erst einmal ökonomisch, aber vielleicht auch gesellschaftspolitisch neu ordnet“, dozierte sie. „Das heißt, wir müssen schauen, wie wir eingebettet sind in die globalen Zusammenhänge.“

Merkel bemerkte, dass die deutsche Wirtschaft ähnlich wie die US-amerikanische in diesem Jahr um vier bis sechs Prozent schrumpfen werde. Dabei liege man zwar vor „vielen europäischen Ländern“ wie Italien, Frankreich und Großbritannien, „die alle einen Wirtschaftseinbruch von circa minus 10 Prozent für dieses Jahr verzeichnen“, aber hinter Ländern wie China, „die aus diesen Jahren mit einem Plus von 1,9 Prozent herauskommen werden“. Deutschland müsse „alles tun, damit der Weg der Erholung, auf den wir im dritten Quartal nach einem massiven Einbruch im zweiten Quartal gekommen sind, auch fortgesetzt werden kann“.

Die Botschaft ist klar. Deutschland muss die Krise nutzen, um seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss im Wettstreit mit den anderen Mächten zu erhöhen. „Deutsche Unternehmen sollen im internationalen Wettbewerb mithalten können“, betonte Merkel. Man müsse außerdem „alles daransetzen, dass wir die deutsche Stärke nicht nur im wirtschaftlichen Bereich erhalten“. Es gehe „nicht nur um ökonomische Daten, sondern es geht eben auch um einen weltweiten Systemwettbewerb, den wir ja spüren, um unterschiedliche politische und gesellschaftliche Systeme“.

Bezeichnenderweise sieht der neue Haushalt für das Jahr 2021, der am Freitag verabschiedet werden soll, eine weitere massive Erhöhung der Militärausgaben auf offiziell 46,93 Milliarden Euro vor. Dabei entfallen allein 7,72 Milliarden auf militärische Beschaffungen: 350 Millionen Euro sind für die Beschaffung des Großraumtransportflugzeugs A 400 M vorgesehen, 442 Millionen Euro für den Schützenpanzer Puma, 998 Millionen Euro für die Anschaffung neuer Kampfjets vom Typ Eurofighter und 379 Millionen Euro für den Bau des Mehrzweckkampfschiffs 180.

Während Milliarden in die Kriegsaufrüstung fließen, sollen die gigantischen Summen, die im Rahmen der sogenannten Corona-Rettungspakete vor allem in die Großunternehmen und Banken gepumpt wurden, wieder aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden. „Wir müssen uns auch immer wieder vergegenwärtigen, was öffentliche Schulden bedeuten. Es bedeutet natürlich die Belastung künftiger Haushalte, es bedeutet die Notwendigkeit, das zurückzuzahlen, und es bedeutet Einschränkungen für künftige Ausgaben und für künftige Generationen.“

Die World Socialisst Web Site hat die Pandemie von Anfang an als Trigger Event bezeichnet, als „auslösendes Ereignis“, das die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Weltsystems enorm beschleunigt. Weltweit hat die herrschende Klasse ihre Politik der sozialen Angriffe und der inneren und äußeren Aufrüstung, die sie bereits nach der Finanzkrise 2008/09 ständig verschärft hat, weiter intensiviert. Für die Durchsetzung ihrer reaktionären Interessen geht die gesamte herrschende Klasse über Leichen.

Die rechte Agenda der Großen Koalition ist Konsens im Bundestag. Bezeichnenderweise klatschten an mehreren Stellen von Merkels Rede neben Vertretern von CDU/CSU und SPD auch Abgeordnete der FDP, der Grünen und der Linkspartei. Vertreter der AfD riefen wie üblich dazwischen, aber de facto setzt die Große Koalition die Politik der rechtsextremen Partei in die Tat um: das gilt für die massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Stärkung der „Festung Europa“ gegen Flüchtlinge und Migranten genauso wie für die tödliche Öffnungspolitik.

Die Strategie der „Herdenimmunität“, d.h. die massenhafte Durchseuchung der Bevölkerung, war von Anfang an die Politik der Bundesregierung. Bereits auf einer Pressekonferenz am 11. März hatte Merkel erklärt, die deutsche Regierung gehe davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus CoV-19 infizieren werden.

Die WSWS kommentierte damals: „Solche Erklärungen zeigen nicht einfach Inkompetenz, sie sind politisch kriminell. 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs herrscht innerhalb der Finanzaristokratie eine faschistoide Haltung gegenüber der Arbeiterklasse, die an den Umgang mit den Galeerensklaven im antiken Rom erinnert: Arbeite bis du stirbst.“ Und wir stellten fest: „Ohne Zweifel betrachten bedeutende Teile der herrschenden Klasse das Coronavirus als Geschenk Gottes. Der Tod von Millionen Alten und Kranken würde neue Kürzungsrunden im sozialen Bereich ermöglichen und weitere Milliarden in die Taschen der Wirtschaftseliten spülen.“

Arbeiter und Jugendliche müssen der tödlichen Logik des kapitalistischen Profitsystems ihre eigene unabhängige Politik und Strategie entgegensetzen. Die Sozialistische Gleichheitspartei ruft dazu auf, unabhängige Aktionskomitees zu gründen, die sich international vernetzen und den wachsenden Widerstand gegen offene Schulen, Betriebe und Angriffe auf Arbeitsplätze und Löhne koordinieren. Die Komitees müssen zum Ausgangspunkt einer Massenstreikbewegung der Arbeiterklasse werden, die die politische Macht übernimmt, die Finanzoligarchie enteignet und die Gesellschaft auf einer rationalen, wissenschaftlichen und sozialistischen Grundlage umgestaltet.

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