Eine politisch motivierte Verleumdung: Kanadas Globe and Mail macht „Marxisten“ für diskreditiertes 1619-Projekt verantwortlich

Im Dezember 2020 erschien in einer führenden Tageszeitung Kanadas, dem Globe and Mail, eine niederträchtige, politisch motivierte Verleumdung des Marxismus. Der Artikel von Konrad Yakabuski, einer ihrer führenden Kolumnisten, trägt den Titel „Die neuen Marxisten schreiben die Geschichte der USA um“. Yakabuski behauptet darin, das 1619-Projekt der New York Times – eine rechte, rassistisch inspirierte Neuinterpretation der amerikanischen Geschichte – sei von Marxisten verfasst worden.

Das ist völlig absurd. Die New York Times ist die Tageszeitung, die am stärksten mit der Demokratischen Partei in Verbindung gebracht wird, eine der beiden Parteien der Wall Street und des US-Imperialismus, und steht schon von daher dem Marxismus und dem Sozialismus unversöhnlich feindselig gegenüber.

Außerdem wissen alle, die mit der wichtigen intellektuellen und historiografischen Kontroverse um das 1619-Projekt der Times einigermaßen vertraut sind, dass die Marxisten der World Socialist Web Site von Anfang an im Kampf gegen dieses Projekt die führende Rolle gespielt haben.

Aber Yakabuski, ein Thatcher-Verehrer, dessen Bruder dem Kabinett der rechten konservativen Regierung in Ontario angehört, lässt sich von solchen Tatsachen nicht von Verleumdungen im Stile McCarthys abhalten. Für das 1619-Projekt der Times seien „selbsternannte Richter der Geschichte“ verantwortlich, die eine „marxistische Interpretation der amerikanischen Geschichte“ vertreten. Yakabuski beschließt seine Tirade mit einer Verurteilung der Revolution, die von kanadischem Nationalismus strotzt.

David North, der Leiter der internationalen Redaktion der WSWS, hat in vielen WSWS-Artikeln die Auslassungen, Verzerrungen und eindeutigen Fälschungen im 1619-Projekt, das die amerikanische Geschichte umschreibt, aufgedeckt. Am 21. Dezember legte er in einem Brief an den Globe Protest gegen die Kolumne von Yakabuski ein. Im Folgenden geben wir diesen Brief wieder.

Betr.: Die neuen Marxisten schreiben die Geschichte der USA um (19. Dezember)

Entgegen der Darstellung von Herr Yakabuski hat die Fälschung der amerikanischen Geschichte durch die New York Times nichts mit dem Sozialismus zu tun. Das 1619-Projekt vertritt eine rassistische Variante der Identitätspolitik. Sie geht zurück auf die Kritische Rassentheorie, die den Klassenkampf, den Marxisten als die treibende Kraft der Geschichte ansehen, ausdrücklich zurückweist.

Herr Yakabuski unterschlägt die Tatsache – die in Publikationen des Establishments wie der American Historical Review und des Wall Street Journals anerkannt wird –, dass die trotzkistische World Socialist Web Site (wsws.org) die führende Rolle beim Widerstand gegen das 1619-Projekt spielt. Die bedeutendsten Historiker in den Vereinigten Staaten, u.a. Gordon Wood und James McPherson, haben das 1619-Projekt in Interviews mit der WSWS kritisiert.

Sozialisten verteidigen das Erbe der demokratischen Revolutionen der Vereinigten Staaten. Deshalb hat sich die WSWS gegen die rassistische Version der Geschichte gewandt, die die New York Times propagiert.

David North

Detroit

Chefredakteur der WSWS

Der Globe hat Norths Schreiben nicht veröffentlicht, obwohl dieser sich vollständig an die Regeln für Leserbriefe der Zeitung hielt und auch das 150-Worte-Limit einhielt.

Dieser Akt der politischen Zensur ist ein weiterer Beweis dafür, sollte das überhaupt noch notwendig sein, dass Yakabuskis Kolumne nicht durch Unwissenheit oder mangelnde journalistische Kompetenz zu erklären ist. Vielmehr handelte es sich um den politisch motivierten Versuch, den Marxismus und die sozialistische Bewegung zu diskreditieren, indem diese mit rassistischer Politik identifiziert werden.

Yakabuskis Leser erfahren nichts über die Debatte über das 1619-Projekt – eine Debatte, die, um es klar zu sagen, ausführlich dokumentiert ist und zweifellos auch die seit Jahren politisch bedeutsamste und breit kommentierte Kontroverse über die amerikanische Geschichte und Geschichtsschreibung darstellt.

Ein Essay der World Socialist Web Site vom 6. September 2019, knapp drei Wochen, nachdem die New York Times über das Projekt berichtet hatte, war der Beginn der Entlarvung und Zurückweisung des rassistischen Narrativs des 1619-Projekts. Weitere Artikel und Vortragsveranstaltungen der WSWS in den nächsten vier Monaten entwickelten diese Kritik weiter, auch die Veröffentlichung von Interviews mit führenden Historikern der amerikanischen Revolution und des Amerikanischen Bürgerkriegs, unter ihnen Gordon Wood, James McPherson, James Oakes und Victoria Bynum. Diese Historiker und ihr Kollege Sean Wilentz protestierten in einem Brief an die Times gegen eine Reihe offensichtlicher Falschdarstellungen der Autoren des 1619-Projekts.

Yakabuski möchte seinen Lesern weismachen, dass die Geschichtsfälschungen und Entstellungen des 1619-Projekts von „professionellen Historikern beinahe einhellig verurteilt“ wurden, doch es ist genau andersherum.

Die Mehrzahl der Historiker schwieg entweder oder ergriff Partei für das 1619-Projekt. Ein Leitartikel der führenden Fachzeitschrift für Geschichte in den USA, der American Historical Review (AHR), verteidigte in der Februarausgabe 2020 das 1619-Projekt. Darin wurde behauptet, das von der New York Times aufgebrachte rassistische Narrativ sei ein positiver Beitrag zur Geschichtsschreibung Amerikas, und die krassesten Geschichtsrevisionen und -fälschungen stellten legitime unterschiedliche Auslegungen dar.

In ihrer Antwort an die AHR betonten David North und der Historiker Tom Mackaman, dass ihre Verteidigung des 1619-Projekts „zeigt, in welchem Ausmaß rassistische Mythologie, die das ‚theoretische‘ Fundament der Identitätspolitik der Mittelklasse bildet, von vielen Wissenschaftlern inzwischen akzeptiert und sogar als legitime Basis für das Lehren der amerikanischen Geschichte gefördert wird“.

Yakabuski beklagt zwar, dass sich „zahllose Amerikaner“ dieser marxistischen Interpretation der Geschichte angeschlossen haben, aber er macht es sich leicht und streift das 1619-Projekt selbst nur in zwei kurzen Absätzen.

Er stützt seine Behauptung, die Marxisten würden „die amerikanische Geschichte umschreiben“, ausschließlich auf die Entscheidung der Schulbehörde des San Francisco District, die nach Lincoln, Washington, Jefferson und anderen Führern der amerikanischen Revolution und des Bürgerkriegs benannten High Schools umzubenennen. Wie die WSWS an anderer Stelle erklärt hat, liegt dieser reaktionären Maßnahme die gleiche rechte rassistische Politik zugrunde, die den Autoren des 1619-Projekts als Richtschnur diente.

Yakabuski verleumdet die Marxisten, indem er sie für das 1619-Projekt verantwortlich macht; und er nennt darüber hinaus auch keinen einzigen Marxisten, der an der Entscheidung der Schulbehörde des San Francisco District beteiligt war. Die einzige Person, die er namentlich anführt, ist Jeremiah Jeffries, ein schwarzer Nationalist und Mitglied des Umbenennungskomitees der Schulbehörde, der sich auch für die Wiederwahl von London Breed als Bürgermeister von San Francisco eingesetzt hat. Breed gehört dem rechten Flügel der Demokratischen Partei an und hat die kurze Präsidentschaftswahlkampagne des milliardenschweren Investors und Geschäftsmanns Michael Bloomberg unterstützt.

Der Globe hat seine Anschuldigung, das 1619-Projekt sei das Werk von „Marxisten“ und „Sozialisten“, in Wirklichkeit von niemand anderem als Donald Trump geklaut. Der abgewählte US-Präsident, Milliardär und Möchtegern-Diktator hat die Unterstützung der herrschenden Klasse für seine antidemokratischen Verschwörungen zu gewinnen versucht, indem er wiederholt vor der existentiellen Gefahr für den amerikanischen Kapitalismus vonseiten der „Marxisten“ und „Sozialisten“ gewarnt hat. Beispielhaft für diese Gefahr sei das „marxistische“ 1619-Projekt, log Trump.

Yakabuskis Schmähartikel endet mit einer bösartigen Attacke auf die Revolution und den Kampf für Gleichheit. Dabei bedient er sich einiger Schlüsselbegriff des kanadischen Nationalismus, der wichtigsten ideologischen Waffe der kanadischen Bourgeoisie. Er vergleicht die Autoren des 1619-Projekts und die Mitglieder des Umbenennungskomitees in San Francisco mit „denen, die das Komitee für öffentliche Sicherheit gründeten, das während der Französischen Revolution jeden der Guillotine übergab, der der Illoyalität verdächtigt wurde“. Yakabuski fährt fort: „Ihr maßloser Eifer, die Ungläubigen auszumerzen, treibt die Revolutionäre immer wieder dazu, gegen ihre Gesinnungsgenossen vorzugehen. Ihr Anspruch, für die Gleichheit zu kämpfen, entlarvt sich rasch als ihr Verlangen nach Vergeltung.“

Hier kann nicht untersucht werden, wie die beiden bürgerlich-demokratischen Revolutionen zur Entstehung Kanadas, eines vom britischen Empire unterstützten, kapitalistischen Staats im nördlichen Teil Nordamerikas, beigetragen haben. Erwähnt werden muss aber, dass die Ursprünge der kanadischen Bourgeoisie bei den amerikanischen Loyalisten (United Empire Loyalists) zu finden sind, den pro-britischen Gegnern der amerikanischen Revolution, und den Überbleibseln der herrschenden Elite des Ancien Régime der Kolonie Neufrankreich.

Die Konföderation – der Zusammenschluss der Kolonien von Britisch-Nordamerika im Jahr 1867 – war keine in der Bevölkerung verankerte, von demokratischen Prinzipien inspirierte Bewegung, sondern ein Geschäft zwischen Politikern der Kolonien, Eisenbahnunternehmen, Bankern und der britischen Regierung. Ein wichtiges Ziel war die Annexion des heutigen Westkanadas, die Enteignung der indigenen Einwohner, und die Zerschlagung ihrer Eigentumsordnung. Wie die Führer des britischen Empire in London, die die aufständischen Staaten der Konföderation in Amerika diplomatisch anerkennen wollten, hatten die kanadischen Väter der Konföderation gehofft, dass die Sklavenhaltergesellschaft im amerikanischen Bürgerkrieg die Oberhand behalten würde.

Winslow Homer,"Die Baumwollpflückerinnen", 1876 (Public Domain)

Die Konföderation gründete sich auf die ausdrückliche Ablehnung der revolutionären demokratischen Prinzipien, die die amerikanische Revolution inspiriert hatten, und die auch die ideologisch-politische Grundlage für eine, in Lincolns Worten, „Wiedergeburt der Freiheit“ bildeten – die Abschaffung der Sklaverei und die Gewährung der Bürgerrechte für die afroamerikanische Bevölkerung. Während die amerikanische Unabhängigkeitserklärung – inspiriert durch den ideologischen Angriff der Aufklärung auf Ungleichheit, religiösen Obskurantismus und absolute Monarchie – „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ als „unveräußerliche Rechte“ bezeichnete und das „Recht des Volkes“ verkündete, eine Regierung, die diese Rechte verletzte, „zu ändern oder zu stürzen“, priesen die Väter der Konföderation „Frieden, Ordnung und gutes Regieren“ und gelobten der britischen Krone und dem Empire ihre Loyalität.

Bis in die 1960er Jahre verspottete die herrschende Variante des englischen und französisch-kanadischen Quebec-Nationalismus die Vereinigten Staaten als „zu demokratisch, und zu egalitär“. In der Folgezeit, zu einem guten Teil bedingt durch das Bestreben, eine mehr und mehr rebellische Arbeiterklasse im Zaum zu halten, gaben die Ideologen der herrschenden Klasse dem kanadischen und dem Quebec-Nationalismus einen liberalen „linken“ Anstrich. Kanada wurde von da an als freundlichere und rücksichtsvollere Gesellschaft propagiert, im Vergleich zu seinem Nachbarn im Süden, der raffgierigen Dollar-Republik.

Welche Veränderungen auch immer man am kanadischen nationalistischen Narrativ vornimmt, die Feindschaft gegenüber der Revolution bleibt. Sie ist das Markenzeichen der kanadischen herrschenden Klasse.

Yakabuskis Attacke auf die Revolution klingt wie ein Leitartikel des Globe aus dem Jahr 2018, „Weshalb 1867 besser war als 1776“. Der Artikel erschien am 1. Juli, dem kanadischen Nationalfeiertag, der an die Bildung Kanadas am 1. Juli 1867 erinnert. Er war voll des Lobes über die Ursprünge Kanadas in „schrittweisen Veränderungen und Verbesserungen“ durch „Verhandeln und Kompromisse“, im Gegensatz zur „abrupten, radikalen und blutigen – äußerst blutigen – Zurückweisung der Vergangenheit“ durch die amerikanische und französische Revolution. Im weiteren Verlauf des Artikels pries der Globe die Beteiligung Kanadas an den beiden imperialistischen Weltkriegen des letzten Jahrhunderts. So machte er deutlich, dass er revolutionäre Gewalt verabscheut, nicht aber die Unterdrückung von Opposition durch den Staat, ebenso wenig Aggression der kanadischen Bourgeoisie im Weltmaßstab zur Wahrung ihrer räuberischen Interessen.

Yakabuskis wirkliche Sorge und die der Globe-Herausgeber und ihres Arbeitgebers Thomson, der reichsten Milliardärsfamilie Kanadas, gilt nicht der Geschichte. Der Grund für ihre reißerischen Verleumdungen der Revolution, verbitterten Attacken auf den Kampf für Gleichheit und ihre Versuche, den Marxismus zu verleumden und ihn mit rechter rassistischer Politik gleichzusetzen, ist ihre Furcht vor der Opposition der Arbeiterklasse in Kanada und weltweit, und der wachsenden Unterstützung für den Sozialismus.

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