Italien: Regierung Draghi bereitet sich auf Klassenkonfrontation vor

Die beiden Kammern des italienischen Parlaments haben der neuen Regierung von Mario Draghi mit großer Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen. Im Senat erhielt sie 262 Ja- und 40 Nein-Stimmen, im Abgeordnetenhaus 535 Ja- und 56 Nein-Stimmen.

Der 73-jährige ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank hat letzte Woche eine Regierung gebildet, in der mit Ausnahme der faschistischen Fratelli d'Italia sämtliche Parteien von nationaler Bedeutung vertreten sind, von der rechtsextremen Lega bis zu den sozialdemokratischen Demokraten (PD). Einige Schlüsselressorts werden zudem von parteilosen Technokraten geleitet. Auch der Unternehmerverband Confindustria und die Gewerkschaften haben der Regierung ihre Unterstützung zugesichert.

Draghi spricht vor der Angeordnetenkammer (Bild: governo.it / CC-BY-NC-SA 3.0 IT)

Draghi hielt am Mittwoch im Senat eine programmatische Rede, in der er die „nationale Einheit“ und die „nationale Verantwortung“ beschwor. Es sei kein Adjektiv erforderlich, um seine Regierung zu definieren, sagte er. Sie sei „einfach die Regierung des Landes“. Er appellierte an den „Opfergeist“ der Bevölkerung und an die „Pflicht zur Staatsbürgerschaft“ und erklärte: „Heute ist Einheit keine Option, Einheit ist eine Pflicht.“

Seine Regierung verkörpert allerdings nicht die Einheit der Nation, sondern den Schulterschluss der herrschenden Klasse in einem Land, das zutiefst gespalten ist und auf eine soziale Explosion zusteuert.

Draghi verglich seine Regierung nicht zufällig mit den „Regierungen der unmittelbaren Nachkriegszeit“, als „politische Kräfte, die ideologisch weit voneinander entfernt, wenn nicht sogar gegensätzlich waren“, zusammenarbeiteten. Damals hatte sich die stalinistische Kommunistische Partei unter Führung Palmiro Togliattis an rechten bürgerlichen Regierungen beteiligt, um die sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse zu unterdrücken und den italienischen Kapitalismus zu retten.

Draghi führte den versammelten Senatoren eindringlich vor Augen, in welch tiefer Krise sich der italienische Kapitalismus befindet und dass sie einen sozialen Aufstand riskieren, wenn sie sich nicht hinter seiner Regierung stellen.

Seit dem Ausbruch der Epidemie, so der neue Regierungschef, habe es 92.522 Todesfälle und 2.725.106 Infektionen gegeben, wobei die offiziellen Zahlen untertrieben seien. Allein unter dem Gesundheitspersonal hätten sich 120.000 infiziert und 259 seien gestorben. Die Lebenserwartung sei wegen der Pandemie für die gesamte italienische Bevölkerung um eineinhalb bis zwei Jahre gesunken, in den Gebieten mit der höchsten Ansteckung sogar um vier bis fünf Jahre. Seit den beiden Weltkriegen habe es keinen vergleichbaren Rückgang gegeben.

Zu den sozialen Folgen der Krise zitierte Draghi Zahlen der Caritas, laut denen sich von Mai bis September letzten Jahres der Anteil der „neuen Armen“ gegenüber demselben Vorjahreszeitraum von 31 auf 45 Prozent erhöht hat. „Fast jeder Zweite, der sich heute an die Caritas wendet, tut dies zum ersten Mal.“ Unter den neuen Armen nehme der Anteil von Familien mit minderjährigen Kindern, von Frauen, von jungen Menschen und von solchen im arbeitsfähigen Alter zu – von Menschen, die noch nie von Armut betroffen waren.

Im vergangenen Jahr sei die Zahl der Beschäftigten um 444.000 gesunken. Bisher seien vor allem junge Menschen und Frauen betroffen, bald könnten aber auch Arbeitnehmer mit unbefristeten Verträgen arbeitslos werden.

Die Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit seien gravierend und hätten nur wenige historische Präzedenzfälle, fuhr Draghi fort. Ohne öffentliche Intervention wäre der Gini-Koeffizient, der 2019 bei 34,8 Prozent lag, in der ersten Hälfte des Jahres 2020 um 4 Prozentpunkte gestiegen. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß für die Ungleichheit in der Einkommensverteilung. „Dieser Anstieg wäre größer gewesen als der kumulierte Anstieg während der beiden letzten Rezessionen.“

Auch in den Schulen seine die Folgen der Pandemie schwerwiegend. Von knapp 1,7 Millionen Schülern an weiterführenden Schulen hätten in der ersten Februarwoche nur 61 Prozent am Fernunterricht teilnehmen können.

„Diese noch nie dagewesene Notsituation erfordert von uns einen entschlossenen und schnellen Weg der Einheit und des gemeinsamen Engagements,“ folgerte Draghi. Doch außer einem „Impfplan“ und einer „umfassenden Debatte über die Reform unseres Gesundheitswesens“ kündigte er keinerlei Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie an.

Führende Experten, wie der Pandemie-Berater des Gesundheitsministers Walter Riccardi und der bekannte Virologe Andrea Crisanti, fordern dringend einen mehrwöchigen Lockdown, um die Ausbreitung der gefährlichen britischen Virusvariante in Italien zu stoppen. Dass sich einige Minister solchen Maßnahmen bisher widersetzt hätten, habe Zehntausende Todesfälle verursacht, erklärte Riccardi gegenüber italienischen Medien.

Doch Draghi lehnt einen weiteren Lockdown ab und hält am bisherigen Kurs fest, der Profite über Menschenleben stellt. Er will die Pandemie und das durch sie erzeugte Elend nutzen, um das italienische Sozial- und Wirtschaftssystem gründlich umzubauen und Maßnahmen zu verwirklichen, die bisher am Widerstand der Arbeiterklasse gescheitert sind.

Draghi ist dafür Experte. Bereits in den 1990er Jahren hatte er als Generaldirektor des italienischen Finanzministeriums Staatsunternehmen privatisiert und Sozialausgaben zusammengestrichen, um Italien für den Euro „fit“ zu machen. Nach einem lukrativen Zwischenjob bei der Investmentbank Goldman Sachs war er dann als Präsident der Europäischen Zentralbank mitverantwortlich für die brutalen Spardiktate, die den Lebensstandard der Bevölkerung Griechenlands und anderer Länder zerstörten. Gleichzeitig überschwemmte er die Finanzmärkte mit Billionen-Summen.

Während Draghi den Pandemiemaßnahmen nur wenige Sätze einräumte, widmete er den größten Teil seiner Senatsrede Plänen, die Profite der Wirtschaft wieder anzukurbeln. Er stützt sich dabei direkt auf die Europäische Union.

„Diese Regierung entsteht auf der Grundlage der Mitgliedschaft unseres Landes in der Europäischen Union und in der Atlantischen Allianz,“ schärfte er den Senatoren ein. „Diese Regierung zu unterstützen bedeutet, die Unumkehrbarkeit der Entscheidung für den Euro zu teilen, es bedeutet, die Aussicht auf eine zunehmend integrierte Europäische Union zu teilen.“ Auch in den internationalen Beziehungen werde seine Regierung „entschieden pro-europäisch und atlantisch sein“ und „die strategischen und essentiellen Beziehungen zu Frankreich und Deutschland besser strukturieren und stärken“.

Der Corona-Hilfsfonds der Europäischen Union, aus dem Italien 210 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Krediten zustehen, will Draghi als Hebel einsetzen, um das Land zu „reformieren“. Der Verwendungszweck der Fondsgelder muss von der EU-Kommission im Einzelnen genehmigt werden.

Der EU-Fonds trägt den zynischen Namen „Next Generation EU“, und auch Draghi versuchte, seine Austeritätspläne mit Hinweisen auf die Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation zu rechtfertigen. „Jede Verschwendung heute ist eine Ungerechtigkeit, die wir zukünftigen Generationen antun, ein Raub an ihren Rechten“, erklärte er.

Draghi betonte immer wieder, dass die Gelder nicht zur Behebung des sozialen Elends, sondern zur „Modernisierung“ der Wirtschaft dienen sollen. „Die Regierung wird die Arbeiter schützen müssen,“ sagte er. „Aber es wäre ein Fehler, alle wirtschaftlichen Aktivitäten gleichermaßen zu schützen. Einige werden sich ändern müssen, sogar radikal. Und die Wahl, welche Aktivitäten zu schützen und welche im Wandel zu begleiten sind, ist die schwierige Aufgabe, der sich die Wirtschaftspolitik in den kommenden Monaten stellen muss.“

Die wirtschaftspolitische Antwort auf die Pandemie werde „eine Kombination aus Strukturpolitik, die Innovationen erleichtert, Finanzpolitik, die den Zugang wachstumsfähiger Unternehmen zu Kapital und Krediten erleichtert, und expansiver Geld- und Fiskalpolitik, die Investitionen erleichtert und Nachfrage schafft, sein müssen,“ sagte Draghi. Auch „die Entwicklung der Fähigkeit, nationale und internationale Privatinvestitionen anzuziehen“ – sprich: niedrige Löhne – sei von entscheidender Bedeutung.

Zum Thema Innenpolitik äußerte sich Draghi nicht. Und zur Flüchtlingspolitik sagte er nur kurz, entscheidend sei „der Aufbau einer europäischen Politik der Rückführung von Personen sein, die keinen Anspruch auf internationalen Schutz haben“. Doch allein die Tatsache, dass die rechtsextreme Lega, die für einen Polizeistaat eintritt, mit am Kabinettstisch sitzt, zeigt, dass sich die Regierung Draghi auf heftige Konfrontationen mit der Arbeiterklasse vorbereitet. Anders lässt sich ihr rechtes Programm nicht durchsetzen.

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