Nach dem Vorbild einiger anderer Festivals während der Corona-Pandemie fand die 71. Berlinale, die Internationalen Filmfestspiele Berlin, in Form von Online-Vorführungen ausgewählter Filme vor Fachpublikum des Europäischen Filmmarkts und einigen Journalisten statt. Statt der üblichen über 400 Filme wurden rund 166 Filme dem eingeschränkten Publikum online zur Verfügung gestellt.
Die Berlinale ist traditionell das Filmfestival mit der höchsten Publikumsbeteiligung. Um dem Publikum entgegenzukommen, ist für die Zeit vom 9. bis 20. Juni ein zweites so genanntes „Summer Special“ geplant. Die Festivalmacher rechnen offenbar mit einer Abschwächung der Pandemie bis zum Frühsommer, obwohl Mediziner vor einem raschen Wiederanstieg der COVID-19-Infektionen in Deutschland durch die weitere Öffnung von Wirtschaft und Schulen warnen.
Die 71. Berlinale fand in einer Zeit beispielloser sozialer und politischer Krise statt. Mehr als zweieinhalb Millionen Menschen sind bereits an dem Coronavirus gestorben – als direkte Folge der Regierungspolitik in aller Welt, die Profite über Menschenleben stellt. Der Anstieg des Dow Jones 2020 verläuft weitgehend parallel zur horrenden Steigerung der Todesfälle in Amerika durch die Pandemie. Auch der deutsche Aktienindex Dax beendete das vergangene Jahr mit einem Rekordhoch. Überall auf der Welt werden demokratische Rechte und Strukturen über Bord geworfen, während autoritäre und neofaschistische Bewegungen und in einigen Fällen auch Regierungen versuchen, die Krise im Interesse der Finanz- und Kapitaloligarchen zu lösen, die ihre Fäden ziehen.
Die Filme, die schließlich die Leinwände erreichen, benötigen von der ursprünglichen Idee bis zum fertigen Film oft Jahre der Arbeit. Es wäre unfair, vom Festival zu erwarten, dass es eine große Anzahl von Werken zeigt, die unmittelbar die aktuellen Verhältnisse widerspiegeln. Aber die Pandemie ist nicht die Quelle der aktuellen Krise, vielmehr hat sie wie ein Beschleuniger oder Verstärker gewirkt. Die diesjährige Berlinale bot Filmemachern die Gelegenheit, sich mit Beiträgen zu Wort zu melden, die die Zunahme sozialer Spannungen und das Aufflammen von Widerstand in der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringen.
Zu den nachdenklichsten und engagiertesten Filmen des Festivals gehörten „Herr Bachmann und seine Klasse“ (Maria Speth, Silberner Bär Jurypreis), der ungarische Wettbewerbsbeitrag „Natürliches Licht“ (Dénes Nagy, Silberner Bär für die beste Regie), „Azor“ (Andreas Fontana), „Die Saat“ (Mia Maariel Meyer) und „Je suis Karl“ (Christian Schwochow). Zu einigen dieser Filme wird die WSWS in weiteren Rezensionen Stellung nehmen.
Die Wettbewerbsjury des Festivals setzte sich dieses Jahr erstmals aus sechs früheren Berlinale-Preisträgern zusammen. Sie vergab den Hauptpreis des Festivals, den Goldenen Bären, an den rumänischen Filmemacher Radu Jude für „Bad Luck Banging or Loony Porn“. Dem Film ist zugute zu halten, dass er mit einer gewissen Dringlichkeit gegen die bestehenden Verhältnisse protestiert.
Er beginnt mit einem fünfminütigen Amateur-Sexvideo zwischen der Lehrerin Emi (Katia Pascariu) und ihrem Mann, das das Paar gefilmt hat. Der Film wird dummerweise auf eine Pornowebsite für Erwachsene hochgeladen – vermutlich vom Ehemann – und gelangt so an die Öffentlichkeit. Die Lehrerin ist eine angesehene Kollegin an einer renommierten rumänischen Schule, doch nun ist ihre Karriere in Gefahr, denn die Eltern der Schule nutzen das Sexvideo, um ihre Entlassung zu fordern.
Radu Judes These ist, dass es in der modernen kapitalistischen Gesellschaft weitaus mehr Obszönität zu sehen gibt, als in den sexuellen Spielen eines Ehepaares hinter verschlossenen Türen. In seinem Pressetext schreibt er: „Obszönität ist das Thema dieses Films, und die Zuschauer werden ständig aufgefordert, die so genannte Obszönität eines banalen Amateur-Pornovideos mit der Obszönität um uns herum und der Obszönität zu vergleichen, die wir in der jüngsten Geschichte finden, deren Spuren überall zu finden sind.“
Der Film ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil sehen wir Emi, wie sie sich in der Sommerhitze durch Bukarest quält, als sie erfährt, dass das Sexvideo veröffentlicht wurde. Unterwegs erlebt Emi einige heftige Beleidigungen. Als sie sich darüber beschwert, dass sie auf eine befahrene Straße laufen muss, um einem großen parkenden SUV-Geländewagen auszuweichen, wird Emi von dem groben Fahrer wüst beschimpft. Die Kamera schwenkt langsam über baufällige Gebäude. Wir sehen billige, kitschige Geschenke in einem Schaufenster neben einem Porträt von Jesus Christus und ein Beerdigungsinstitut nur wenige Meter entfernt von einem Krankenhaus, in das Coronavirus-Patienten gebracht werden.
Der zweite Teil des Films besteht aus Momentaufnahmen – Videoclips des modernen Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft. Ein heimlich gefilmtes Video zeigt einen realen Firmenchef, der seine Arbeiter schikaniert, die auf ihren Lohn warten. Er verlangt, dass sie länger auf ihre Bezahlung warten und beschimpft sie als „verdammtes Bauerngesindel“. Eine Frau ergreift im Namen der Arbeiter das Wort und erklärt: „Wir sind keine Tiere“. Daraufhin will der wütende Boss wissen, wer gesprochen hat und beschimpft die gesamte Belegschaft als „Drecksäcke“, die sich fortscheren sollen.
Ein Clip zeigt einen kleinen Jungen auf einem Bett mit blauen Flecken am ganzen Rücken. Wir erfahren, dass sechs von zehn rumänischen Familien von häuslicher Gewalt betroffen sind. Eine andere Texteinblendung stellt fest, dass die Bewohner ländlicher Gebiete in Rumänien die ärmsten in ganz Europa sind.
Ohne Zweifel zeigt hier Radu Jude seine Empörung über die Zustände im heutigen Rumänien. In einem Interview erklärte er kürzlich selbst: „Abgesehen von einer faschistischen Partei im Parlament besteht unser Hauptproblem in einer korrupten Partei und anderen Parteien, die für Sparmaßnahmen oder neoliberale Maßnahmen eintreten ... Es gibt keine Investitionen und keine Sorge um Bildung oder andere wichtige Dinge.“
Zugleich feuert Jude wahllos in alle Richtungen. Während einige der Clips vielsagend sind, sind andere weit vom Ziel entfernt und deuten auf tiefen Pessimismus und sogar Desorientierung hin. Eine kurze Aufnahme eines Stroms von Plastikflaschen und Schlamm, der einen Hügel hinunterstürzt, wird von einem Text begleitet, der darauf hinweist, dass „99 Prozent aller Arten jetzt ausgestorben sind“, was darauf hindeuten soll, dass das die Menschheit das gleiche Schicksal erwartet.
Eine Bildunterschrift in diesem Abschnitt zitiert den deutschen Philosophen, Walter Benjamin, der mit der Frankfurter Schule in Verbindung stand, dass man aus der Betrachtung der Geschichte „zwar nicht menschenfeindliche Verachtung, wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt“ lerne. (Das Passagen-Werk, in Ges. Schriften, V.1, S. 584)
Eine kurze Sequenz stellt eine reaktionäre Parallele zwischen Faschismus und dem Islam her, eine andere enthält einen Witz, der impliziert, dass alle Deutschen Hitler unterstützt haben. Vor alle diese beiden letzteren Clips öffnen eine gefährliche Tür für antideutsche und antiislamische Stimmungen.
In einem anderen Moment zieht Jude eine Parallele zwischen Kommunismus und Faschismus. Ein weiteres Segment zieht einen zynischen und durch und durch ahistorischen Vergleich zwischen dem Sturz der stalinistischen Bürokratie in Rumänien 1989 und der Französischen Revolution, deren einzige nennenswerte Folge laut Jude der französische Kuchen sei.
Der letzte der drei Abschnitte des Films ist der beste. Emi sitzt im Garten der Schule vor einer größtenteils feindseligen Gruppe von Eltern, die einflussreiche Schichten der rumänischen Gesellschaft repräsentieren – ein Militäroffizier, ein Priester und eine Reihe von privilegierten Vätern und Müttern aus der Mittelschicht. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit als Geschichtslehrerin an der Schule, wird aber immer wieder mit der Heuchelei und den Vorurteilen der meisten Eltern konfrontiert. Sie schockiert ihr Publikum, indem sie auswendig erotische Verse aus der Feder des in Rumänien verehrten Dichters Mihai Eminescu rezitiert.
Als Emi erzählt, dass sie am Holocaust-Gedenktag ihre Schüler über die Massaker der rumänischen Armee an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg informiert hat, ist der Offizier empört und beginnt zu poltern. Man wirft ihr vor, jüdische Propaganda zu verbreiten.
Nachdem sie zugegeben hat, ihrer Klasse die Kurzgeschichte „Salz“ des sowjetischen Schriftstellers Isaac Babel vorgelesen zu haben, in der die Schrecken des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 und des Krieges allgemein beschrieben werden, wird Emi beschuldigt, eine Bolschewikin zu sein. Über sie ergießt sich ein Schwall von virulentem Antikommunismus, sexuellem und nationalem Chauvinismus, Antisemitismus und religiöser Hysterie. Der Film endet mit drei alternativen Szenen, die es dem Zuschauer überlassen, über Emis Schicksal zu entscheiden.
In seinen Pressetexten beschreibt Radu Jude „Bad Luck Banging or Loony Porn“ als Skizze für einen populären Film und räumt ein, dass er mit der vom französischen Philosophen Georges Didi-Huberman (geb. 1953) propagierten Methode der Filmmontage gearbeitet hat. Die Montage – die Technik des Auswählens, Schneidens und Anordnens einzelner Filmabschnitte, um einen Gesamteffekt oder ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen – ist eines der wesentlichen Elemente des Filmemachens. Der sowjetische Filmemacher Sergei Eisenstein machte die Montage, etwas einseitig, zum Wesen des Kinos.
In jedem Fall erfordert ein künstlerisch und intellektuell erfolgreicher Einsatz der Filmmontage aber ein ausgearbeitetes, einheitliches Konzept und, im Falle des vorliegenden Films, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Erbe des Stalinismus. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, die Parallelen, die Jude in seinem Film zwischen Faschismus und Kommunismus anbietet, spielen sehr reaktionären Kräften und all jenen in die Hände, die nach dem Sturz des Regimes von Nicolae Ceaușescu im Dezember 1989 behaupteten, der Sozialismus sei gescheitert und es gebe keine Alternative zum Kapitalismus.
Judes neuester Berlinale-Beitrag bekräftigt, dass Wut und moralische Empörung über die obszönen Zustände in der modernen Gesellschaft nicht ausreichen.