Wie sich die Wall Street am Tod mästet

Nick Beams ist ein führendes Mitglied der Socialist Equality Party (Australien) und ein langjähriger Führer der weltweiten trotzkistischen Bewegung, mit umfangreichen Schriften zur marxistischen politischen Ökonomie. Die folgende Rede hielt er auf der Online-Kundgebung, die am 1. Mai von der World Socialist Web Site und dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale abgehalten wurde.

Rede von Nick Beams bei der Internationalen Maikundgebung 2021

Lasst mich damit beginnen, alle Teilnehmer an dieser historischen Maikundgebung zu begrüßen. Wir ringen hier mit Fragen von Leben und Tod für die internationale Arbeiterklasse.

Und das gilt mit nicht weniger Nachdruck für das Thema, das ich ansprechen werde – die sich vertiefende Krise des globalen kapitalistischen Systems, die sich in der Spekulationswut an der Wall Street ausdrückt.

Der Anstieg des Aktienmarktes auf Rekordhöhen, inmitten von Tod und Zerstörung, wurde von einigen Kommentatoren, die zweifelsohne durch den Anstieg ihrer eigenen Portfolios geblendet waren, als ein Aufschwung der US-Wirtschaft aus der Pandemie heraus gefeiert.

Tatsächlich ist es ein Ausdruck dessen, was Trotzki so treffend als Todeskampf des kapitalistischen Systems charakterisiert hat. Ein Klüngel von Oligarchen scheffelt Milliarden von Dollar, während Millionen sterben.

Wenn man die wirkliche Bedeutung eines Phänomens erfassen will, ist es immer notwendig, seine Ursprünge zu erforschen. Die unmittelbare Ursache der gegenwärtigen Wall-Street-Manie, die es so noch nie gegeben hat, liegt in den Ereignissen vom März 2020.

Dies war der Beginn der Pandemie. Als die Arbeiter die enormen Gefahren erkannten, führten sie spontane Streiks und Arbeitsniederlegungen durch, um die Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen zu fordern. Die Märkte reagierten mit Entsetzen. Es kam zu einem Einbruch der Aktienwerte, und dann nahm die Krise eine noch gefährlichere Wendung.

Mitte März letzten Jahres fror der 21 Billionen Dollar schwere Markt für US-Staatsanleihen ein, der als der tiefste und liquideste Markt der Welt und als Grundlage des globalen Finanzsystems bezeichnet wird. Das gesamte globale Finanzsystem stand innerhalb von Tagen, wenn nicht gar Stunden, vor einem totalen Zusammenbruch.

Dies war der Grund für die massiven Interventionen der US-Notenbank in Höhe von Billionen von Dollar. Der Markt stabilisierte sich, aber die Intervention ging weiter. Die Fed kauft nun Vermögenswerte in Höhe von 120 Milliarden Dollar pro Monat, mehr als 1,4 Billionen Dollar pro Jahr, während sie gleichzeitig ihren Leitzins bei Null hält. Diese Aktion, die nach Aussage der Fed noch „lange Zeit“ andauern wird, ist die Grundlage der Spekulationsmanie.

Es ist hier nicht möglich, eine vollständige Darstellung der Vorgänge zu geben. Lasst mich nur einige der neuesten Daten zitieren. In dieser Woche wurde berichtet, dass die Margin-Schulden, über die Broker Investoren finanzieren, auf 822 Milliarden Dollar gestiegen sind. Zum Vergleich: Im letzten Jahr waren es 479 Mrd. Dollar und im Vorfeld des Crashs 2008 400 Mrd. Dollar. Das ist ein Betrag, der fast vier Prozent des weltweiten BIP entspricht.

Wohin soll das führen?

Letzten Monat haben wir eine erste Antwort erhalten. Die bisher unbekannte Familien-Investmentfirma Archegos Capital brach zusammen, als Makler einen Margin Call auf ihre Kredite stellten, den sie nicht bezahlen konnte. Es wurde aufgedeckt, dass Archegos mit 50 Milliarden Dollar finanziert worden war und die Banken, die das Unternehmen unterstützt hatten, einen Verlust von zehn Milliarden Dollar hinnehmen mussten. Und Archegos war keineswegs ein großer Player.

Bei längerer Betrachtung sind die zugrunde liegenden Trends und Tendenzen, die zu der gegenwärtigen Situation geführt haben, deutlich zu erkennen. Am 19. Oktober 1987, dem größten Ein-Tages-Einbruch an der Wall Street in der Geschichte, kündigte die Fed an, die Zapfhähne für das Finanzsystem zu öffnen.

Dies war der Beginn eines neuen Zeitalters. Jedes Mal, wenn es eine Finanzkrise gab, wurde Geld bereitgestellt, um den Schlamassel aufzuräumen und die Fortsetzung der Spekulation zu finanzieren. Jede Intervention hat zwar kurzfristig für eine Rückkehr zur Stabilität gesorgt, aber nur die Voraussetzungen für die nächste Krise geschaffen, die noch schwerer ist als die letzte.

So folgten auf 1987 eine Reihe von Krisen in den 1990er Jahren, dann der Dotcom-Crash von 2000-2001, die Subprime-Krise und der Crash von 2008, gefolgt von der Krise im März 2020 und der anschließenden Spekulationsmanie. Die Fed, die wichtigste Zentralbank der Welt, und die Wall Street, der wichtigste Finanzmarkt der Welt, befinden sich in einer tödlichen Umarmung.

Es gibt unzählige individuelle Ausprägungen des Finanzwahns. Der Aufstieg von Bitcoin und anderen Kryptowährungen wie Dogecoin, der 2013 als Scherz geschaffen wurde, sind Beispiele dafür.

Das zentrale Merkmal des Spekulationsrausches – und das ist es, was auf seinen kranken Charakter hinweist – ist die vollständige Abkopplung des sogenannten Marktwerts von der zugrunde liegenden Realwirtschaft. Diese Woche gab Tesla einen Gewinn von 400 Millionen Dollar bekannt, wovon mehr als 100 Millionen Dollar aus dem Handel mit Bitcoin stammen. Tesla hat jetzt eine größere Marktkapitalisierung als Ford und GM zusammen. Aber Fords Autoverkäufe im ersten Quartal dieses Jahres waren allein in den USA mehr als doppelt so hoch wie die gesamten weltweiten Verkäufe von Tesla in einem Jahr.

Lasst mich das Thema der frenetischen Marktspekulationen auf die Aufgabe beziehen, die wir vor uns haben.

Erstens: Unsere Analyse legt dar, warum eine Lösung der Krise einen politischen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung erfordert.

Der Anstieg von Aktien und anderen Finanzanlagen stellt keine Wertsteigerung dar. Diese Vermögenswerte sind das, was Karl Marx als fiktives Kapital bezeichnet hat. Sie sind ein Anspruch auf den zukünftigen Wert, der aus der Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiterklasse zu gewinnen ist.

Deshalb haben sich die kapitalistischen herrschenden Klassen in allen Ländern geweigert, wirksame Maßnahmen wie Lockdowns mit Entschädigungen für die Betroffenen durchzuführen, weil sie den Wertfluss beeinträchtigen würden, der zur Aufrechterhaltung des Berges an fiktivem Kapital notwendig ist.

Zweitens haben wir darauf bestanden, dass der Kampf gegen die Pandemie notwendigerweise einen Kampf der Arbeiterklasse gegen die Gewerkschaftsbürokratie beinhaltet und unabhängig von den Gewerkschaften geführt werden muss. Diese Frage hängt auch mit dem Anstieg der Finanzspekulation und der engen Verbindung der Gewerkschaften damit zusammen.

In allen Ländern ist ein deutlicher Rückgang des Organisationsgrades der Gewerkschaften zu verzeichnen – das Ergebnis von jahrzehntelangem Verrat. Infolgedessen haben sich die Gewerkschaften zunehmend in die Finanzmärkte integriert, als Einnahmensquelle zur Aufrechterhaltung ihrer Apparate und der Bezahlung ihrer Funktionäre. Sie verwalten Investmentfonds, Krankenkassen, Rentenfonds, und so weiter.

Damit sind sie für ihre materielle Existenz auf den weiteren Anstieg der Märkte angewiesen. Jeder unabhängige Kampf der Arbeiterklasse erschreckt jedoch die Märkte, und deshalb versuchen die Gewerkschaftsapparate, ihn um jeden Preis zu unterdrücken.

Die verschiedenen Tendenzen der Pseudolinken behaupten, dass die Gewerkschaften nach links gedrängt werden könnten, wenn es nur genügend Druck von unten gebe. Im Gegenteil: Weil ein erhöhter Druck von unten die Stabilität des Finanzsystems bedroht, von dem die Gewerkschaften materiell abhängig sind, wird die Unterdrückung von oben umso größer.

Um sich gegen die Pandemie zu verteidigen, muss die Arbeiterklasse ihre eigenen unabhängigen Aktionskomitees aufbauen und danach streben, ihre Kämpfe global zu koordinieren. Auf diese Weise wird sie den Kampf um die politische Macht vorantreiben, der den Ausgangspunkt für den Wiederaufbau der Weltwirtschaft auf sozialistischer Grundlage darstellt.

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