Nach Waffenstillstand in Gaza: Israelische Sicherheitskräfte stürmen al-Aqsa-Moschee

Nur wenige Stunden nachdem am Freitag ein brüchiger Waffenstillstand zwischen Israel und den palästinensischen Gruppierungen Hamas und Islamischer Dschihad in Kraft trat, gingen israelische Sicherheitskräfte mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen gegen Gläubige auf dem Gelände der al-Aqsa-Moschee vor. Mindestens 20 Palästinenser wurden verwundet, zwei davon mussten ins Krankenhaus.

Passanten vor einem Trümmerhaufen neben einem Gebäude in Gaza City, das vor Inkrafttreten des Waffenstillstands im Verlauf des elftägigen Kriegs zwischen der Hamas-Führung und Israel zerstört wurde. Aufgenommen am 21. Mai 2021 (AP Photo/John Minchillo)

Zehntausende waren zum Freitagsgebet gekommen, um den Waffenstillstand zu feiern. Sie trugen palästinensische Flaggen, verteilten Süßigkeiten und riefen Parolen wie „Gott ist der Größte“ und „Grüße an Ezzedin al-Qassam“. Letzteres war eine Anspielung auf die Qassam-Brigaden, den militärischen Arm der Hamas, der von Mohammed Deif angeführt wird. Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) hatten bereits mehrfach versucht, Deif zu ermorden. Auf dem Gelände der Moschee tauchten Polizisten auf, um die Flaggen zu beschlagnahmen und die Menge auseinanderzutreiben, wodurch es zu wütenden Handgreiflichkeiten kam. Der Distriktkommandant von Jerusalem forderte daraufhin massive Verstärkung an, um „die Demonstranten unter Kontrolle zu bekommen“.

In Scheich Dscharrah löste die Polizei eine friedliche Demonstration von Hunderten Palästinensern und jüdischen Israelis gewaltsam auf, weil einer der Teilnehmer eine palästinensische Flagge schwenkte. Der Polizeichef verstärkte außerdem die Polizeipräsenz in Silwan, Isawiya und Scheich Dscharrah und ließ Barrikaden um die Stadtviertel in Ost-Jerusalem errichten.

Die IDF bereiteten sich auf Unruhen im Westjordanland vor, u.a. in Hebron, wo Hamas-Anhänger den „Sieg des Widerstands“ feiern wollten. Wie die IDF ankündigten, soll die Grenzschutzpolizei, die ins israelische Lod geschickt wurde, um Proteste der Palästinenser gegen bewaffnete zionistische Milizen zu unterdrücken, ins Westjordanland zurückbeordert werden.

Auch im zentral-israelischen Umm al-Fahm wird mit Unruhen gerechnet. Nachdem dort am Mittwoch der 17-jährige Mohammed Kiwan durch einen Kopfschuss getötet wurde, kam es zu Protesten, die von der Polizei mit Tränengas unterdrückt wurden. Kiwan wurde am Donnerstag beerdigt, am gleichen Tag wurde die Stadt durch einen Generalstreik lahmgelegt.

Israel hat seine Luftangriffe fortgesetzt, bis der von Ägypten vermittelte Waffenstillstand in Kraft trat, der den einseitigen Krieg vorläufig beendet hat. In dem elftägigen Konflikt wurden mindestens 243 Palästinenser getötet, darunter 65 Kinder, weitere 1.900 wurden verwundet. Im Gegensatz dazu kamen in Israel 12 Menschen ums Leben.

Das Ausmaß der Zerstörung und des Leides, das Israel in diesen elf Tagen verursacht hat, ist wirklich erschütternd. Hamas‘ Informationsbeauftragter Salaameh Maaruf schätzt den Sachschaden auf etwa 250 Millionen US-Dollar, die sich folgendermaßen aufteilen:

  • Schäden an Wohnhäusern und Büros von NGOs in Höhe von 92 Millionen Dollar
  • Schäden an der Wirtschaft und Industrie von Gaza in Höhe von 40 Millionen Dollar

* Schäden an Straßen, Wasser- und Abwasserinfrastruktur in Höhe von 27 Millionen Dollar

* Schäden an Regierungsgebäuden im Wert von 23 Millionen Dollar

* Schäden am Stromnetz, dessen Wiederaufbau 22 Millionen Dollar kosten wird

* Schäden an der Landwirtschaft in Höhe von 24 Millionen Dollar

Etwa 800.000 Menschen haben keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser. Zirka 10.000 Meter unterirdische Abwasser- und Wasserleitungen sowie Abwassernetzwerke, Tanklaster für Abwasser, Brunnen und eine Abwasserpumpstation wurden beschädigt. Zudem wurden mindestens 50 Schulen schwer beschädigt.

US-Präsident Joe Biden erklärte absurderweise, der Waffenstillstand zwischen Israel und Gaza sei eine echte Möglichkeit, Fortschritte zu erzielen. Er ignorierte die mörderischen Angriffe Israels auf den Gazastreifen, darunter die Kriege von 2008–09, 2012 und 2014 sowie die wöchentlichen Angriffe auf den „Great March of Return“ in den Jahren 2018–19 sowie zahllose kleinere Angriffe auf die belagerte Enklave, die von Washington und den arabischen Regimes abgesegnet wurden.

Biden signalisierte, dass er Israel weiterhin gegen die Hamas unterstützen werde und erklärte, „humanitäre Unterstützung“ für den Wiederaufbau von Gaza werde mit der Palästinenserbehörde koordiniert werden, die vom Rivalen der Hamas, Präsident Mahmud Abbas im Westjordanland, geleitet wird. Er soll außerdem so organisiert werden, dass „es der Hamas nicht möglich sein wird, ihr Waffenarsenal einfach wieder aufzustocken“. Er versprach Netanjahu außerdem, das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome aufzustocken, das Israel vor den Raketen der Hamas geschützt hatte.

In Gaza und dem besetzten Westjordanland brach großer Jubel über das Ende der Kampfhandlungen aus. Hamas-Führer Ismail Haniyeh bezeichnete ihn als „Sieg“ und behauptete, er werde große Auswirkungen auf die Beziehung der Region zu Israel haben: „Wir haben das Projekt der ‚Koexistenz‘ und der ‚Normalisierung‘ mit Israel zerstört.“ Er erklärte, die Unterstützung für die Hamas in der Region werde zunehmen und der Kampf gegen Israel werde weitergehen, bis die al-Aqsa-Moschee in Ost-Jerusalem „befreit“ ist.

Der Leiter der Außenpolitikabteilung der Hamas, Osama Hamdan, erklärte, Israel habe der Hamas Zusicherungen hinsichtlich Scheich Dscharrah, wo mehreren Familien die Zwangsräumung drohte, und der al-Aqsa-Moschee in Ost-Jerusalem gemacht. Das Vorgehen der Polizei auf dem Gelände der al-Aqsa-Moschee hatte den Krieg ausgelöst.

Israelische Politiker haben der Hamas-Führung jedoch keinen Grund für derartigen Optimismus gegeben. Netanjahu drohte mit „einer neuen Stufe der Gewalt“, falls die Hamas den Waffenstillstand brechen sollte und erklärte: „Wenn die Hamas glaubt, wir werden einen Nieselregen von Raketen tolerieren, dann irrt sie sich.“ Er behauptete, das Vorgehen der IDF habe der Hamas dramatische Rückschläge beschert, u.a. seien 100 Kilometer Tunnel und militärische Infrastruktur für Angriffe von Land und See zerstört und 20 hochrangige Hamas-Mitglieder getötet worden.

Netanjahu ist sich bewusst, dass er bereits früher ähnliche Behauptungen aufgestellt hat, ohne einem Ende des Konflikts näher zu kommen. Deshalb erklärte er, Israel habe „die Gleichung geändert... die Öffentlichkeit und die Hamas wissen nicht alles... wir werden nach und nach das vollständige Ausmaß unserer Erfolge bekanntgeben.“

Doch laut Ha'aretz waren Vertreter des Geheimdienstes lange nicht so überzeugt vom „Erfolg“ der Operation. Sie verwiesen darauf, dass Israels Angriffe weniger vernichtend waren als ursprünglich angenommen und nur 40 Prozent des Arsenals und der Raketenwerfer der Hamas zerstört wurden, sodass sie noch große Bestände an Raketen besitzt. Sie kritisierten die „schlechten“ Geheimdienstinformationen und das Unvermögen der IDF, einen Großteil der Tunnels der Hamas zu zerstören oder Hamas-Führer Yahya Sinwar und den militärischen Oberbefehlshaber der Hamas, Mohammed Deif, durch eine Bodenoffensive zu ermorden.

Verteidigungsminister Benny Gantz, der in den letzten Tagen mit den Führern der arabischen Regimes gesprochen hatte, drohte der Hamas, dass die Zahlung von Hilfsgeldern für den Wiederaufbau von Gaza von Fortschritten in Bezug auf andere Bedingungen Israels abhängen. Er warnte, ohne weitere politische und diplomatische Fortschritte gegen die Hamas werde die Operation „Wächter der Mauern“ „ein weiterer Schritt auf dem Weg zur nächsten Militäroperation“ sein.

Der ursprüngliche Anlass für Israels verbrecherische Luftangriffe gegen die weitgehend wehrlose Bevölkerung waren Proteste in den besetzten Palästinensergebieten und Israel wegen der brutalen Razzien in der al-Aqsa-Moschee während des Ramadans und die drohende Vertreibung von palästinensischen Familien aus Scheich Dscharrah und Silwan zugunsten jüdischer Siedler. Die Familien haben vor dem Obersten Gerichtshof geklagt, der am kommenden Mittwoch über den Fall in Silwan entscheiden wird. Der Fall Scheich Dscharrah wurde auf den Jerusalem-Tag in einigen Wochen verschoben, um die Unruhen zu besänftigen. Vermutlich werden die Anhörungen in diesen Verfahren die Spannungen zwischen den Palästinensern und den faschistischen Siedlergruppen weiter verschärfen. Die Möglichkeit eines Bürgerkriegs ist in Israel mittlerweile eine sehr reale Gefahr.

Gleichzeitig hat der Krieg auch die schwere politische Krise verschärft, die sich in der Tatsache äußert, dass in Israel nach vier Wahlen in zwei Jahren noch immer keine stabile Regierung gebildet werden konnte. Ein wichtiger Grund für Netanjahus Provokationen gegenüber den Palästinensern war seine Entschlossenheit, angesichts seiner aktuellen Verfahren wegen Korruption, Bestechung und Untreue die Bildung einer Regierungskoalition unter Oppositionsführer Yair Lapid zu verhindern. Da Lapids Erfolg von der Unterstützung durch Mansur Abbas' Gemeinsame Arabische Liste abhängt, wurde einer von Lapids potenziellen Verbündeten, Naftali Bennett und die rechte Partei Yamina, wieder in Netanjahus Lager zurückgedrängt. Dennoch ist Netanjahu einer Regierungsbildung keinen Schritt nähergekommen, sodass möglicherweise eine fünfte Wahl stattfinden wird. Diese Situation bildet auch den Hintergrund für Netanjahus zunehmende Aggressivität gegenüber dem Iran. Am Mittwoch warf er Teheran vor, Israel mit einer bewaffneten Drohne aus dem Irak oder Syrien über Jordanien hinweg angegriffen zu haben.

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