Obwohl die Zahl der Corona-Neuinfektionen in den USA während der vergangenen Woche in die Höhe geschossen ist und sich die gefährliche neue Delta-Variante durchsetzt, schafft die Regierung alle noch verbliebenen Maßnahmen gegen die Ausbreitung ab.
In den USA, wo die Delta-Variante mittlerweile in allen 50 Bundesstaaten entdeckt wurde, ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen im Vergleich zur Vorwoche um 14,8 Prozent gestiegen.
In Europa ist die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zur Vorwoche um 29 Prozent gestiegen.
Der Regionaldirektor der WHO für Europa, Hans Kluge, warnte: „Wenn wir nicht diszipliniert bleiben, wird es eine neue Welle in der WHO-Region Europa geben.“
Die Delta-Variante des Coronavirus (Wissenschaftlicher Name: B.1.617.2), die im Mai in Indien gewütet hat, breitet sich in mehr als 85 Ländern rapide aus. Das hat die Pläne vieler Länder durchkreuzt, die vor Beginn der Touristensaison im Sommer ihre Wirtschaft wieder öffnen wollten. Nur in Südamerika ist die Gamma-Variante P.1 weiterhin vorherrschend und verbreitet sich auf dem ganzen Kontinent.
Laut der Worldometer-Website gab es bisher weltweit mehr als 183 Millionen Covid-19-Fälle. Die Zahl der Toten nähert sich rapide der Marke von vier Millionen. Allerdings ist bekannt, dass diese Zahlen zu niedrig geschätzt sind. Laut Modellstudien könnte die tatsächliche Zahl der Todesfälle bis zu dreimal höher sein.
Nachdem die Zahl der täglichen Neuinfektionen ab Anfang April wochenlang zurückgegangen war, steigt sie jetzt wieder. Am Donnerstag lag der Sieben-Tages-Durchschnitt bei 378.000. Der gleitende Durchschnitt der Todeszahlen liegt mit über 8.000 pro Tag weiterhin hoch. Die Zahl der Todesfälle geht zwar zurück – sie hinkt dem Trend bei den Neuinfektionen hinterher –, wird aber vermutlich innerhalb der nächsten Woche oder in zwei Wochen folgen.
In den USA stieg die Zahl der Neuinfektionen in den südlichen und westlichen Bundesstaaten am stärksten an; dort liegen die Impfquoten laut dem Center for Infectious Disease Research and Policy unter dem landesweiten Durchschnitt.
Dr. Anthony Fauci erklärte diese Woche: „Ich bin sehr besorgt über die starken Unterschiede zwischen Orten mit niedrigen und hohen Impfquoten. Wenn eine so niedrige Impfquote von einer Variante überlagert wird, die sich mit einem derart hohen Wirkungsgrad ausbreitet, dann wird man in Regionen mit niedriger Impfquote – Bundesstaaten, Städte oder Länder – solche individuellen Phänomene sehen. Es ist fast, als gäbe es zwei Amerika.“
Die höchsten Fallraten gab es in Nevada und Arkansas, wo die Zahl der Neuinfektionen innerhalb der letzten sieben Tage um 55 Prozent gestiegen ist. In Missouri und Wyoming stiegen sie innerhalb einer Woche um fast 20 Prozent. Insgesamt vermeldeten die USA am Donnerstag mehr als 14.000 neue Fälle und 249 Tote. Die Gesamtzahl der Infizierten und Toten während der Pandemie liegt bei über 34,5 Millionen bzw. 620.000.
Durch den amerikanischen Unabhängigkeitstag am Wochenende wird sich die Lage noch verschlimmern. Der Feiertag am Sonntag wird vermutlich den größten Reiseverkehr seit Beginn der Pandemie auslösen. Etwa 48 Millionen Menschen wollen sich auf den Weg machen, hauptsächlich mit dem Auto. Außerdem rechnet die American Automobile Association mit 3,5 Millionen Fluggästen, wodurch die Fluggesellschaften „wieder auf 90 Prozent des Flugverkehrs vor der Pandemie kommen werden“.
Eric Topol, Professor für Molekularmedizin am Scripps Research Institute, erklärte zur Delta-Variante: „Sie ist die am leichtesten übertragbare und ansteckendste Version des Virus, die wir bisher erlebt haben, das ist sicher eine Superspreader-Variante, wie sie im Buch steht.“ Aktuelle Studien deuten zudem darauf hin, dass die Delta-Variante einen schwereren Krankheitsverlauf auslösen kann. Laut einer aktuellen Studie, die am 14. Juni in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, liegen die Hospitalisierungsraten bei Patienten mit der Delta-Variante etwa 85 Prozent höher als bei Infizierten mit der Alpha-Variante.
Während die Seuchenschutzbehörde (CDC) behauptet, Geimpfte müssten keine Masken mehr tragen, haben die Gesundheitsbehörden in Los Angeles jeden – unabhängig von seinem Impfstatus – dazu aufgerufen, wegen der Gefahr durch den hoch ansteckenden Virenstamm in geschlossenen Räumen Mund und Nase weiterhin zu bedecken. Auch die Weltgesundheitsorganisation empfahl während der letzten Pressekonferenz, dass alle, auch vollständig Geimpfte, in geschlossenen Räumen Masken tragen sollten.
Die Impfkampagne in den USA ist ins Stocken geraten und verharrt bei knapp einer Million Impfungen pro Tag. Nur 46,7 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig geimpft, 54,4 Prozent haben zumindest eine Dosis erhalten. Laut aktuellen Prognosen werden vermutlich am 2. August mindestens 70 Prozent aller Erwachsenen in den USA mindestens eine Impfstoffdosis erhalten haben, was deutlich hinter den Schätzungen des Weißen Hauses zurückliegt.
In Russland verschlimmert sich die Lage täglich. Die Zahl der Todesopfer steigt stärker an als während des Höhepunkts im letzten Winter. Am Donnerstag starben 672 Menschen an der Infektion, 124 davon in Moskau und 110 in St. Petersburg. Dennoch durften Tausende von Fans zum Viertelfinalspiel zwischen Spanien und der Schweiz, das wie geplant stattfand. Gleichzeitig bestätigte der Moskauer Bürgermeister, Sergei Sobjanin, dass täglich fast 2.000 Menschen in die Krankenhäuser eingeliefert werden.
In Großbritannien haben 65 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfstoffdosis erhalten. Dennoch hat sich die Zahl der Neuinfektionen im Vergleich zur Vorwoche um 67 Prozent erhöht. Die Delta-Variante ist mittlerweile für 97 Prozent aller Fälle verantwortlich. Am Donnerstag wurden fast 28.000 Neuinfektionen gemeldet, am 1. Juni waren es nur 3.165. Die epidemiologischen Kurven steigen wieder exponentiell an.
Der Regionaldirektor der WHO für Europa, Hans Kluge, machte die Lockerung der Einschränkungen und den zunehmenden Fernverkehr in der beginnenden Reisezeit für diese Trendwende verantwortlich. Zudem hat die Fußball-Europameisterschaft große Scharen von Zuschauern aus zahlreichen Ländern zusammengebracht, die sich an überfüllten Orten miteinander vermischen. Restaurants, Pubs und Kneipen sind voll mit Gästen und die öffentlichen Verkehrsmittel mit Fans und Zuschauern. Wie Reuters diese Woche berichtete, sind aus Schottland 2.000 mit Covid-19 infizierte Fans nach London zum Spiel Schottland gegen England gereist.
Kluge erklärte „Ich bin nicht hier, um irgendeinem EM-Fan die Stimmung zu vermiesen oder den Urlaub madig zu machen. Aber bevor wir unseren Spielern zuschauen und bevor wir die Koffer packen und einen wohlverdienten Urlaub nahe der Heimat oder weit weg machen, möchte ich ein paar Botschaften loswerden. Wenn Sie reisen oder sich versammeln, überlegen Sie sich die Risiken und tun Sie das in Sicherheit. Behalten sie alle lebensrettenden Reflexe wie Masken und Selbstschutz bei, vor allem in Menschenmengen und geschlossenen Räumen.“ Er warnte, Delta werde im August die vorherrschende Variante werden und erklärte, die Impfquoten würden noch zu langsam steigen.
Der deutsche Innenminister Horst Seehofer äußerte sich noch schärfer an die Adresse des europäischen Fußballverbandes UEFA. Er bezeichnete es als „absolut verantwortungslos“, dass am Dienstag 40.000 Fans das Spiel zwischen England und Deutschland im Wembley-Stadion verfolgen durften. Er äußerte den Verdacht, es ginge wieder um den Kommerz, und dieser dürfe „nicht den Infektionsschutz für die Bevölkerung überstrahlen“.
Dr. Eric Feigl-Ding, der an führender Stelle die Öffentlichkeit und die Wissenschaft über den Sars-CoV-2-Virus aufgeklärt hat, twitterte: „Wer daran zweifelt, dass eine Welle der Delta-Variante bevorsteht, braucht nur nach Israel und Großbritannien zu schauen, deren Impfquoten zu den weltweit höchsten gehören.“