Perspektive

Sechs Monate Biden-Regierung: Eine Bilanz

Vor sechs Monaten wurde Joseph Biden inmitten einer beispiellosen Krise des US-Kapitalismus und der gesamten sozialen und politischen Ordnung als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt.

Präsident Joe Biden während seiner Rede im Weißen Haus über Wirtschaftspolitik und seine Infrastruktur-Agenda. Washington D.C., 19. Juli 2021 (AP Photo/Andrew Harnik)

Sein Vorgänger Donald Trump nahm an der Zeremonie nicht teil und signalisierte damit seine Weigerung, das Ergebnis der Wahl von 2020 zu akzeptieren. Nur zwei Wochen zuvor hatten Trumps Anhänger am 6. Januar das Kapitol gestürmt und die Beglaubigung der Wahlmännerstimmen der Bundesstaaten durch den Kongress vorübergehend gestoppt. Ziel des Putschversuchs war es, die Machtübergabe zu verhindern und eine Diktatur unter Trumps Führung zu errichten. In den Worten des ehemaligen Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, Mark Milley, handelte es sich um Trumps „Reichstagsmoment“.

Als Biden die Regierungsgeschäfte übernahm, waren 400.000 Menschen der Covid-19-Pandemie zum Opfer gefallen, während Millionen arbeitslos waren. Nur wenige Monate zuvor hatten in jeder Stadt und jedem Dorf der USA Proteste gegen Polizeigewalt stattgefunden.

Biden würdigte den Halbjahrestag seiner Regierung mit kurzen Bemerkungen, die die amerikanische Gesellschaft in leuchtenden Farben zeichneten. „All der düsteren Untergangsprophezeiungen zum Trotz ist Folgendes der Stand der Dinge“, sagte er: „Rekordwachstum, eine Rekordzahl neuer Arbeitsplätze, Arbeiter bekommen hart verdiente Pausen.“ Er fügte hinzu: „Einfach ausgedrückt: Unsere Wirtschaft ist in Bewegung, und wir treiben Covid-19 vor uns her.“

Der US-Präsident fasste seine Prognose mit den Worten zusammen: „Wie sich herausstellt, ist der Kapitalismus höchst lebendig und wohlauf.“ Die Wahrheit ist, dass die Politik der Biden-Administration völlig dabei versagt hat, die soziale Krise in Amerika zu lösen – und das kann sie auch nicht, weil diese auf dem Rahmen des amerikanischen Kapitalismus basiert.

Weit davon entfernt, „vertrieben“ worden zu sein, erlebt die Pandemie ein neues Wiederaufleben. Seit Bidens Amtsantritt sind weitere 225.000 Menschen an der Pandemie gestorben. Mit dem neuen Anstieg, der die Ausbreitung der Delta-Variante begleitet, deutet alles darauf hin, dass die Zahl der Todesopfer unter Biden bis zum Winter diejenige unter Trump übertreffen wird.

Die Politik der Biden-Administration wird von den Interessen der Wall Street und der Superreichen bestimmt. Aus diesem Grund verfolgt Biden – trotz gelegentlicher Kritik an Trumps menschenverachtender und wissenschaftsfeindlichen Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie – dieselbe Politik zugunsten der Unternehmensprofite, indem er Arbeiter und Kinder ungeachtet der Gefahren für ihr Leben und ihre Gesundheit Arbeiter so schnell wie möglich zurück zur Arbeit bzw. in die Schule zwang.

Trumps Antwort auf die wirtschaftliche Depression, die mit dem Ausbruch der Pandemie einherging, bestand darin, Billionen in die Stabilisierung der Banken, Hedgefonds und Unternehmen zu pumpen – mit Gesetzen wie dem CARES Act, die von beiden Parteien unterstützt wurden. Biden verfolgt im Wesentlichen die gleiche Politik, wenn er auch von den Republikanern weniger Unterstützung erhält, als die Demokraten Trump zuteilwerden ließen. An der ökonomischen Front rühmt sich Biden des Erfolgs, obwohl heute sieben Millionen Arbeiter weniger Arbeit haben als vor Beginn der Pandemie und Millionen von Lohnkürzungen, Armut, Zwangsräumungen und Zwangsversteigerungen bedroht sind.

Nur in der Außenpolitik gibt es eine signifikante Verschiebung von Trump zu Biden, und dies nur in der Taktik, nicht in der Strategie. Biden hat dem Gebrauch der Nato und der „Quad“ – einer de-facto-Allianz mit Japan, Australien und Indien – durch die USA mehr Gewicht verliehen. Bedeutende Teile des militärisch-geheimdienstlichen Apparats unterstützten Biden gegen Trump, weil sie eine effektivere Mobilisierung der US-amerikanischen Machtmittel gegen Russland und China anstrebten.

Wenn Bidens Aussage, dass „der Kapitalismus höchst lebendig und wohlauf“ sei, wahr wäre, so stellt sich die Frage: Warum ist die amerikanische Demokratie einer wachsenden faschistischen Bedrohung ausgesetzt?

In den sechs Monaten seit Bidens Amtsantritt hat die Republikanische Partei ihre unnachgiebige Opposition gegen jede ernsthafte Untersuchung der Ereignisse vom 6. Januar aufrechterhalten. Halbherzige Vorschläge der Demokraten – zunächst nach einer „unabhängigen“ parteiübergreifenden Untersuchungskommission, dann für eine parteiübergreifende Untersuchung des Angriffs durch den Kongress – wurden rundheraus blockiert oder endlos verzögert.

In der Zwischenzeit tauchen immer mehr Beweise für die zentrale Rolle auf, die Trump und seine Verbündeten im Kongress bei dem Versuch gespielt haben, einen politischen Staatsstreich durchzuführen, um das Wahlergebnis zu kippen und sich selbst im Amt zu halten. Doch weder Trump noch seine Komplizen wurden auch nur befragt, geschweige denn vor Gericht gestellt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.

Stattdessen hat Trump seine Agitation gegen die Wahl bekräftigt und versucht, die Republikanische Partei in eine offen faschistische Bewegung zu verwandeln, die seiner persönlichen Autorität untergeordnet ist. Seine Unterstützer in der Republikanischen Partei benutzen ihre Kontrolle über die Gesetzgebung der Bundesstaaten, um beispiellose und weitreichende Angriffe auf das Wahlrecht zu erlassen.

In einer Rede in Philadelphia erkannte Biden letzte Woche die Realität der Krise des amerikanischen Kapitalismus selbst teilweise an, als er erklärte: „Wir stehen vor der bedeutendsten Prüfung unserer Demokratie seit dem Bürgerkrieg.“ Doch er bot keinen Weg vorwärts, außer einem Appell an „meine republikanischen Freunde im Kongress, in den Bundesstaaten und in den Städten und Bezirken zu appellieren“, gegen diesen Angriff „aufzustehen“ – obwohl sie eben jene sind, die ihn durchführen.

In dem Bemühen, Illusionen in die Demokratische Partei aufrechtzuerhalten, stellen die Vertreter ihres „linken“ Flügels Bidens Politik in extravaganten Begriffen dar. Letzte Woche behauptete Senator Bernie Sanders, Bidens „Versöhnungs“-Gesetzentwurf über die Sozialausgaben sei „das folgenreichste Gesetz für arbeitende Familien seit den 1930er Jahren“. Andere, wie Bhaskar Sunkara von der Zeitschrift Jacobin, die den Democratic Socialists of America nahesteht, drücken ihre Enttäuschung über das bisher Erreichte aus, drücken jedoch die Hoffnung aus, dass „Biden die Bereitschaft gezeigt hat, groß zu denken“, und dass zusätzlicher Druck auf die Demokraten im Kongress ausgeübt werden sollte.

Biden seinerseits nutzt jede mögliche Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass er nicht die Absicht hat, irgendwelche Maßnahmen umzusetzen, die die Interessen der Finanzoligarchie in Frage stellen, und erklärte am vergangenen Wochenende: „Der Kommunismus ist ein gescheitertes System, ein universell gescheitertes System. Ich sehe den Sozialismus nicht als einen sehr nützlichen Ersatz.“

Die Wahrheit ist, dass die Biden-Administration sich auf die Wall Street und das Militär stützt und durch den Gebrauch von Identitätspolitik Teile der oberen Mittelklasse hinter sich mobilisiert. Wohl wissend um die explosiven sozialen Verhältnisse, die sich in Amerika entwickeln, unterstützt die Regierung außerdem die Gewerkschafts-Kampagne bei Amazon, sowie das PRO-Gesetz. Dieses soll die Installation von Gewerkschaften an Arbeitsplätzen erleichtern, an denen Arbeiter sonst nur schwer davon zu überzeugen wären, Beiträge für das Privileg zu zahlen, dass ihre Löhne und Leistungen gekürzt werden.

Es ist bezeichnend, dass der angeblich „arbeiterfreundliche“ Präsident völlig schweigt, sobald Arbeiter echte Kämpfe gegen Unternehmen führen, wie die Streiks der Autoarbeiter gegen Volvo Trucks in Dublin (Virginia). Biden steht auf der Seite der Gewerkschaften – nicht der Arbeiter –, weil er die Gewerkschaften richtigerweise als Instrument der US-amerikanischen herrschenden Klasse ansieht, um die Arbeiterklasse zu kontrollieren.

Arbeiter müssen die Lehren ziehen, die aus den bisherigen sechs Monaten der Biden-Regierung folgen. Keines der Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist – von der katastrophalen Reaktion auf die Pandemie über das beispiellose Ausmaß der sozialen Ungleichheit bis hin zur Gefahr eines imperialistischen Weltkriegs und einer faschistischen Diktatur – kann angegangen werden, ohne den Würgegriff der Finanzoligarchie über jeden Aspekt der Gesellschaft zu brechen.

Das bedeutet, mit der Demokratischen und der Republikanischen Partei zu brechen und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms eine neue politische Massenpartei der arbeitenden Bevölkerung aufzubauen. Alle, die danach streben, die Gesellschaft so umzugestalten, dass sie den menschlichen Bedürfnissen und nicht den Forderungen der Wall Street gerecht wird, sollten die Entscheidung treffen, der Socialist Equality Party und ihren internationalen Schwesterparteien noch heute beizutreten.

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