Perspektive

Britische Regierung bezeichnet 50.000 Corona-Tote pro Jahr als „akzeptabel“

Laut der britischen Zeitung i hat Premierminister Boris Johnson eine „Kosten-Nutzen-Analyse“ zur Corona-Pandemie durchführen lassen. Es sollte festgestellt werden, ob weitere Lockdowns zur „Rettung von Menschenleben“ im Vergleich zu den „Auswirkungen von Todesfällen auf die britische Wirtschaft“ gerechtfertigt sind.

Zwei Regierungsberater sagten gegenüber i, dass bei einer Diskussion hinter verschlossenen Türen etwa 1.000 Todesfälle pro Woche als „akzeptables Maß an Covid-19-Todesfällen“ festgelegt wurden.

Der britische Premierminister Boris Johnson während einer Lagebesprechung zur Corona-Pandemie, 5. April 2021 (Stefan Rousseau/Pool via AP)

Einem der Berater zufolge, hat Johnson insgeheim akzeptiert, dass im kommenden Jahr mindestens 30.000 weitere Menschen in Großbritannien an Covid-19 sterben werden. Er würde „nur dann weitere Einschränkungen [zum Coronaschutz] in Erwägung ziehen, wenn die Zahl der Todesfälle über 50.000 zu steigen droht“.

Johnson, der das soziale Gewissen eines Heinrich Himmler hat, nannte 30.000 Pfund (ca. 35.000 Euro) eine akzeptable Summe für die Rettung eines Covid-Patienten. Diese vorgeschlagene finanzielle Obergrenze für die Behandlung eines Patienten wurde dann mit Berechnungen verbunden, „wieviel jeder Todesfall die britische Wirtschaft kostet“.

Laut den Beratern, die von der Zeitung i zitiert werden, „zeigt die Analyse, dass die entstehenden Kosten, um die Zahl der jährlichen Todesfälle unter 50.000 zu halten, die Kosten übertreffen, die für die britische Wirtschaft anfallen, wenn die Todesfälle über dieses Niveau steigen“. Umgerechnet käme man auf „137 Covid-Tote am Tag bzw. knapp 1.000 pro Woche“.

Professor Graham Medley, Mitglied der Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) und Vorsitzender der von der Regierung geschaffenen Gruppe Spi-m, die sich mit der Entwicklung des Pandemiegeschehens befasst, sagte gegenüber i: „Maßnahmen, wie zum Beispiel die Impfung von Kindern gegen Meningitis oder die Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Straßen, verringern zwar Tod und Krankheit. Gleichzeitig kosten sie aber auch Geld und schränken Freiheiten ein.“

Weiter sagten die Berater gegenüber der Zeitung, „es wird keine sofortige Reaktion geben“. Nur eine „anhaltende Todesrate von etwa 1.000 Menschen pro Woche über zwei oder drei Wochen“ werde dazu führen, „über die Wiedereinführung von Corona-Beschränkungen zu diskutieren“. Es werde nicht einmal „Diskussionen“ über einen erneuten Lockdown geben. Die genannten Obergrenzen, die eine erneute Prüfung zur Folge haben sollten, wurden also nur festgelegt, um den sogenannten „Tag der Freiheit“ zu rechtfertigen. Dieser wurde am 19. Juli ausgerufen und beendete alle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Es war gar nicht beabsichtigt, dass ein neuer Lockdown tatsächlich geprüft wird.

Die beiden Berater, die die Zeitung i zitiert, zeigten Verständnis für Johnsons vermeintliches Dilemma: „Leider muss ein Premierminister die Kosten zur Rettung von Menschenleben mit den Auswirkungen auf die Wirtschaft abwägen. Darüber will niemand sprechen, aber so läuft es eben.“

Johnson hatte schon früher klar gemacht, „wie es läuft“. Sein ehemaliger Berater Dominic Cummings hatte aufgedeckt, dass Johnson vergangenen Oktober WhatsApp-Nachrichten an seine Berater geschickt hatte, in denen er über Covid-Todesfälle sagte: „Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt für Männer bei 82–81 Jahren, für Frauen bei 85 Jahren… Es gibt maximal 3 Millionen Menschen in diesem Land, die über 80 Jahre alt sind. Ein landesweiter Lockdown kommt also nicht in Frage.“

Seit diesen kriminellen Kalkulationen hat sich die Pandemie-Lage weiter zugespitzt. Basierend auf den Daten der vergangenen sieben Tage bis zum Freitag, hat die Zahl der Corona-Todesfälle in Großbritannien bereits die Marke von 800 pro Woche bzw. 110 pro Tag erreicht. An drei dieser Tage wurden mehr als 137 Todesopfer gezählt. Bereits in dieser Woche ist damit zu rechnen, dass mehr als 1.000 Menschen innerhalb von sieben Tagen sterben – dies entspräche mehr als 50.000 Todesopfern pro Jahr.

Innerhalb von nur einem Monat werden die Voraussagen, dass jährlich in etwa 50.000 Menschen Covid-19 zum Opfer fallen, äußerst optimistisch wirken.

In dieser Woche werden alle Grund- und weiterführenden Schulen in England und Wales wieder geöffnet – ein gigantisches Superspreader-Event. Seitdem am 16. August die Schulen in Schottland wieder geöffnet wurden, ist die Zahl der Infizierten von 1.567 pro Woche auf 6.835 gestiegen. Dies entspricht einem Anstieg von 300 Prozent. Allein vorletzte Woche betrug der Anstieg rund 114 Prozent.

Am Freitag warnten die Experten von SAGE, die Minister müssten mit einer enormen Zunahme von Corona-Infektionen rechnen, wenn alle Schüler „bis Ende September 2021“ wieder in die Schulen zurückkehrten.

Als Reaktion auf die Aussagen der zwei Berater, die mit der Zeitung i sprachen, heißt es seitens Regierung: „Es wurde niemals eine bestimmte Höhe von akzeptablen Corona-Todesfällen festgelegt.“ Damit will die Regierung jedoch nicht die Zahl von 50.000 Todesfällen dementieren. Vielmehr soll klargestellt werden, dass es keine Änderung der mörderischen Politik der britischen Regierung geben wird, die das Virus weiter in der Bevölkerung wüten lassen will.

Die Kosten-Nutzen-Rechnung der Johnson-Regierung ist lediglich eine abgewandelte Variante desselben Mantras, das der ehemalige US-Präsident Donald Trump propagiert hat: „Die Heilung darf nicht schlimmer sein als die Krankheit.“ Die Diskussion über eine „Kosten-Nutzen-Analyse“ in einer Pandemie bedeutet, dass die Arbeiter mit ihrer Gesundheit oder ihrem Leben dafür bezahlen sollen, dass die Profite der Kapitalisten weiter sprudeln.

Als sich Johnson Ende letzten Jahres gezwungen sah, einem zweiten Lockdown zuzustimmen, brachte er in schonungsloser Klarheit die Linie der herrschenden Klasse in Großbritannien und weltweit auf den Punkt: „Keine verdammten Lockdowns mehr, sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen!“

Dieser katastrophalen Entwicklung kann nur durch ein unabhängiges politisches Eingreifen der Arbeiterklasse ein Ende gesetzt werden.

In Großbritannien hat die Corona-Pandemie über 155.000 Menschenleben gefordert, weltweit sind es offiziell mehr als 4,5 Millionen. Tatsächlich dürfte die Zahl bei mehr als 10 Millionen liegen. Diese Katastrophe wäre vermeidbar gewesen. Umfassende Lockdowns, die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendigen Betrieben sowie eine umfassende Kontaktverfolgung und adäquate Schutzausrüstung – all das hätte das Virus ausrotten können, noch bevor es sich weltweit ausbreitete und immer neue Mutanten auftauchten, die die Wirksamkeit von Impfstoffen einschränken.

Mit Ausnahme von einigen halbherzigen Lockdowns wurde dem Virus stattdessen freie Bahn gelassen, weil die herrschende Klasse Profite über die öffentliche Gesundheit stellte.

Ob Boris Johnson oder der Labour-Vorsitzende Sir Keir Starmer, Donald Trump, Joe Biden oder ihre Amtskollegen weltweit – über alle Parteigrenzen hinweg sind sich die politischen Lakaien der Banken und Konzerne einig, wenn es um eine Offensive gegen die Interessen der Arbeiter und ihrer Familien geht.

Am 23. August richtete die World Socialist Web Site einen Appell an Arbeiter überall auf der Welt, den strategischen Kampf zur Ausrottung des Coronavirus aufzunehmen. Sie müssen nicht nur die propagierte „Herdenimmunität“ von Johnson und seinesgleichen ablehnen, sondern auch die Politik der „Mitigation“, die die Auswirkungen der Pandemie durch Impfungen, das Tragen von Masken und soziale Distanzierungsmaßnahmen lediglich abmildert.

Die rasche Ausbreitung der hochinfektiösen Delta-Variante hat offenbart, dass eine „Herdenimmunität“ nicht erreicht werden kann. Hygienemaßnahmen allein ermöglichen trotzdem, dass sich das Virus weiter ausbreitet, sich neue Mutanten entwickeln und Millionen weitere Menschenleben gefährdet sind. Die WSWS zog daraus folgenden Schluss: „Daher ist die einzig tragbare Strategie die Ausrottung des Virus, die auf den Empfehlungen von führenden Epidemiologen, Virologen und anderen Wissenschaftlern während der gesamten Pandemie beruht. Die Ausrottung erfordert den Einsatz aller Waffen im Arsenal der Corona-Maßnahmen, die auf globaler Ebene koordiniert werden müssen, um das Virus ein für alle Mal auszulöschen.“

Um das Virus auszurotten, müssen sich Lehrer, Eltern, Autoarbeiter, Transportarbeiter, Logistikarbeiter und Beschäftigte im Gesundheitswesen weltweit zusammenschließen und gemeinsam kämpfen.

Deshalb veranstaltete die WSWS am 22. August eine Online-Diskussion mit dem Titel „Für eine globale Strategie zur Beendigung der Pandemie und zur Rettung von Menschenleben“. Teilnehmer waren die renommierten Wissenschaftler Professor Michael Baker von der University of Otago im neuseeländischen Wellington, Dr. Malgorzata Gasperowicz von der University of Calgary in Kanada und Dr. Yaneer Bar-Yam, der Gründer und Präsident des New England Complex Systems Institute. Sie erläuterten die Notwendigkeit einer Strategie zur Ausrottung des Coronavirus. An der Diskussion beteiligten sich auch drei Lehrer aus Tennessee (USA), Australien und Brasilien, die gegen die kriminelle Politik der herrschenden Klasse kämpfen. Außerdem sprach Lisa Diaz, eine Mutter aus Großbritannien, die sich dagegen wehrt, ihre Kinder unter Pandemiebedingungen zur Schule zu schicken. Ihre Schilderungen veranlassten Professor Baker dazu, Johnsons Politik als „barbarisches Experiment an der Bevölkerung“ zu bezeichnen.

Die Online-Diskussion zeigte Arbeitern und Jugendlichen überall auf der Welt einen wissenschaftlichen Weg zur Bekämpfung der Pandemie auf und erklärte die politische Perspektive, auf die sich ein solcher Kampf stützen muss. Es dürfen keine Kosten und Mühen gescheut werden, die jetzt notwendig sind, um das Coronavirus auszurotten. Die sagenhaften Vermögen der Banken, Großkonzerne und internationalen Finanzelite müssen enteignet und diese finanziellen Mittel in den Dienst der Menschheit gestellt werden. Das ist die Perspektive, für die Millionen Menschen überall auf der Welt eintreten müssen.

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