Die Pandemie entlarvt den Bankrott des europäischen Kapitalismus

Anfang August führte die Socialist Equality Party der USA ihre jährliche Sommerschulung durch. Die WSWS veröffentlicht wichtige Vorträge, die Mitglieder der SEP und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) dort gehalten haben. Den folgenden Vortrag hielt Johannes Stern, der stellvertretende Chefredakteur der deutschsprachigen WSWS, über die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie in Europa. In englischer Sprache sind bislang drei Vorträge erschienen, darunter die von Eric London und Patrick Martin zum Putschversuch vom 6. Januar und zur Gefahr von Diktatur und Faschismus in den USA. Eine Zusammenfassung und politische Einschätzung der Sommerschulung findet sich hier.

Im Laufe des letzten Jahres hat sich die Propaganda der europäischen Regierungen, sie hätten verantwortungsvoller auf die Pandemie reagiert als die US-Regierungen von Donald Trump und Joe Biden, als mörderischer Betrug erwiesen. Wie die amerikanische steht auch die europäische Bevölkerung einer herrschenden Klasse gegenüber, die Leben über Profite stellt und eine Politik des sozialen Mordes verfolgt.

Offiziell gibt es über 1,1 Millionen Tote auf dem Kontinent. Davon über 150.000 in Großbritannien, über 160.000 in Russland, etwa 130.000 in Italien, 110.000 in Frankreich, 92.000 in Deutschland, 82.000 in Spanien, 75.000 in Polen und 53.000 in der Ukraine. Solche Zahlen sind außerhalb von Kriegszeiten beispiellos. Und wie in den USA oder Indien liegen die tatsächlichen Todeszahlen mit Sicherheit noch weitaus höher. Und sie steigen ständig weiter an.

Covid-19 Station im Nouvel Hopital Civil, Straßburg, 22. Oktober 2020 (AP Photo/Jean-Francois Badias)

Während wir diese Schulung durchführen, entwickelt sich eine tödliche vierte Welle der Pandemie, die durch die Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante verschärft wird. Im Vereinigten Königreich, in Spanien oder Frankreich werden täglich 20.000 bis 30.000 neue Infektionen gemeldet. In Deutschland steigen die Zahlen rapide an, und aufgrund der rücksichtslosen Öffnungspolitik der Bundesregierung ist es nur noch eine Frage von wenigen Wochen, bis die täglichen Infektionszahlen neue Rekorde erreichen.

Ende Juli warnte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) vor 100.000 täglichen Neuinfektionen in Deutschland im September. Inzidenzen von über 800 seien „leider nicht unrealistisch“. Was eine solche Inzidenzrate bedeutet, ist klar: die völlige Überlastung des Gesundheitssystems und eine neue Welle des Massensterbens.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des RKI hat errechnet, dass bei einer Inzidenz von 400 die Intensivkapazitäten überfordert wären. Bereits während der zweiten und dritten Welle der Pandemie war das Gesundheitssystem am Limit, und allein in Deutschland erlagen Zehntausende Menschen dem Virus. Wie bei den ersten beiden Wellen ist das massenhafte Leiden eine direkte Folge der aggressiven Öffnungspolitik der herrschenden Klasse in Europa.

Regierungen aller Couleur verfolgen eine bewusste Politik der Herdenimmunität, die Profite über Leben stellt. Um die Bereicherungsorgie an den Börsen nicht zu gefährden, bestehen die Regierungen in ganz Europa darauf, dass es keine weiteren Schließungen geben darf und dass man „mit dem Virus leben“ muss.

Oder besser „mit dem Virus sterben“. Der britische Premierminister Boris Johnson brachte die Politik der herrschenden Klasse mit seiner berüchtigten Aussage auf den Punkt: „No more f***ing lockdowns, let the bodies pile high in their thousands!“

Damit setzen die Regierungsparteien in Europa – ob konservativ, sozialdemokratisch oder pseudolinks – im Wesentlichen das Programm der extremen Rechten um, die seit langem ein Ende aller Pandemiemaßnahmen fordern. In Deutschland hat der CDU-Vorsitzende und mögliche nächste Bundeskanzler Armin Laschet erst vor wenigen Wochen in einer Hetzrede gegen neue Abschottungsmaßnahmen offen seine Solidarität mit der AfD erklärt.

Die WSWS hat die Pandemie von Anfang an als Trigger Event bezeichnet, als ein „auslösendes Ereignis“, das die bereits weit fortgeschrittene wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Weltsystems enorm beschleunigt.

Dies ist besonders in Europa zu beobachten. Die herrschende Klasse hat die Pandemie genutzt, um ihre Politik des Sozialabbaus und der Aufrüstung voranzutreiben, die sie bereits nach der Finanzkrise 2008/09 stetig verschärft hatte. Wie in den USA wurden im vergangenen März Billionen an die Banken und Großkonzerne überwiesen. Infolgedessen sind die Vermögen der Superreichen im Jahr der Pandemie weiter explodiert.

Laut der diesjährigen Forbes-Liste sind die europäischen Milliardäre im vergangenen Jahr um insgesamt 1 Billion Dollar reicher geworden. Diese 628 Personen verfügen nun über ein Gesamtvermögen von über drei Billionen Dollar – ein Anstieg von rund 50 Prozent innerhalb eines Jahres.

Diese gigantischen Summen sollen nun wieder aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden. Daher die aggressive „Zurück an die Arbeit“- und „Zurück in die Schule“-Politik, die von allen kapitalistischen Parteien unterstützt und in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften organisiert wird.

Die Politik der Herdenimmunität und die sozialen Angriffe gehen Hand in Hand mit der Forderung nach einer aggressiveren imperialistischen Politik. Wie die US-Regierung nutzen auch die europäischen Mächte die Krise, um ihre Aufrüstungspolitik zu intensivieren. Alle zentralen europäischen Mächte haben im Jahr der Pandemie ihre Verteidigungshaushalte massiv aufgestockt. Deutschland ist dabei Vorreiter. So soll der Verteidigungshaushalt im nächsten Jahr um weitere fünf Prozent auf dann weit über 50 Milliarden steigen.

Wir haben über die aggressiven NATO-Manöver im Schwarzen Meer geschrieben, die die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation mit der Atommacht Russland erhöhen. Und auch gegenüber China werden die europäischen Mächte trotz enger wirtschaftlicher Beziehungen immer aggressiver.

In einem Anfall von Größenwahn schickt Berlin eine Fregatte in den Indopazifik – unter dem Vorwand, dort die Freiheit der Schifffahrt zu sichern. Aggressive antichinesische Äußerungen in der Presse wecken dunkle Erinnerungen an Kaiser Wilhelms berüchtigte „Hunnenrede“ vor 121 Jahren.

Wir haben in der letzten Schulungseinheit ausführlich über den Putsch vom 6. Januar und die Gefahr des Faschismus in den USA gesprochen. Auch in Europa ist die Hinwendung der herrschenden Klasse zu Diktatur und Faschismus weit fortgeschritten und hat sich durch die Pandemie weiter verschärft.

Ich habe bereits erwähnt, dass sich die herrschende Klasse in Deutschland das Programm der rechtsextremen AfD zu eigen macht. In Frankreich und Spanien gibt es weit fortgeschrittene Putschvorbereitungen in der Armee.

Die französische Macron-Regierung und die spanische PSOE-Podemos-Regierung spielen diese gefährliche Entwicklung herunter und reagieren auf die rechtsextreme Bedrohung selbst mit einem scharfen Rechtsruck.

In ihrer Haltung kommen die gleichen Klasseninteressen zum Ausdruck, die wir in Bezug auf die Demokraten in den Vereinigten Staaten analysiert haben. Die nominell demokratischen Parteien in Europa lehnen jeden ernsthaften Kampf gegen die rechtsextreme Gefahr ab, weil sie die Interessen des Finanzkapitals verteidigen und vor allem die wachsende Militanz und den Widerstand der Arbeiterklasse fürchten. Um den Klassenkampf zu unterdrücken, übernehmen sie selbst zunehmend das Programm der extremen Rechten.

Gleichzeitig hat die Pandemie die tiefe Krise der Europäischen Union und die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten auf dem Kontinent verschärft. Während sich die europäischen Mächte in Fragen des Sozialabbaus, des Militarismus und des Krieges im Allgemeinen einig sind, waren sie völlig unfähig, ein gemeinsames Vorgehen zur Eindämmung der Pandemie zu organisieren.

Als sich das Virus im vergangenen Frühjahr dramatisch ausbreitete, verhängten die deutsche und die französische Regierung beispielsweise Exportverbote für medizinische Schutzausrüstung. Seitdem haben die Spannungen weiter zugenommen – insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland. Mitte Juli drohte die französische Neofaschistin und mögliche nächste Präsidentin Marine Le Pen damit, das Bündnis mit Deutschland zu brechen und militärisch eng mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten.

Das Gespenst großer Katastrophen kehrt zurück. Deutschland und Frankreich haben in den letzten 150 Jahren drei blutige Kriege gegeneinander geführt. Jetzt lässt die eskalierende wirtschaftliche, soziale und politische Krise alle ungelösten Probleme des europäischen Kapitalismus im 20. Jahrhundert wieder aufleben und birgt die Gefahr einer neuen Katastrophe.

Die gesamte Geschichte und Entwicklung der Europäischen Union bestätigt die marxistische Analyse, die Leo Trotzki 1917 zusammengefasst hat: „Ein einigermaßen vollständiger wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas von oben herab, durch Verständigung zwischen kapitalistischen Regierungen [ist] eine Utopie.“

Und weiter: „Eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten wie für die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von größtem Vorteil ist, [wird] zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Waffe, den Militarismus.“

Dies ist die Perspektive, die die trotzkistische Bewegung gegen die Sozialdemokratie und den Stalinismus verteidigt hat, und die jetzt unmittelbare Bedeutung erlangt.

Unter Arbeitern und Jugendlichen entwickelt sich in ganz Europa der Widerstand. Ich kann hier keinen detaillierten Überblick geben, aber es ist klar, dass eine ähnliche Entwicklung wie in den USA stattfindet.

Zunächst war es eine Welle spontaner Streiks in wichtigen Automobil-, Produktions- und Lebensmittelfabriken in Italien und in ganz Europa, die die europäischen Regierungen im letzten Frühjahr dazu zwang, die ersten Lockdown-Maßnahmen zu verhängen.

Im Herbst 2020 gab es dann erneut Streiks und Proteste gegen die Öffnungspolitik, einschließlich Schulstreiks in Griechenland, Frankreich und Deutschland.

Jetzt entwickeln sich auf dem ganzen Kontinent Streiks und Proteste gegen Angriffe auf die Arbeitsplätze und Löhne. Wie in den USA nutzen die Unternehmen mit Hilfe der Gewerkschaften die Corona-Pandemie, um historische Angriffe durchzusetzen.

Dies sind nur einige Beispiele, über die wir auf der WSWS ausführlich berichtet haben: der Kampf der Banbury300 bei JDE in Großbritannien; die Streiks und Proteste beim Gorillas-Lieferdienst in Berlin; der Kampf der WISAG-Flughafenarbeiter in Frankfurt und die spontanen Streiks der Elektrizitätsarbeiter in der Türkei.

Bei all diesen Kämpfen haben wir die Ereignisse nicht nur kommentiert, sondern uns aktiv am Klassenkampf beteiligt. Wir kämpften für eine gewerkschaftsunabhängige Organisierung der Beschäftigten und klärten zentrale Fragen der politischen Ausrichtung und Perspektive. Auf dieser Grundlage konnten wir unter Lehrern und Schülern Aktionskomitees aufbauen und ähnliche Entwicklungen in anderen Betrieben und Branchen herbeiführen.

In der Diskussion hat Genosse David North betont, dass wir uns in einer Situation befinden, in der die Intervention unserer Partei zunehmend zum entscheidenden Faktor für den Verlauf der politischen Entwicklung wird.

Das Beispiel unserer Intervention bei den Volvo-Arbeitern in der belgischen Stadt Gent wurde bereits angesprochen. Es lohnt sich, noch einmal kurz darauf einzugehen. Unsere dortige Intervention und die Unterstützung, die wir für den Streik der Volvo-Arbeiter in Dublin (USA) gewannen, haben den Kampf der dortigen Belegschaft direkt gestärkt. Gleichzeitig hat der Streik in Dublin, von dem wir den Volvo-Arbeitern in Gent erzählt haben, ihren Kampf gegen die 40-Stunden-Woche beflügelt. Nur einen Tag nach unserer ersten Intervention gab es eine spontane Arbeitsniederlegung bei Volvo Cars in Gent.

Wir dürfen den Einfluss, den wir haben, nicht unterschätzen. Ähnlich wie beim 1619 Project haben wir verstanden, dass das Umschreiben der Geschichte in Deutschland – die Verharmlosung der Naziverbrechen durch rechtsextreme Professoren wie Jörg Baberowski – weitreichende Folgen hat. Wir haben das nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern eine starke intellektuelle und politische Offensive dagegen organisiert, die deshalb so großen Anklang gefunden hat, weil sie den enormen Widerstand der Arbeiter und Jugendlichen gegen Faschismus und Krieg artikuliert.

Es gibt noch eine weitere aktuelle Erfahrung, die ich mit Euch teilen möchte. Wir befinden uns derzeit mitten in einem Bundestagswahlkampf. Nach der jüngsten Hochwasserkatastrophe – bei der mehr als 200 Menschen starben, weil sie nicht gewarnt wurden und keine Sicherheitsmaßnahmen organisiert wurden – haben wir beschlossen, stark zu intervenieren. Wie die Pandemie entlarvt auch diese Katastrophe die Kriminalität der herrschenden Klasse und den Bankrott des Kapitalismus. Unser letzter Videobericht mit Interviews der Betroffenen wurde innerhalb der ersten fünf Tage nach der Veröffentlichung über 200.000 Mal angesehen. Das unterstreicht die Wirkung, die wir haben, wenn wir offensiv auf politische Ereignisse reagieren.

In seinem Bericht zur Sommerschule vor zwei Jahren erklärte Genosse North: „Der Angriff des Verfassungsschutzes auf unsere deutsche Sektion ist eine klare politische Aussage: Die herrschende Elite erkennt, dass das Programm und die Ideen unserer Bewegung das Potenzial haben, eine Massenanhängerschaft in der Arbeiterklasse zu finden.“

Er fügte hinzu: „Diese Anerkennung der politischen Statur der Sozialistischen Gleichheitspartei ist in gewisser Weise ein Kompliment. Aber sie ist auch eine ernstzunehmende Drohung, die wir mit geeigneten politischen und praktischen Gegenmaßnahmen beantworten müssen. Um den Anforderungen der globalen Entwicklung des Klassenkampfs gerecht zu werden, muss der Kader des Internationalen Komitees auf das gesamte theoretische und politische Kapital unserer Weltpartei zurückgreifen.“

Das ist die Orientierung dieser Schule und die Grundlage, auf der wir jetzt die Arbeit der Socialist Equality Party und des gesamten Internationalen Komitees der Vierten Internationale weiter entwickeln müssen.

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