Die Kampfbereitschaft war groß und hat in den vergangenen Wochen ständig zugenommen. Drei Mal streikten die Beschäftigten der Eisenbahn seit August. Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) sah sich gezwungen, die letzte Streikrunde auf fünf Tage auszudehnen und erstmals auch am Wochenende zu streiken.
Neben den Lokführern und Zugbegleitern traten auch Arbeiter der Werkstätten, Fahrdienstleiter, Servicemitarbeiter, Instandhalter und Bordgastronomen in den Ausstand und legten tagelang einen Großteil des Güter- und Personenverkehrs lahm. Viele Eisenbahner wussten, dass hinter der kompromisslosen und aggressiven Haltung des Bahn-Managements die Bundesregierung stand, die mit der Forderung nach einer Einkommens-Nullrunde in diesem Jahr und dem Angriff auf die Betriebsrente ein Exempel statuieren wollte.
Als Reaktion darauf wurde die Forderung nach einem unbefristeten Streik und einer Ausdehnung des Arbeitskampfs immer lauter und fand wachsende Unterstützung. Als auch die Beschäftigten der Berliner Krankenhauskonzerne Charité und Vivantes in einen unbefristeten Streik gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne traten und viele Betriebe Massenentlassungen und Lohnsenkungen ankündigten, gewann die Forderung nach einem gemeinsamen und koordinierten Arbeitskampf Unterstützung.
In dieser Situation suchte GDL-Chef Claus Weselsky händeringend nach einem Kompromiss, um den Streik abzuwürgen. Während er auf den Streikversammlungen noch mit markigen Worten gegen die Verweigerungshaltung des Bahn-Vorstands wetterte und unter dem Jubel der Streikenden rief: „Wir sind erst am Anfang. Wir können noch mehr. Nach dem Streik ist vor dem Streik!“, führte er gleichzeitig Gespräche mit führenden Politikern, die angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl auf ein Ende der Auseinandersetzung drängten.
Weselsky, der selbst CDU-Mitglied ist, will ebenso wenig wie die etablierten Parteien, dass die Bundestagswahl und die anschließende Regierungsbildung in einer Situation stattfinden, in der der Streik der Lokführer zum Ausgangspunkt für eine breite Streikbewegung und Radikalisierung der Arbeiterklasse wird.
Gestern nun trat er, gemeinsam mit Bahn-Personalchef Martin Seiler, vor die Kameras und verkündete einen Kompromiss, der zwar „nicht alle Forderungen der GDL erfülle, aber akzeptabel“ sei.
Eingerahmt wurden Weselsky und Seiler von den Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Stephan Weil (SPD) und Daniel Günther (CDU), die als Vermittler in den Verhandlungen fungiert hatten, die hinter dem Rücken der Eisenbahner und der Öffentlichkeit unter strikter Geheimhaltung stattfanden.
Weselsky bedankte sich wortreich für die herausragende Mediatorenrolle der beiden Landeschefs. Weil erwiderte: „Wir haben weit über die Deutsche Bahn hinaus ein Interesse gehabt, diesen doch sehr langen Tarifkonflikt zu lösen.“
Betrachtet man das Verhandlungsergebnis, so zeigt sich, dass die Zugeständnisse der Bahn ein Hohn sind und nur dazu dienen, der GDL das Abwürgen des Streiks zu ermöglichen.
Um der Forderung der GDL, es dürfe in diesem Jahr keine Nullrunde geben, formal genüge zu tun, wird die Lohnerhöhung um einen Monat auf den 1. Dezember 2021 vorgezogen. Sie beträgt 1,5 Prozent, weit weniger als die derzeitige Inflationsrate von knapp 4 Prozent, und gilt für 16 Monate.
Die nächste Lohnerhöhung um weitere 1,8 Prozent kommt dann erst im März 2023. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 32 Monaten – bis Ende Oktober 2023. Für die nächsten zwei Jahre herrscht also Streikverbot.
Damit ist eine deutliche Reallohnsenkung für die nächsten Jahre vereinbart, die auch nicht durch die so genannte Coronaprämie ausgeglichen wird. Im Dezember 2021 beträgt diese Prämie 600 Euro für die unteren und 400 Euro für die höheren Lohngruppen und im März 2022 nochmal einheitlich 400 Euro.
In ihrer Pressemitteilung betont die GDL vor allem, dass es gelungen sei, den Angriff auf die Betriebsrente zurückzuschlagen. „Unsere Renten sind sicher!“, jubelt Weselsky im GDL-Podcast. Doch auch das stimmt nicht.
Die GDL willigte in die geplante Umstrukturierung der betrieblichen Altersvorsorge ein und führt ein Zwei-Klassensystem ein. Das bisherige System der Zusatzrente gilt ab nächstem Jahr nur noch für so genannte Bestandsmitarbeiter. Für Neu-Eingestellte gelten andere Bedingungen, die noch nicht in allen Einzelheiten festgelegt sind.
Vor allem wollte die GDL erreichen, dass sie durch das Tarifeinheitsgesetz (TEG) nicht ausgegrenzt wird. Weselsky erklärte gestern: „Bei entsprechender Mitgliederstärke werden wir auch für die Kollegen auf den Stellwerken, in den Bahnhöfen und in der Instandhaltung der Netzbetriebe bessere Tarifverträge abschließen.“
Die Eisenbahn und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die bei der Bahn als Hausgewerkschaft fungiert, hatte bereits Ende vergangenen Jahres einen Tarifabschluss vereinbart, der noch schlechter ist als die Einigung der GDL. Sie kündigte gestern Nachverhandlungen an.
Der Tarifkampf bei der Bahn und der massive Streik der vergangenen Wochen zeigen vor allem zweierlei:
Erstens machen sie deutlich, welch große Stärke und Macht die Eisenbahn- und Verkehrsarbeiter haben. Schon nach knapp einer Woche Streik wuchs in den Chefetagen vieler Betriebe die Angst, dass die Lieferketten zusammenbrechen, Rohstoffe, Vormaterialien, Ersatzteile usw. fehlen und Fertigprodukte nicht ausgeliefert werden können. Ein Produktionsstopp und damit die Radikalisierung von vielen Arbeitern in anderen Bereichen wären die Folge.
Zweitens wurde klar, dass mit den bestehenden Gewerkschaften kein konsequenter Kampf für die Rechte und Interessen der Arbeiter geführt werden kann. Auch wenn die GDL etwas radikaler auftritt als die EVG, ordnet sie die Interessen der Arbeiter dem Wohlergehen des Unternehmens unter. Im entscheidenden Moment, als sich der Streik zu einem Konflikt mit der Regierung entwickelte und große Unterstützung von anderen Arbeitern erhielt, stimmte die GDL einem faulen Kompromiss zu und würgte den Streik ab.
Das wahre Gesicht der Gewerkschaften zeigte DGB-Chef Reiner Hoffmann, als er vor zwei Wochen die streikenden Lokführer und Zugbegleiter heftig attackierte und ihnen vorwarf, sie handelten unsolidarisch, weil sie den Lohnsenkungsvertrag der DGB-Gewerkschaft EVG ablehnten. In einem Zeitungsinterview hatte Hoffmann behauptet, mit dem Streik setze eine Berufsgruppe „ihre partikularen Interessen gegen das Gesamtinteresse aller anderen Bahn-Beschäftigten“ durch und spiele die „Beschäftigtengruppen in einem Unternehmen“ gegeneinander aus.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) hat intensiv in den Streik eingegriffen. Sie hat in vielen Artikeln und Flugblättern erklärt, dass Problem seien nicht einfach nur rechte und korrupte Bürokraten an der Spitze der DGB-Gewerkschaften, sondern die Perspektive, auf die sich die Gewerkschaften stützen.
Vor zwei Wochen schrieben wir: „Alle Gewerkschaftsfunktionäre sehen ihre Aufgabe darin, den Preis der Ware Arbeitskraft – also Löhne, Arbeitsbedingungen, u.ä. – zu regeln, und sind deshalb an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus interessiert. Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung, sondern deren effektivere Gestaltung.
Solange die Wirtschaft wuchs und sich vorwiegend auf den nationalen Rahmen konzentrierte, konnten sie auf dieser Grundlage einige Verbesserungen erzielen. Mit der Vorherrschaft transnationaler Konzerne war dies vorbei. Seit vielen Jahren bemühen sich die Gewerkschaften, den nationalen Standort zu stärken, indem sie die Löhne senken und die Arbeitshetze steigern. Sie stützen sich nicht auf den Klassenkampf, der international ist, sondern verbünden sich im Kampf um Märkte, Rohstoffe und Weltmacht mit Kapital und Regierung des eigenen Landes.“
Die Schlussfolgerung daraus ist eindeutig: Der GDL-Abschluss löst kein Problem der Lokführer, Zugbegleiter und anderen Bahnbeschäftigten. Das Verhandlungsergebnis muss von den Bahn-Beschäftigten abgelehnt werden.
Um ihre Rechte und Errungenschaften zu verteidigen, brauchen die Arbeiter eigene, unabhängige Kampforganisationen – Aktionskomitees –, eine internationale, sozialistische Perspektive und ihre eigene politische Partei – die Sozialistische Gleichheitspartei.