Europa liegt derzeit an der Spitze einer neuen, weltweiten Welle von Covid-19-Infektionen. Weltweit ist in den letzten zwei Wochen die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf durchschnittlich 430.000 Fälle angestiegen. Der Anstieg geht vollständig auf eine massive Ausbreitung des Virus auf dem europäischen Kontinent zurück, während die Fallzahlen in allen anderen Regionen eher stabil oder rückläufig sind.
Von Mitte Juni bis Ende Juli schoss die Zahl der täglichen Neuinfektionen europaweit in die Höhe, hauptsächlich angetrieben durch eine neue Welle in Großbritannien. Bis Mitte September ging der Anstieg leicht zurück, doch seither ist er hauptsächlich durch die rasante Entwicklung in Osteuropa und Großbritannien stark wieder angestiegen.
In der Woche bis zum letzten Sonntag stieg der Sieben-Tage-Durchschnitt der täglichen Neuinfektionen um fast elf Prozent. Mittlerweile infizieren sich jeden Tag mehr als 220.000 Menschen. Laut Daten der Johns Hopkins University liegt die Zahl der täglichen Neuinfektionen mit Covid-19 in Europa mit 299 pro einer Million doppelt so hoch wie in Nordamerika (139), der Region mit der zweithöchsten Rate. Jeden Tag sterben in Europa mehr als 3.000 Menschen an Covid-19. Das sind 34 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des letzten Jahres.
Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, erklärte letzte Woche: „Die weltweite Zahl der gemeldeten Fälle und Todesfälle durch Covid-19 steigt jetzt zum ersten Mal seit zwei Monaten an. Die treibende Kraft dahinter ist der anhaltende Anstieg in Europa, der den Rückgang in anderen Regionen ausgleicht. Diese Entwicklung erinnert uns wieder einmal daran, dass die Corona-Pandemie noch lange nicht vorbei ist.“
Der WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Kluge, hingegen brachte die mörderische Politik der gesamten herrschenden Klasse zum Ausdruck, als er die Regierungen in Europa dazu aufrief, die Schulen im Winter offen zu halten und lediglich einige (unzureichende) Mitigationsmaßnahmen umzusetzen. Er behauptete: „Die umfassende Schließung der Schulen im letzten Jahr hat die Schulbildung von Millionen von Kindern und Jugendlichen unterbrochen und mehr geschadet als genutzt, vor allem dem geistigen und sozialen Wohlergehen der Schüler. Wir dürfen nicht wieder die gleichen Fehler machen.“
Die Politik, Schulen und Wirtschaft trotz einer tobenden Pandemie offen zu halten, geht auf das Profitstreben der Ultrareichen zurück. Ihre Folgen werden bereits jetzt europaweit spürbar, und die Wintermonate haben noch gar nicht richtig begonnen.
In vielen mittel- und osteuropäischen Staaten und auf dem Balkan steigen die Infektionen geradezu astronomisch an. In Estland liegen die täglichen offiziellen Fallzahlen mit 1.286 pro einer Million Einwohner auf dem bisher höchsten Stand. Das Gleiche gilt für Lettland (1.268), Slowenien (1.095), die Slowakei (715), Bulgarien (685), die Ukraine (526), Griechenland (355) und Russland (259). In Litauen (1.090) und Kroatien (876) nähern sie sich sehr schnell den bisherigen Rekordwerten an.
Einen weiteren starken Anstieg der täglichen Neuinfektionen gab es in Ungarn (82 Prozent in einer Woche), der Tschechischen Republik (63 Prozent), Polen (57 Prozent) und Österreich (42 Prozent). Die rasche Ausbreitung der Krankheit überfordert in der ganzen Region die völlig unzureichenden Test-Möglichkeiten, und so sind die realen Infektionsraten höchst wahrscheinlich noch deutlich höher. Letzte Woche lag die Positivrate bei Tests in der Hauptstadt von Kroatien bei 50 Prozent.
Niedrige Impfquoten verschlimmern in vielen Ländern noch die Situation. In Serbien ist weniger als die Hälfte (43 Prozent) der Bevölkerung vollständig geimpft; in Rumänien und Russland sind es je 33 Prozent, in Bulgarien 22 Prozent, in der Ukraine nur 17 Prozent. Das allgemeine Misstrauen gegenüber den Regierungen und dem Gesundheitssystem, die Wirkung der staatlichen Propaganda, die Pandemie sei vorbei, und die Agitation rechtsextremer und religiöser Kräfte, haben alle zu diesem Phänomen beigetragen.
Da der Impfschutz auch jetzt noch weitgehend fehlt, führt die Infektionswelle zu einem beispiellosen Anstieg der Todesfälle. Die durchschnittlichen täglichen Todesraten durch Covid-19 liegen in Russland (1.104 Tote pro Tag), Rumänien (439), der Ukraine (581) und Serbien (64) auf dem höchsten Stand seit Pandemiebeginn. Bulgarien entwickelt sich mit 132 Toten pro Tag in die gleiche Richtung. In Rumänien liegt die durchschnittliche Todesrate pro Tag mehr als zweieinhalbmal so hoch wie auf dem letzten Höhepunkt. In der Ukraine liegt sie 44-mal höher und in Russland 28-mal höher.
Die Last der schweren Erkrankungen bringt die völlig unterfinanzierten Gesundheitsinfrastrukturen an den Rand des Zusammenbruchs. In Rumänien sind die Intensivstationen überlastet. Polen und Dänemark haben Ärzteteams zur Unterstützung geschickt, und andere europäische Staaten haben Sauerstoff-Konzentratoren und Flaschen mit monoklonalen Antikörpern gespendet. In Bulgarien warnte einer der wichtigsten Sauerstofflieferanten letzte Woche: „Wenn die Zahl der Krankenhauspatienten weiter steigt, wird es nächste Woche keinen Sauerstoff mehr geben.“
Selbst in Ländern mit höheren Impfquoten steigt die Zahl der Todesopfer stark an. Lettland, dessen Impfquote bei 54 Prozent der Bevölkerung liegt, verzeichnet den höchsten durchschnittlichen Anstieg der Todesfälle pro Tag seit Beginn der Pandemie. Die anderen baltischen Staaten Estland und Lettland, deren Impfquoten ähnlich hoch sind, liegen nicht weit dahinter.
Angesichts der Katastrophe in Lettland musste die Regierung einen einmonatigen Lockdown verhängen. Einige Schulen wurden auf Distanzunterricht umgestellt, und mehrere Wirtschaftszweige arbeiten im Home-office. Versammlungen im Innen- und Außenbereich wurden verboten, und die Mehrheit der Geschäfte sowie alle Restaurants, Salons, Kinos, Theater, Konzert- und Sporteinrichtungen wurden geschlossen.
Dies ist jedoch viel zu wenig, um den Anstieg der Infektionen und Todesfälle einzudämmen. Zudem lehnen andere Regierungen selbst diese begrenzten Maßnahmen ab und betreiben höchstens ein Flickwerk von Teilmaßnahmen wie Impfungen, Maskenpflicht, Covid-Pässen, Ausgangssperren und begrenzten Versammlungsverboten.
In West- und Nordeuropa steigen die Fallzahlen in Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Deutschland gerade dramatisch an. In Norwegen ist der Sieben-Tage-Durchschnitt bei Neuinfektionen bis zum letzten Sonntag um 62 Prozent angestiegen, in Belgien um 49 Prozent, in Dänemark um 48 Prozent, in den Niederlanden um 42 Prozent und in Deutschland um 40 Prozent.
Belgien ist auf dem besten Weg, Großbritannien bei den Infektionen pro Kopf zu überholen, da diese in Großbritannien letzte Woche leicht zurückgegangen sind. Die belgische Regierung hat einige, sehr begrenzte Maßnahmen wie Maskenpflicht in öffentlichen Räumen und für das Personal in Bars, Restaurants und Fitnessstudios eingeführt und verlangt jetzt Covid-Pässe für deren Betreten. Die Niederlande planen die gleichen Maßnahmen.
Die dänische Regierung wird am Freitag ihre Maßnahmen überdenken, hat jedoch die Bedrohungslage von Covid-19 bereits heruntergestuft, was ihre Möglichkeiten einschränkt. Die Oppositionsparteien, die rot-grüne Einheitsliste, die Dänische Volkspartei und die Konservativen, haben bereits erklärt, sie lehnten die Wiedereinführung von Einschränkungen ab.
Der deutsche Bundestag plant die Aufhebung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ noch im November, so dass alle Schutzmaßnahmen bis auf die öffentliche Maskenpflicht und der Impf-Nachweis beim Zugang zu bestimmten Veranstaltungsorten abgeschafft werden. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, erklärte offen, es werde keine Schulschließungen, Lockdowns oder Ausgangssperren mehr geben.
Auch in Frankreich und Italien kam es zu einem deutlichen Anstieg der Fälle. In Italien hat sich die Zahl der Hospitalisierungen mit Covid um 7,5 Prozent erhöht, und in Frankreich wurden zwölf Prozent mehr Corona-Patienten in den Intensivstationen aufgenommen.
In Großbritannien ist der tägliche Anstieg der Infektionen trotz des leichten Rückgangs weiterhin extrem hoch. Täglich sterben durchschnittlich 150 Menschen an dem Virus. Die nahezu unkontrollierte Ausbreitung des Virus während der letzten Monate scheint zu einer starken Ausbreitung von AY.4.2 geführt zu haben, einer Untergruppe der Delta-Variante, die 10 bis 15 Prozent ansteckender ist. Laut der WHO wurde dieser Typus mittlerweile in 42 Ländern nachgewiesen.
Die Arbeiterklasse muss das Wiederaufleben der Pandemie in Europa kurz vor Beginn des Winters in der Nordhalbkugel als nachdrückliche Warnung vor den Gefahren eines „Lebens mit Covid-19“ betrachten. Wenn die Arbeiterklasse nichts gegen die mörderische Politik der Herdenimmunität unternimmt und Maßnahmen zur Eliminierung des Virus ergriffen werden, werden immer weitere Wellen von Leid und Tod die Weltbevölkerung heimsuchen.