EU-Gipfel rührt Kriegstrommel gegen Russland

Die eskalierende Corona-Pandemie und Drohungen gegen Russland standen im Mittelpunkt des EU-Gipfels, der gestern in Brüssel tagte. Beide Themen sind eng miteinander verbunden. Je offensichtlicher die kriminelle Rücksichtslosigkeit, mit der die europäischen Regierungen jeden ernsthaften Schutz der Bevölkerung vor dem lebensgefährlichen Virus sabotieren, desto lauter rühren sie die Kriegstrommel, um die sozialen Spannungen nach außen zu lenken.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 16. Dezember (Kenzo Tribouillard, Pool Photo via AP)

Die versammelten Staats- und Regierungschefs waren sich einig, dass mit der Omikron-Variante eine fünfte Welle im Anlauf sei, die alle bisherigen in den Schatten stellt. In Großbritannien, das nicht mehr zur EU gehört, verdoppeln sich die Infektionszahlen jetzt schon jeden zweiten Tag. Mitte Januar werde Omikron auch in der EU dominant sein, berichtet der Wiener Standard unter Berufung auf Ratskreise. „Diese Diagnose stellte niemand infrage.“

Trotzdem unternahmen die Gipfelteilnehmer nichts, um die sich anbahnende Katastrophe zu stoppen. Selbst die Entscheidung Italiens, von Einreisenden einen negativen PCR-Test zu verlangen, stieß auf heftige Kritik. Sie unterlaufe die Reisefreiheit im Schengenraum, beschwerte sich die EU-Kommission. Auch Luxemburgs Premier Xavier Bettel kritisierte, Reisebeschränkungen seien keine Lösung.

Man einigte sich schließlich auf den platonischen Ruf nach „koordinierten Anstrengungen“, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierten. Man wolle sowohl bei der Hebung der Impfquoten wie bei der Beschaffung von Medikamenten „koordiniert“ und „gemeinsam“ vorgehen und das Boostern vorantreiben. Vor allem aber gelte es sicherzustellen, dass Einschränkungen das Funktionieren des Binnenmarkts nicht untergraben und das freie Reisen innerhalb der EU nicht „unverhältnismäßig behindern“, heißt es im Entwurf der Abschlusserklärung.

Mit anderen Worten: Trotz dem drohenden Omikron-Tsunami setzt der Gipfel die bisherige Politik fort, den Schutz von Leben und Gesundheit den Profitinteressen der Wirtschaft unterzuordnen.

Mehrere Gipfelteilnehmer betonten, Impfung sei ohnehin die beste Waffe gegen die Pandemie. Aber abgesehen davon, dass die Impfraten in der EU sehr unterschiedlich sind – sie schwanken zwischen 80 Prozent in Portugal und 30 Prozent in Bulgarien – und selbst eine zweifache Impfung gegen Omikron nur unzureichend schützt, kann Impfen allein die Pandemie nicht eindämmen. Das ist nur in Verbindung mit Lockdown-, Kontakt-Tracing- und anderen Maßnahmen möglich, die der Gipfel kategorisch zurückwies.

Über die Pandemie gab es nur eine kurze Debatte am Donnerstagmorgen. Wesentlich mehr Zeit widmete der Gipfel dem Konflikt mit Russland. Bereits am Mittwoch hatte ein Treffen der Gipfelteilnehmer mit der sogenannten Östlichen Partnerschaft (Ukraine, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Moldau) und ein Gespräch von Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski stattgefunden. Auch am Donnerstag war die Konfrontation mit Russland das Hauptthema des Gipfels, der bis in die Nacht hinein dauerte.

Bereits im Vorfeld hatten führende Vertreter der EU Russland mit Strafmaßnahmen gedroht. „Jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine wird massive Konsequenzen und hohe Kosten nach sich ziehen“, schrieb Ratspräsident Charles Michel im Einladungsschreiben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen drohte, die EU werde für den Fall einer weiteren Zuspitzung des Ukraine-Konflikts „zusätzliche, nie da gewesenen Maßnahmen mit ernsten Konsequenzen für Russland ergreifen“.

Bundeskanzler Scholz erklärte: „Jede Verletzung territorialer Integrität wird einen hohen Preis haben.“ Im Entwurf der Abschlusserklärung warnen die Staats- und Regierungschefs Russland vor „massiven Konsequenzen und hohen Kosten“ einer weiteren militärischen Aggression gegen die Ukraine.

Der Vorwurf, Russland plane einen militärischen Einmarsch in der Ukraine, wird von den Regierungen und Medien der Nato-Länder seit Wochen erhoben. Er entbehrt jeder faktischen Grundlage. Trotzdem wird er ähnlich aggressiv verbreitet wie 2003 die Lüge über irakische Massenvernichtungswaffen, die den Vorwand für den Irakkrieg lieferte. Der Vorwurf beruht auf schwer überprüfbaren US-Geheimdienstberichten, wonach Russland in der Nähe der ostukrainischen Grenze Truppen zusammenziehe. Die Rede ist von 100.000 bis 175.000 Soldaten.

Emissäre der Biden-Administration haben die europäischen Verbündeten systematisch auf diese Linie eingestimmt, wie Der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe berichtet.

„Seit Wochen drängen die USA die Europäer hinter den Kulissen zu einem härteren Kurs gegen Moskau,“ schreibt das Nachrichtenmagazin. Im November sei Avril Haines, die Koordinatorin aller US-Geheimdienste, mit einem Stab von Mitarbeitern in einem abhörsicheren Tagungssaal in Brüssel erschienen und habe den Botschaftern der Nato-Allianz „ohne lange Vorreden Geheimdienstbilder vom russischen Aufmarsch gezeigt“. Die Diplomaten seien überrascht gewesen.

Ähnliche Briefings habe es in den Tagen darauf für einzelne Verbündete gegeben. „In Deutschland unterrichten die USA sowohl die Geheimdienste, aber auch das Auswärtige Amt (AA) detailliert wie selten zuvor.“ Zwei Wochen später, auf dem Treffen der Nato-Außenminister in Riga, habe US-Außenminister Antony Blinken dann gemeinsam mit seiner britischen Kollegin Druck gemacht und schärfere Sanktionen gegen Russland angemahnt.

„Die Minister sind von der Vehemenz der Amerikaner überrascht,“ berichtet Der Spiegel. „Viele Europäer reagieren indes zögerlich. Sie sehen keinen Beleg dafür, dass Russland wirklich einen Einmarsch in die Ukraine plane.“ – Was sie nicht daran hinderte, die Drohungen der USA zu unterstützen.

Selbst wenn die Berichte über Truppenverschiebungen stimmen sollten, lassen sich daraus keine russischen Invasionsabsichten ableiten. Die Truppenbewegungen finden auf russischem Staatsgebiet statt, wozu es als souveränes Land ein Recht hat.

Moskau hat allen Grund, sich bedroht zu fühlen. Der ukrainische Präsident Selenski, der wegen der Coronapandemie und der desolaten Wirtschaftslage innenpolitisch unter Druck steht, droht seit Monaten mit der gewaltsamen Rückeroberung der Krim. Im August erklärte er in Kiew vor Vertretern aus 40 Staaten, darunter der damalige deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier, von nun an laufe der „Countdown für die De-Okkupation“ der Krim.

Die Nato führte zu dieser Zeit ihr bisher größtes Militärmanöver in der Schwarzmeerregion durch, an dem sich 32 Länder – darunter auch die Ukraine – mit 5000 Soldaten, 32 Schiffen, 40 Flugzeugen und 18 Spezialeinheiten beteiligten. Im Laufe dieses und weiterer Manöver kam es immer wieder zu Beinahezusammenstößen mit russischen Truppen.

Die Nato hatte der Ukraine auf Betreiben von US-Präsident George W. Bush bereits 2008 den Beitritt in Aussicht gestellt, ihn aber auf Drängen Deutschlands und Frankreichs nicht mit einem konkreten Zeitplan verbunden. Nach dem Putsch von 2014, der in Kiew mit amerikanischer und deutscher Unterstützung ein prowestliches Regime an die Macht brachte, wurde die Ukraine dann systematisch aufgerüstet und immer enger in die Nato eingebunden.

Allein die USA haben ihr seither Militärhilfen im Wert von mehr als 2,5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt. Der am Mittwoch verabschiedete US-Militärhaushalt sieht dafür weitere 300 Millionen Dollar vor.

Der russische Präsident Wladimir Putin und sein Außenminister Sergei Lawrow haben in den letzten Tagen wiederholt klar gemacht, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine eine „rote Linie“ ist, die sie nicht hinnehmen können. Sie verlangen eine formale Garantie, dass sich die Nato und ihre militärische Infrastruktur nicht weiter nach Osten ausdehnen.

US-Präsident Joe Biden und andere Nato-Regierungschefs haben diese Forderung unter Verweis auf die Souveränität der Ukraine empört zurückgewiesen. Tatsächlich ist sie nicht abwegig. Als die Sowjetunion 1962 Mittelstreckenraketen auf Kuba stationierte, riskierte US-Präsident John F. Kennedy einen Atomkrieg, um die Sowjetunion zum Abzug der Raketen zu zwingen, obwohl auch Kuba ein souveräner Staat war.

Die Aufnahme der Ukraine in die Nato würde Russland militärisch so gut wie wehrlos machen. Die beiden Staaten verfügen über eine gemeinsame Grenze von 2300 Kilometer Länge, die nur 500 Kilometer von Moskau entfernt verläuft.

Als Moskau 1990 grünes Licht für die Auflösung des Warschauer Pakts gab, hatte die Nato zugesichert, sich nicht nach Osten auszudehnen. Inzwischen sind fast alle ehemaligen Ostblockstaaten und die drei ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Mitglieder der Nato, die Russland militärisch immer enger einkreist. Sie führt regelmäßig Manöver an der russischen Grenze durch, lässt strategische Bomber entlangfliegen und hat eine schnelle Eingreiftruppe aufgebaut, die in kürzester Zeit an die russische Grenze verlegt werden kann.

Das Putin-Regime hat keine Antwort auf diese Drohung. Es schwankt zwischen militärischen Drohgebärden und der Anbiederung an das eine oder andere imperialistische Lager, die es gegeneinander auszuspielen versucht. Es ist völlig unfähig, an die internationale Arbeiterklasse zu appellieren, die als einzige gesellschaftliche Kraft die Kriegsgefahr stoppen kann, weil es selbst die Interessen einer reaktionären kapitalistischen Oligarchenkaste vertritt.

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