In den Abendstunden von Samstag, dem 29. Januar, wurde der bisherige Staatspräsident Italiens, Sergio Mattarella, in Ermangelung eines Nachfolgers für weitere sieben Jahre zum Staatsoberhaupt gewählt. Die Wahl beendete ein unwürdiges Spektakel. Die sechs führenden Parteien, die derzeit alle zusammen in einer breiten Allparteienregierung sitzen, waren nicht in der Lage, sich auf eine Persönlichkeit zu einigen, die den amtsmüden 80-Jährigen abzulöst.
Eine Woche lang fanden die versammelten mehr als tausend Abgeordneten, Senatoren und Vertreter der Regionen keine gemeinsame Lösung. Immer wieder scheiterte ein neuer Kandidat an der mehrheitlichen Enthaltung. Einige blieben der Urne fern, während andere leere Stimmzettel einlegten oder für Fußballstars oder Fantasiefiguren stimmten. Nach sieben ergebnislosen Wahlgängen ließ sich Mattarella schließlich zu einer weiteren Amtszeit überreden. Er erzielte die überwältigende Mehrheit von 759 der 1009 „Elettori“ – die höchste Stimmenzahl eines Staatspräsidenten seit 44 Jahren.
Durch den europäischen Blätterwald ging ein Seufzer der Erleichterung. Denn der einzige andere aussichtsreiche Kandidat war der 74-jährige Regierungschef Mario Draghi. Wäre Draghi gewählt worden, hätte das Land einen neuen Premier benötigt, und die gegenwärtige Allparteienregierung wäre zerbrochen. Mit der jetzigen Notlösung stehen Parlamentswahlen erst wieder in einem guten Jahr, im Mai 2023, auf der Tagesordnung, wenn die Legislaturperiode endet.
Die bürgerliche Herrschaft in Italien steckt so tief in der Krise, dass ihre Stabilität von zwei alten Männern, der eine 80, der andere 74, abhängt.
Das Handelsblatt kommentierte den Wahlausgang als die „bestmögliche Lösung für Italien“: „Denn der Premier hat noch viel zu tun – und dafür nicht mehr viel Zeit.“ Der Zürcher Tagesanzeiger wies auf die Erleichterung der europäischen Bankenwelt hin: „In Italien nimmt man an, dass auch die Börsen den Epilog der langen und abenteuerlichen Wahlwoche freudig begehen werden – allerdings weniger wegen Mattarellas Bestätigung im Amt, sondern eher wegen jener Mario Draghis. Unmittelbar ist dessen Rolle zentraler.“
Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Darum ging es bei dieser Wahl: um die Zukunft Italiens, um dessen Stabilität. Um die Umsetzung der angestoßenen Reformen und die Verwaltung der Milliarden aus Brüssel für den Wiederaufbau. Und da Italien systemrelevant ist, ging es auch um die Zukunft Europas.“
Und diese „Zukunft Europas“ steht und fällt angeblich mit Draghis Person als Premierminister. Der Mann, der vor einem Jahr die Regierung übernahm, übte zuvor schon führende Rollen in der Weltbank, im italienischen Finanzministerium und der Notenbank, bei Goldman Sachs International in London und zuletzt als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt aus. Er steht für eine Politik, die den Finanzmärkten unbeschränkte Mittel zu ihrer Bereicherung zur Verfügung stellt. Berüchtigt ist Draghis Satz „Whatever it Takes“, mit dem er 2012 den Geldhahn der Zentralbank öffnete, als der Euro unter Druck geraten war. Die Folgen hat die europäische Arbeiterklasse in der Form immer neuer Spardiktate der EU zu tragen.
Konkret besteht die Aufgabe der Draghi-Regierung in Italien darin, den „EU-Aufbauplan“ gegen die arbeitende Bevölkerung durchzusetzen. Die Europäische Union, die Italien 209 Milliarden Euro als Corona-Hilfe gewährt, verlangt dafür, dass die Regierung die Wirtschaft, die Verwaltung, die Justiz und das Rentensystem Italiens „modernisiert“. Das bedeutet im Klartext, auch die letzten sozialen Rechte und Errungenschaften, die der Arbeiterklasse nach dreißig Jahren Sozialkahlschlag noch geblieben sind, systematisch zu schleifen und abzuschaffen.
Schon jetzt ist das Land ein soziales Pulverfass. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt laut dem Statistikamt Istat bei 9 Prozent. Mindestens weitere 12 Prozent sind „Working Poor“, die von ihrer Arbeit kaum leben können. Zudem liegt die Zahl der „Inaktiven“, d.h. der Menschen im arbeitsfähigen Alter, die nicht zu den „Arbeitsuchenden“ zählen, in Italien mit 35 Prozent ungewöhnlich hoch. Extrem hoch ist auch die Jugendarbeitslosigkeit, die 26,8 Prozent beträgt.
In der Corona-Pandemie hat sich die soziale Lage dramatisch verschlechtert. Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, ist im letzten Jahr auf einen historischen Höchststand gestiegen. Mehr als zwei Millionen Familien oder 5,6 Millionen Menschen gehörten 2020 in diese Kategorie; das waren eine Million Menschen mehr als im Vorjahr.
Wie die Zahlen zeigen, ist die Armut auch im relativ reicheren Norden angekommen. Dort wuchs die Zahl der absolut Armen sogar doppelt so stark wie im Süden. All diese Menschen, denen für ein normales Leben das Nötigste fehlt, werden zudem von der steigenden Inflation hart getroffen: Im Dezember stieg die Inflation mit offiziell 3,9 Prozent auf einen 13-jährigen Höchststand.
Die Regierung sitzt infolge ihrer Pandemiepolitik auf einem Berg von Leichen: Italien zählt derzeit 147.000 Corona-Tote bei einer Bevölkerung von 60 Millionen. Gleich zu Beginn der Pandemie war die Lage in einem Teil der Lombardei besonders krass, und Bilder aus Bergamo von Militärlastern voller Corona-Opfer gingen um die Welt.
Dies mag zu dem relativ hohen Impfstatus beigetragen haben: Mehr als 90 Prozent der über 12-Jährigen sind doppelt geimpft, zwei Drittel davon auch „geboostert“. Dies will die Regierung jetzt zum Anlass nehmen, der Omikron-Welle zum Trotz Ende März alle Corona-Maßnahmen aufzuheben. Diese rücksichtslose Durchseuchung schafft zusammen mit der sozialen Krise eine zunehmend explosive Lage.
Um den Widerstand gegen seine „Profite-vor-Leben“-Politik möglichst klein zu halten, hat Draghi vor genau einem Jahr Vertreter aller wichtigen Parteien in sein Kabinett berufen. Die Regierung, die nicht aus demokratischen Wahlen hervorging, zählt 23 Minister, 15 davon sind Parteienvertreter.
Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung (MfS) stellt mit Luigi di Maio den Außenminister. Die sozialdemokratischen Demokraten (PD) sind für Soziales und Verteidigung zuständig. Matteo Salvinis rechtsextreme Lega hält das Wirtschaftsministerium, während weitere Ministerposten der Forza Italia von Silvio Berlusconi unterstehen. Mehrere Schlüsselpositionen – Finanzen, Justiz und Inneres – sind parteilosen Technokraten anvertraut, die insgesamt acht Ministerposten bekleiden.
Das Gesundheitsministerium, das in der Pandemie besonders wichtig ist, wird von Roberto Speranza geleitet. Seine Partei Articolo 1 (mit Bezug auf Artikel 1 der italienischen Verfassung) ist eine Abspaltung von den Demokraten. Ihre Mitglieder waren früher in der KPI, SEL und Rifondazione. Articolo 1 ist Teil der Fraktion Liberi e Uguali (LeU) und wird von pseudolinken Gruppen unterstützt. Eine weitere PD-Abspaltung ist Italia Viva von Matteo Renzi, dessen Partei die Familienministerin stellt.
Die einzige Partei von nationaler Bedeutung, die nicht in der Regierung sitzt, ist Giorgia Melonis faschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI). Sie steht in der Tradition Benito Mussolinis, dessen Marsch auf Rom vor hundert Jahren den Auftakt für die faschistische Diktatur bildete. Ihr Wahlergebnis im Jahr 2018 betrug 4,4 Prozent, doch heute, nach vier Jahren als einzige Oppositionspartei, erreicht die FdI in Umfragen fünfmal so viel.
Eine neue Umfrage der Tageszeitung La Stampa hat nach der Präsidentenwahl ergeben, dass Melonis Faschisten mit 21,1 Prozent zur stärksten Partei aufgestiegen sind. Damit haben sie sowohl die Demokraten (20,8) als auch Salvinis Lega (18,2) überrundet, während die Fünf Sterne mit 14,2 Prozent nicht einmal mehr die Hälfte ihres Stimmergebnisses von 2018 erreichen. Schon im letzten Sommer hat die Neofaschistin Meloni sich als mögliche neue Regierungschefin ins Gespräch gebracht.
Die arbeiterfeindliche Offensive der Draghi-Regierung und der Aufstieg der Fratelli d’Italia machen deutlich, wie dringend eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse jetzt ist, die den Kampf gegen Durchseuchung, soziale Verelendung und Krieg entschlossen führt. Der Widerstand in der arbeitenden Bevölkerung wird täglich größer. So haben Mitte Oktober sofort Zehntausende gegen Faschismus demonstriert, als rechtsextreme Schlägerbanden eine Gewerkschaftszentrale angriffen und versuchten, das Parlament zu stürmen.
Es braucht jedoch eine Partei, die sich gegen die rechte Politik der PD, der Gewerkschaften und der Pseudolinken richtet und den Kampf für Sozialismus unabhängig von allen bürgerlichen Kräften führt. In Ermangelung einer solchen sozialistischen Perspektive für die Arbeiterklasse besteht die Gefahr, dass die Faschisten von der rechten Politik der offiziell als „links“ bezeichneten Politiker profitieren.
Überall stärkt die herrschende Klasse gezielt rechtsextreme und faschistische Kräfte, um ihre Politik der Durchseuchung, des Militarismus und der sozialen Angriffe gegen die enorme Opposition in der Bevölkerung durchzusetzen. Soll die gleiche herrschende Klasse, die Mussolini an die Macht gebracht hat, Italien nicht ein weiteres Mal in die Katastrophe stürzen, müssen Arbeiter jetzt handeln und eine Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufbauen.