Perspektive

Kein Krieg gegen Russland!

Stoppt die Kriegsoffensive der USA und Nato in der Ukraine

1. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und die World Socialist Web Site verurteilen unzweideutig die Versuche Washingtons und seiner Nato-Verbündeten, unter dem konstruierten Vorwand eines drohenden Überfalls auf die Ukraine einen Krieg gegen Russland anzuzetteln. Nach dem Motto „Die Russen kommen!“ hat die Biden-Regierung eine offenkundig absurde Darstellung zusammengeschustert, die keine einzige glaubwürdige Tatsache enthält und jeder politischen Logik ins Gesicht schlägt.

2. Die Behauptung, dass ein Krieg unmittelbar bevorstehe, wird ausschließlich von den Vereinigten Staaten und der Nato aufgestellt. Der russische Präsident Wladimir Putin hat niemals auch nur angedeutet, dass er entsprechende Absichten habe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestreitet, dass eine russische Invasion „unmittelbar bevorsteht“, und hat die USA und die Nato wiederholt aufgefordert, nicht weiter Panik zu schüren.

US-Soldaten während des Besuchs von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (mit Präsident Klaus Iohannis) auf dem Luftwaffenstützpunkt Mihail Kogalniceanu in Ostrumänien, 11. Februar 2022 (AP Photo/Andreea Alexandru)

3. Unaufhörlich wird die Öffentlichkeit von rückgratlosen Medien mit der abgedroschenen Propaganda der US-Regierung bombardiert. Hirnlose Moderatoren übernehmen bereitwillig die vorgefertigten Skripte, mit denen sie täglich vom US-Militär und den Geheimdiensten versorgt werden, und präsentieren sie als absolute Wahrheit. Vergessen ist die Lüge von den „Massenvernichtungswaffen“, mit der die katastrophale Invasion des Irak 2003 gerechtfertigt wurde. Keine einzige kritische Frage, keine einzige Stimme von Kriegsgegnern kommt in den Massenmedien zu Wort. Zur Begründung unbewiesener Behauptungen werden weitere unbewiesene Behauptungen angeführt. Ein Sprecher der Biden-Administration erklärte kürzlich bei einer Pressekonferenz unverblümt, dass eine Aussage der Regierung nicht belegt werden müsse. Eine solche Aussage sei sich selbst Beweis genug, da sie von der Regierung stamme.

4. Laut dem medialen Märchen aus der Feder der CIA reagieren Amerika und die Nato aus reiner Friedensliebe auf die plötzliche Gefahr einer russischen Invasion in der Ukraine. In Wirklichkeit ist die eskalierende Konfrontation das Ergebnis monatelanger intensiver Vorbereitungen seitens der Vereinigten Staaten und der Nato. In den letzten acht Monaten verlegte Washington 10.000 US-Soldaten auf seinen Stützpunkt im griechischen Alexandropoulis, übte im Rahmen von „Defender-Europe 21“ Kampfeinsätze in der Balkan- und Schwarzmeerregion und veranstaltete im Schwarzen Meer das größte „Sea-Breeze“-Marinemanöver aller Zeiten.

5. Wie alle Kriege der USA und der Nato wird auch der Konflikt um die Ukraine mit heuchlerischen Posen vorbereitet. Die Annexion der Krim und die Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine – beides Reaktionen Russlands auf den Putsch, mit dem die USA und Deutschland 2014 einen Regierungswechsel in der Ukraine erzwangen – werden als grobe Verletzungen der ukrainischen Souveränität dargestellt.

6. Die USA und die Nato proklamieren die Unantastbarkeit der Staatsgrenzen. Doch ungeachtet ihrer Bekenntnisse zu diesem Grundsatz haben sie selbst in den letzten 30 Jahren immer wieder Staatsgrenzen verletzt und neu gezogen. Die Vereinigten Staaten und die Nato hatten keine Achtung vor der Selbstbestimmung Jugoslawiens, das nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 zerstört wurde. Mit der Anerkennung Kroatiens als unabhängigem Staat bereiteten die USA und Deutschland den Boden für einen zehnjährigen ethnischen Krieg, der Zehntausende von Menschenleben kostete. 1999 warf die Nato-Koalition unter Führung der USA 78 Tage lang Bomben auf Serbien, um die Abspaltung des Kosovo zu unterstützen. Schließlich erlangte die Provinz ihre Unabhängigkeit unter einer Regierung aus Drogenbaronen.

7. Im Oktober 2001 marschierten die Vereinigten Staaten in Afghanistan ein und stürzten die Regierung. Im März 2003 folgte ein noch eklatanterer Verstoß gegen das Völkerrecht: der Einmarsch in den Irak und der Sturz der dortigen Regierung. Während der brutalen Besetzung des Irak schlug Antony Blinken, der heutige US-Außenminister, eine Dreiteilung des Landes vor. Ähnliche Pläne gab es im Zusammenhang mit dem US-Nato-Angriff auf Libyen im Jahr 2011, der zum Sturz der Regierung und zur Ermordung des Präsidenten führte – eine Bluttat, die von der damaligen Außenministerin Hillary Clinton mit Witzen und Gelächter begrüßt wurde. Auf diese Intervention folgte die Bombardierung Syriens durch die USA, die bis heute anhält.

8. Washingtons angebliche Sorge um die Demokratie in der Ukraine ist nicht weniger verlogen und heuchlerisch als sein Eintreten für die Selbstbestimmung des Landes. Die Regierung in Kiew, die ihre Existenz dem von den USA betriebenen Sturz einer gewählten Regierung verdankt, regiert im Namen einer oligarchischen Kleptokratie, die die ukrainische Arbeiterklasse unterdrückt. Die gesellschaftlichen Kräfte, auf die sich Selenskyj stützt, darunter paramilitärische Organisationen und rechtsextreme Gruppierungen, verströmen den altbekannten Modergeruch des Faschismus.

9. Die Kriegsvorbereitungen Washingtons sind von frenetischer Eile gekennzeichnet. Der Zeitplan scheint es nicht zuzulassen, Folgen abzuwägen oder Worst-Case-Szenarien offen anzusprechen. Am 10. Februar erklärte Biden vor der Presse, wenn Amerikaner und Russen anfangen, aufeinander zu schießen, bedeute dies „einen Weltkrieg“. Doch anstatt Maßnahmen zur Deeskalation zu ergreifen und eine solche Katastrophe zu verhindern, setzen die Vereinigten Staaten ihre Provokationen und Anschuldigungen fort. Sie behaupten sogar, das genaue Datum zu kennen, an dem Russland einmarschieren will: am 16. Februar 2022.

10. Die Vereinigten Staaten verfolgen ihre Interessen ohne jede Rücksicht auf Verluste. Der Kriegswahn Washingtons und seiner Nato-Verbündeten folgt einer objektiven Logik, die von zwei grundlegenden Faktoren bestimmt wird.

11. Erstens sind die Vereinigten Staaten seit 1991 davon besessen, die Möglichkeiten zur Ausplünderung und imperialistischen Expansion zu nutzen, die sich aus der Auflösung der Sowjetunion ergeben. Laut dem Strategieplan des Pentagons von 1992 würden die Vereinigten Staaten nicht zulassen, dass eine neue Macht entsteht, die ihre weltweite Vormachtstellung bedroht. Seit dreißig Jahren führt Washington einen Krieg nach dem anderen. Auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Nordafrika und Zentralasien wurden ganze Länder und Zivilisationen in Schutt und Asche gelegt. Je deutlicher Amerika seine wirtschaftliche Hegemonie einbüßte, desto mehr weitete es seine Kriegsziele auf die ganze Welt aus. Nun hat es Russland und China im Visier.

12. In seiner umfassenden Erklärung vom 18. Februar 2016, Sozialismus und der Kampf gegen Krieg, analysierte das Internationale Komitee der Vierten Internationale die globale Strategie des US-Imperialismus und seiner Nato-Verbündeten. Die wesentliche Ursache für Krieg, heißt es darin, „liegt in folgenden grundlegenden Widersprüchen des kapitalistischen Weltsystems: 1) im Widerspruch zwischen der globalen Integration und Verflechtung der Wirtschaft und ihrer Aufspaltung in Nationalstaaten mit gegensätzlichen Interessen; und 2) im Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der globalen Produktion und ihrer Unterordnung unter das Privateigentum an den Produktionsmitteln und unter die Akkumulation privaten Profits durch die herrschende Kapitalistenklasse.“

13. Im Zusammenhang mit diesen grundlegenden Widersprüchen erklärte das IKVI:

Im Zentrum der Kriegstreiberei stehen die Bemühungen der USA, ihre Stellung als globale Hegemonialmacht zu behaupten. Die Auflösung der Sowjetunion 1991 betrachteten die USA als Chance, auf der ganzen Welt eine unangefochtene Vormachtstellung zu beanspruchen. Die imperialistische Propaganda feierte dies als „Ende der Geschichte“, als „unipolaren Moment“, in dem die USA aufgrund ihrer unumstößlichen Macht eine neue Weltordnung im Interesse der Wall Street errichten würden. Die Sowjetunion hatte sich über weite Gebiete des Erdballs erstreckt, von der Ostgrenze Europas bis hin zum Pazifik. Und nun waren die riesigen Gebiete Eurasiens, mit einem entkräfteten Russland und den unabhängig gewordenen zentralasiatischen Staaten, wieder für die kapitalistische Ausplünderungen verfügbar. In China hatten die Stalinisten durch die Restauration des Kapitalismus, die Niederschlagung des Arbeiterwiderstands 1989 und die Öffnung von „Freihandelszonen“ für transnationale Investitionen ein enormes Reservoir billiger Arbeitskräfte geschaffen.

14. Die Behauptung, dass eine russische Invasion unmittelbar bevorstehe, und die Entsendung von US-Streitkräften in die Region zeigen, dass einflussreiche Teile der Wirtschafts- und Finanzelite und der Geheimdienste zu dem Schluss gelangt sind, dass die seit langem geplante Konfrontation mit Russland nicht länger hinausgeschoben werden kann. Der Hauptvorwurf, den die Demokratische Partei in den Jahren 2017 bis 2020 gegen Trump erhob, bezog sich nicht auf seine Angriffe auf die Verfassung und seine Diktaturvorbereitungen, sondern auf sein Versäumnis, Russland energisch genug entgegenzutreten. Das erste Amtsenthebungsverfahren gegen Trump, das von Dezember 2019 bis Februar 2020 stattfand, wurde von dem Vorwurf beherrscht, er habe der Ukraine Militärhilfe vorenthalten. Die Demokratische Partei prangerte Trump nicht als potenziellen faschistischen Diktator, sondern durchgängig als „Marionette Putins“ an.

15. Nun, da die Regierung Biden an der Macht ist, versucht sie, den Zeitverlust wieder aufzuholen. Die Berechnungen der USA und der Nato sind ebenso plump wie durchsichtig. Die Ukraine wird als Köder benutzt, um Russland in einen Krieg zu locken. Bidens wiederholte Hinweise auf eine russische „False-Flag-Operation“ erinnern an die wohlbekannte Taktik: „Haltet den Dieb!“ Wenn irgendein Land eine Operation unter „falscher Flagge“ plant, dann sind es die Vereinigten Staaten.

16. Ein beliebiger Zwischenfall in der Ukraine, wie dubios er auch sein mag, wird benutzt werden, um die Nato-Truppen zu aktivieren und offiziell oder faktisch einen Kriegszustand herbeizuführen. Das Pipelineprojekt Nord Stream 2, durch das Russland Erdgas nach Deutschland liefern sollte, wird eingestellt. Eingekreist von der Nato wird Russland mit einer endlosen, ständig wachsenden Liste von Forderungen konfrontiert werden, angefangen mit der bedingungslosen Rückgabe der Krim an die Ukraine. Der russische Einfluss in Belarus wird beendet werden. Sezessionistische Bewegungen in Russland, von Tschetschenien bis Sibirien, werden offen imperialistische Unterstützung erhalten. Das Endziel ist ein Regimewechsel in Moskau und die Aufteilung Russlands.

17. Das Beharren der Biden-Regierung auf dem „Recht“ der Ukraine, Mitglied der Nato zu werden, ist ein wesentliches Element der Strategie, Russland auf den Zustand völliger Ohnmacht zu reduzieren. Der mittlerweile verstorbene imperialistische Stratege und Kriegstreiber Zbigniew Brzezinski schrieb in seinem Buch The Grand Chessboard (1997), dass die Ukraine für Russland geopolitisch entscheidend sei, da sie über die Sicherheit seiner südlichen Grenzen und seinen Zugang zu warmen Meeren entscheide. Die Region, die die Ukraine, das Schwarze Meer und das Kaspische Meer umfasst, ist von ungeheurer geostrategischer Bedeutung und bildet die zentrale Achse für Washingtons Weltherrschaftspläne. Durch diese Region verläuft Russlands Zugang zum Mittelmeer ebenso wie der Landweg nach Europa, den China mit der neuen Seidenstraße ausbaut. Washingtons Kriegsziel besteht darin, Russland als Hindernis für die US-Hegemonie über die Schwarzmeer- und Kaspische Region und schließlich ganz Eurasien zu zerstören und das rohstoffreiche Land auf einen halbkolonialen Status herabzudrücken. Dies wird als ein notwendiger vorbereitender Schritt für einen Krieg gegen China angesehen.

18. Was den Drang zum Krieg zweitens auf die Spitze getrieben hat, ist eine unlösbare innenpolitische Krise. Die Eskalation der Kriegstreiberei unmittelbar nach dem Debakel in Afghanistan wurzelt in einer sozialen, finanziellen und politischen Krise von bisher nicht gekanntem Ausmaß.

19. Wie das Internationale Komitee seit ihrem Ausbruch im Januar 2020 betont, wird die Covid-19-Pandemie den Verlauf des 21. Jahrhunderts ebenso stark beeinflussen wie der Erste und der Zweite Weltkrieg den Verlauf des 20. Jahrhunderts. Die Pandemie ist ein auslösendes Ereignis, das die bereits weit fortgeschrittenen Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems zur Explosion bringt.

20. Der Preis, den die Welt bereits für die Pandemie bezahlt hat, ist erschütternd. Die konservativsten Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl der Todesopfer weltweit bei fast sechs Millionen liegt. Schätzungen auf der Grundlage der Übersterblichkeit gehen von dem Verlust von bis zu 20 Millionen Menschenleben aus. In den Vereinigten Staaten, dem reichsten und mächtigsten kapitalistischen Land, nähert sich die Zahl der Todesopfer einer Million.

21. Dieser verheerende Tribut ist das Ergebnis einer Politik, die die Rettung von Menschenleben dem Schutz und der Vermehrung des Reichtums der oligarchischen Kapitalistenklasse unterordnet. Obwohl die Pandemie weiterhin jede Woche Zehntausende von Menschenleben fordert, werden die Bemühungen zur Eindämmung von Covid-19 explizit aufgegeben. Auf der ganzen Welt, allen voran in Washington, behandeln die Regierungen nun Tausende von Todesfällen pro Tag als normal und gehen dazu über, die Meldung der Infektions- und Todeszahlen einzustellen.

22. In allen kapitalistischen Ländern hat die Pandemie die inneren finanziellen, politischen und sozialen Krisen verschärft. In den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, nimmt die Krise besonders üble Formen an.

23. Die Vereinigten Staaten steuern rasch auf die vollständige wirtschaftliche, soziale und politische Dysfunktionalität zu. Die Inflation schießt in die Höhe, und die Staatsverschuldung, die größtenteils durch die Versorgung der Banken und der Wall Street mit immer neuem Geld entstanden ist, hat die schwindelerregende Höhe von 30 Billionen Dollar erreicht. Die Arbeiterklasse tritt in einen offenen und potenziell explosiven Kampf ein. Vor gerade erst einem Jahr waren die USA bei dem Putschversuch vom 6. Januar 2021 nur wenige Minuten vom Sturz der verfassungsmäßigen Regierung entfernt.

24. Auf einer Pressekonferenz im letzten Monat bezeichnete es Biden als fraglich, ob die Demokratie in den USA dieses Jahrzehnt überleben werde. In keinem anderen Land gibt es ein solches Ausmaß an sozialer Ungleichheit oder eine herrschende Klasse, die sich so wenig um die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung schert. Die Vereinigten Staaten sind ein soziales Pulverfass. Krieg ist ein Mittel, um eine künstliche Einheit herzustellen und Krisen nach außen zu lenken.

25. Bei der Erforschung der Ursachen von Kriegen haben viele seriöse Historiker die vorrangige Bedeutung innerer Widersprüche betont. Der bekannte amerikanische Historiker Arno Mayer stellte vor fünfzig Jahren in einer Studie über die Dynamik der Konterrevolution fest, dass

angespannte und instabile innere Verhältnisse dazu führen, dass die Eliten ausgesprochen unnachgiebig werden und zu außergewöhnlich drastischen, um nicht zu sagen extravaganten und gefährlichen Präventivlösungen neigen. Bedrängte und verwundbare Regierungen und politische Klassen sind eher für eine Verschärfung externer Konflikte oder Kriege, als dagegen. Aus Reflex und Kalkül gehen sie davon aus, dass die Mitglieder eines zutiefst zerrissenen Gemeinwesens und einer gespaltenen Gesellschaft an einem Strang ziehen werden, sobald sie einer gemeinsamen und unmittelbaren äußeren Bedrohung und einem Feind gegenüberstehen. Solche Regierungen neigen dazu, zugespitzte äußere Konflikte oder Kriege als Instrument des inneren gesellschaftlichen Zusammenhalts einzusetzen, als Gegenmittel zu Aufständen, Revolutionen, Bürgerkriegen oder Abspaltungen, die angeblich unmittelbar bevorstehen. Letztlich geht es darum, aus einem eindrucksvollen diplomatischen oder militärischen Sieg Kapital zu schlagen, um die nachlassende Macht und das schwindende Prestige von im Innern geschwächten Regimen, Regierungen und Eliten wiederherzustellen, vorzugsweise zu steigern.

26. Die europäische Bourgeoisie, die die Katastrophe der beiden Weltkriege nur knapp überlebt hat, ist größerer Vorsicht zugeneigt. Dennoch schließt sie sich der Kriegstreiberei Washingtons an, obwohl ein Krieg um die Ukraine ihre eigenen Interessen katastrophal schädigen könnte, da sie in Bezug auf Erdgas und andere Ressourcen von Russland abhängig ist. Die Regierungen Europas sind mit massiven internen Krisen konfrontiert, die sie auf denselben verhängnisvollen Weg treiben. Außerdem wissen sie, dass eine direkte Herausforderung der amerikanischen Agenda verheerende Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde. Im Jahr 2003 bekundeten Deutschland und Frankreich offiziell ihr Zögern, die US-Invasion im Irak zu unterstützen. Daraufhin griff Washington seine langjährigen Verbündeten offen an und drohte, künftig nicht mehr so sehr mit den zentralen Ländern des „alten Europas“ zusammenzuarbeiten, sondern eher mit den osteuropäischen Staaten, die kurz zuvor in die Nato aufgenommen worden waren. Außerdem befürchtet die europäische Bourgeoisie, dass sie im Falle von Widerstand gegen die Vereinigten Staaten von der Aufteilung der Beute ausgeschlossen werden könnte, die bei einer möglichen Neuordnung Russlands zu erwarten ist. Und so schließt sie sich gefügig den Kriegsvorbereitungen an.

27. Doch was den Strategen in Washington und den europäischen Hauptstädten auch immer vorschweben mag, Krieg wird keines ihrer Probleme lösen. Die Verbrecher, die solche Katastrophen anzetteln, werden zu ihrem Leidwesen entdecken, dass diejenigen, die Wind säen, in der Tat Sturm ernten.

28. Ein Krieg mit Russland in der Ukraine, wie auch immer er beginnt oder in den Anfangsphasen verläuft, wird sich nicht eindämmen lassen. Er wird sich nach einer unkontrollierbaren Logik ausweiten. Jeder Staat in der Region wird in den Konflikt hineingezogen werden. Das Schwarze Meer mit seinen sieben Anrainerstaaten wird sich in einen Hexenkessel eskalierender Konflikte verwandeln, die sich über Transkaukasien, die Region des Kaspischen Meeres, Zentralasien und darüber hinaus ausbreiten.

29. China würde seine Interessen unmittelbar bedroht sehen und in den Krieg hineingezogen werden. Es würde zu einem Konflikt um Taiwan kommen. Der Iran und Israel würden in den Krieg verwickelt werden. Japan und Australien würden rasch folgen. Irgendwann würde der Einsatz von Atomwaffen als Ausweg gesehen. Und an jedem Schauplatz dieses Krieges wären die Vereinigten Staaten zentral beteiligt, was verheerende Verluste an Menschenleben und massive soziale Verwerfungen zur Folge hätte.

30. Seit der Auflösung der UdSSR sind etwas mehr als 30 Jahre vergangen. Damals, 1992, verkündeten die stalinistischen Bürokraten in Moskau und Kiew, dass die Wiederherstellung des Kapitalismus eine neue Ära beispiellosen Wohlstands einläuten würde. Sowohl Russland als auch die Ukraine würden, nachdem sie dem Irrglauben des Marxismus abgeschworen hätten, in den Genuss nie dagewesenen Wohlstands gelangen und in die glückliche Familie der friedliebenden kapitalistischen Nationen aufgenommen werden.

31. Dieser ahistorische und utopische Wahn – hervorgegangen aus den stalinistischen Rezepten aus der Zeit vor 1991, dem „Sozialismus in einem Land“ und der „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus – hat sich restlos verflüchtigt. Die russische Regierung, ein erbitterter Feind des Marxismus und von allem, was mit der Oktoberrevolution von 1917 verbunden ist, sieht sich nun mit der Realität der Unterjochung durch den Imperialismus konfrontiert.

32. Das Putin-Regime, das im Namen einer korrupten kapitalistischen Oligarchie regiert, hat keine praktikable, geschweige denn progressive Antwort auf diese Bedrohung. Die Vorstellung, Russland könne auf friedlichem Wege in die Strukturen des von den USA und den imperialistischen Großmächten dominierten Weltkapitalismus integriert werden, hat sich als Illusion erwiesen. Die russische Wirtschaft spielt im internationalen Finanzsystem eine zu vernachlässigende Rolle und steht unter dem ständigen Druck der von den Vereinigten Staaten verhängten Sanktionen.

33. Die Beschwörung eines reaktionären Nationalismus findet bei der Bevölkerung der Nachbarländer keinen Widerhall und vertieft Russlands Isolation. Die einzige Aussicht, die Putin mit seinem nuklearen Säbelrasseln eröffnet, ist die auf ein globales Armageddon. Er hält sich mühevoll an der Macht, während sein Land von einer Pandemie heimgesucht wird, die alle Widersprüche der geschundenen postsowjetischen Gesellschaft verschärft hat. Putin ist gezwungen, zwischen widerstreitenden Fraktionen der kapitalistischen Elite zu balancieren: die einen sind bereit, sich mit dem Status von Kompradoren-Kapitalisten unter der Vorherrschaft des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus abzufinden, und die anderen sehen im Fall einer Kapitulation ihre Interessen gefährdet. Zu den Letztgenannten gehören ultranationalistische und rechtsextreme Kräfte, deren Konzept der nationalen Verteidigung letztlich aus einer selbstmörderischen Politik unter Einsatz von Atomwaffen besteht.

34. Die Opposition des Internationalen Komitees gegen Krieg beruht nicht auf Unterstützung irgendeines Nationalismus, sondern auf dem Kampf zur Vereinigung der Arbeiterklasse aller Länder, um den Kapitalismus zu stürzen und den Weltsozialismus aufzubauen. Dieser wesentliche Grundsatz gilt in der gegenwärtigen Situation stärker denn je.

35. Die ukrainische und die russische Arbeiterklasse haben eine gemeinsame Geschichte. Sie wollen keinen Bruderkrieg. Die revolutionäre Bewegung in der Ukraine brachte viele der größten Führer des Kampfs für den Sozialismus hervor, darunter Leo Trotzki. Die Arbeiter der Ukraine und Russlands kämpften als Genossen für den Sturz des Zarismus und den Sieg der Oktoberrevolution. Sie kämpften gemeinsam gegen den deutschen Imperialismus. Die Arbeiter Russlands und der Ukraine wurden beide Opfer der Verbrechen des stalinistischen Regimes, und beide leiden unter den Folgen der kapitalistischen Restauration. Die faschistischen Nationalisten, die es in beiden Ländern gibt, vertreten nicht die Interessen der Arbeiterklasse und sprechen nicht für sie.

36. Damit die Arbeiterklasse Russlands und der Ukraine einen Ausweg finden kann, braucht sie eine globale Perspektive. Vor allem bedeutet Opposition gegen Putin nicht, sich mit dem Imperialismus zu verbünden. Wenn die Pseudolinken den russischen und chinesischen „Imperialismus“ anprangern, hat dies nichts mit der historischen Entwicklung des 20. und 21. Jahrhunderts zu tun. Es liegt einfach daran, dass sich diese kleinbürgerlichen Kräfte auf die Seite Washingtons stellen. Es ist notwendig, dem Imperialismus entgegenzutreten, ohne sich an den russischen Nationalismus anzupassen, und dem russischen Nationalismus entgegenzutreten, ohne sich an den Imperialismus anzupassen.

37. Unabhängig vom unmittelbaren Ausgang der derzeitigen Spannungen gibt es keine friedliche Lösung für diese Krise. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und des Zweiten Weltkriegs 1939 kam es zu zahlreichen Krisen, die in einen Krieg umzuschlagen drohten. Kaum war eine Krise gelöst, folgte bald die nächste, und schließlich kam es zum Krieg.

38. Die gegenwärtige Krise ist eine ernste Warnung. Der Imperialismus schlittert in eine Katastrophe. Die gesellschaftliche Kraft, die mobilisiert werden muss, um die Katastrophe aufzuhalten, die in der Ukraine vorbereitet wird, ist die internationale Arbeiterklasse. Der Kampf gegen Krieg ist unmittelbar mit dem Kampf gegen Ausbeutung und die mörderische Durchseuchungspolitik der kapitalistischen Regierungen verbunden. Der Imperialismus und das Finanzkapital werden so viele Tote in Kauf nehmen, wie es nötig ist, um ihre Plünderung und ihre Profite zu sichern. Es darf nicht zugelassen werden, dass zu den Millionen Toten der Pandemie noch Millionen von Kriegstoten hinzukommen. Es ist dringend notwendig, dass die Arbeiter eine unabhängige Antikriegsbewegung aufbauen, die sich auf eine sozialistische und internationalistische Perspektive stützt.

39. Die Grundsätze, von denen der Kampf gegen den Imperialismus und seinen Drang zu einem Weltkrieg ausgehen muss, hat das Internationale Komitee in einer Erklärung von 2016 dargelegt. Sie gewinnen in der gegenwärtigen Krise größte Dringlichkeit:

  • Der Kampf gegen Krieg muss von der Arbeiterklasse ausgehen, die als revolutionäre gesellschaftliche Kraft alle fortschrittlichen Teile der Bevölkerung hinter sich vereint.
  • Die neue Bewegung gegen Krieg muss antikapitalistisch und sozialistisch sein, denn man kann nicht ernsthaft gegen Krieg kämpfen, ohne danach zu streben, der Diktatur des Finanzkapitals und dem Wirtschaftssystem, das die Ursache für Militarismus und Krieg bildet, ein Ende zu setzen.
  • Aus diesem Grund muss die neue Antikriegsbewegung unbedingt vollkommen unabhängig sein von allen politischen Parteien und Organisationen der Kapitalistenklasse und diese ablehnen.
  • Vor allem muss die neue Antikriegsbewegung international sein und dem Imperialismus in einem vereinten globalen Kampf die enorme Kraft der Arbeiterklasse entgegenstellen.

40. Wir appellieren an alle Teile der Arbeiterklasse und der Jugend und auch an die aufrichtigsten und mutigsten Teile der Mittelschicht, auf der Grundlage dieser Prinzipien gegen die Kriegsgefahr zu kämpfen.

41. Auf der Grundlage der in dieser Erklärung dargelegten Prinzipien begrüßen das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen Diskussionen mit politischen Strömungen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt, die erkennen, dass dringend eine internationale Massenbewegung gegen den Krieg aufgebaut werden muss.

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