Der Rauswurf Gergievs und die ideologische Mobilmachung für den Krieg gegen Russland

Der brutale Rausschmiss des weltbekannten Dirigenten Valery Gergiev am Dienstag in München ist die Spitze einer beispiellosen Hetzkampagne gegen alles Russische.

Regierungen, Medien, Universitäten, Kultur- und Sportfunktionäre verlangen von russischen Künstlern, Wissenschaftlern und Athleten öffentliche Bekenntnisse gegen ihre Regierung, sonst werden sie fristlos entlassen. Andere verlieren allein deshalb ihren Job oder werden von Veranstaltungen ausgeschlossen, weil sie einen russischen Pass besitzen. Russische Filme und Bücher kommen auf den Index, russische Geschäfte werden beschmiert und russische Waren boykottiert. Rewe, Edeka und Aldi nehmen russische Produkte aus dem Regal.

Seit der Bücherverbrennung der Nazis und ihrer antisemitischen Hetzkampagne „Kauft nicht bei den Juden!“ hat man so etwas in Deutschland nicht gesehen. Dabei stört es die Verantwortlichen nicht, dass sie mit ihrem Gesinnungsdiktat eben jene Methoden einführen, die sie dem russischen Präidenten Wladimir Putin vorwerfen.

Nur Stunden nachdem russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten hatten, stellte der sozialdemokratische Oberbürgermeister von München, Dieter Reiter, dem Chefdirigenten der Philharmoniker ein Ultimatum. Entweder er distanziere sich klar und deutlich von Putin, oder er fliege raus.

Als Gergiev nicht reagierte, wurden am Dienstag alle Verträge mit ihm fristlos gekündigt. Zuvor hatten bereits die Mailänder Scala, die Wiener Philharmoniker und das Luzern-Festival die Zusammenarbeit mit dem russischen Dirigenten für beendet erklärt und die New Yorker Carnegie Hall ein Konzert mit Gergiev und den Wiener Philharmonikern abgesagt.

Es folgte die Star-Sopranistin Anna Netrebko. Sie hatte unmittelbar nach dem Einmarsch in die Ukraine in den sozialen Netzwerken eine Erklärung abgegeben: „Ich bin gegen diesen Krieg. Ich bin Russin und ich liebe mein Land, aber ich habe viele Freunde in der Ukraine, und der Schmerz und das Leiden brechen mir momentan das Herz. Ich möchte, dass dieser Krieg endet und die Menschen in Frieden leben können. Darauf hoffe ich und dafür bete ich.“

Netrebko fügte hinzu, sie finde es nicht richtig, dass Künstler oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unter Zwang gesetzt würden, öffentlich politisch Stellung zu beziehen und ihre Heimat anzuprangern. Das solle jeder frei entscheiden können. Wie viele ihrer Kollegen und Kolleginnen sei sie kein politischer Mensch. „Ich bin keine Expertin für Politik. Ich bin Künstlerin und mein Ziel ist es, Menschen über politische Gräben hinweg zu vereinen“, schrieb sie und kündigte an, „bis auf Weiteres“ nicht aufzutreten.

Aber das genügte der Leitung der Bayerischen Staatsoper nicht. Sie kündigte alle Verträge mit Netrebko und annullierte ihr Engagement mit der Begründung, die Distanzierung der Sängerin vom russischen Angriffskrieg sei nicht ausreichend.

Dann ging es Schlag auf Schlag.

  • Die Europäische Filmakademie schloss sich dem Boykottaufruf der Ukrainischen Filmakademie an und erklärte, russische Filme würden „von den diesjährigen European Film Awards ausgeschlossen“. Die ukrainische Filmakademie hatte ihren Boykottaufruf unter anderem damit begründet, dass russische Filme „Propagandabotschaften“ verbreiteten und „die Loyalität der russischen Kultur, der Kultur des Aggressors“, stärkten. Sie verlangte außerdem, keine Filme mehr zu vertreiben, in denen „Schauspieler und öffentliche Personen“ auftreten, die den Krieg gegen die Ukraine unterstützen.
  • Das Filmfestival von Cannes erklärte, russische Delegationen und Personen, die der russischen Regierung nahestehen, seien beim nächsten Festival nicht willkommen.
  • Am Mittwoch berichtete das Börsenblatt, das Fachmagazin der Buchbranche, die großen ukrainischen Buchzentren – das Ukrainische Buchinstitut, das Lviv International BookForum, PEN Ukraine und das Book Arsenal in Kiew – riefen dazu auf, weltweit alle russischen Bücher und Verlage zu boykottieren. Das Börsenblatt unterstützte den Aufruf.
  • Die Frankfurter Buchmesse schloss sich der Initiative an, russische Verlage auf internationalen Buchmessen zu boykottieren. Als sich dagegen ein Sturm der Entrüstung erhob, sah sich die Messeleitung zur Mitteilung gezwungen, dass Einzelstände russischer Verlage auf der kommenden Buchmesse zugelassen würden. Aber einen russischen Gemeinschaftsstand und die dafür erforderliche Zusammenarbeit mit staatlichen russischen Institutionen werde es nicht geben.
  • Auch in der Wissenschaft tobt die Russen-Hetze. „Sämtliche Aktivitäten mit Russland – auch die institutionellen und strategischen Verbindungen mit russischen Einrichtungen – werden bis auf Weiteres ruhen“, teilt das Präsidium der Technischen Universität Berlin am Sonntag nach einer Sondersitzung mit. „Neue Projekte werden nicht starten.“
  • Die FU (Freie Universität Berlin) setzte alle Beziehungen zu wissenschaftlichen Einrichtungen in Russland vorerst aus. Die Strategische Partnerschaft mit der Universität St. Petersburg lässt sie vorerst ruhen. Das gelte auch für das im Dezember virtuell eröffnete Büro der russischen Uni auf dem Dahlemer Campus. Das Verbindungsbüro der Freien Universität in Moskau wird geschlossen.

Viele Menschen reagieren entsetzt und schockiert auf diese Entwicklung. In den Sozialen Medien häufen sich Kommentare wie: „Seid ihr wahnsinnig? – Das hatten wir doch alles schon einmal“, oder: „Wie entsetzlich! Wiederholt sich jetzt die Geschichte?“ Viele erinnern sich daran, dass das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte damit begann, dass Juden allein aufgrund ihrer Herkunft und ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt wurden.

Als ein Gastwirt in Süddeutschland auf seiner Facebook-Seite bekannt gab, er werde künftig Menschen mit russischem Pass den Zutritt zu seinem Restaurant verweigern, erntete er einen medialen Shitstorm und Proteste vor der Haustür. Trotz rascher Entschuldigung verlor er einen Großteil seiner Stammkunden.

Die Leitung der Frankfurter Buchmesse bekräftigte gestern nach anhaltendem Protest ihre Entscheidung, den offiziellen russischen Stand von der Buchmesse auszuschließen. Sie begründete dies damit, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine ein „unvergleichlicher Vorgang in der jüngeren europäischen Geschichte“ sei und der Ausschluss des russischen Stands dazu diene, die russische liberale Öffentlichkeit zu unterstützen.

Diese Begründung ist falsch und verlogen. Die Behauptung, der Ausschluss des russischen Stands diene der Verteidigung der Meinungsfreiheit in Russland, ist schlicht absurd. Das Gegenteil ist der Fall. Genau wie die Entlassung von Gergiev und Netrebko dient der Boykott der russischen Literatur der Abschaffung der Meinungsfreiheit und der Einführung von Sippenhaft.

Als die Bundeswehr 1999 in ihrem ersten internationalen Kriegseinsatz die Bombardierung der serbischen Hauptstadt Belgrad unterstützte, riefen die Kulturfunktionäre nicht zum Boykott auf. Stattdessen entfesselten sie eine Kampagne gegen Peter Handke, einen der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die es wagten, öffentlich gegen diesen barbarischen Akt zu protestieren.

Auch der 84-jährige Nobelpreisträger Günter Grass wurde 2012 zum Ziel einer wütenden Hetzkampagne, als er in einem Gedicht den israelischen Bombenterror gegen die Palästinenser im Gaza kritisierte.

Als die USA und ihre Nato-Verbündeten Afghanistan, Irak und Libyen überfielen und den Bürgerkrieg in Syrien anheizten – Kriege, die über eine Million Opfer forderten und weitere Millionen in die Flucht trieben – schloss die Buchmesse weder die Amerikaner noch die Briten aus und verlangte von Künstlern auch keine politischen Bekenntnisse.

Auch der jetzige Krieg in der Ukraine – so reaktionär und verurteilenswert das Vorgehen Russlands ist – geht keineswegs nur auf Putin zurück. Durch ihre zahlreichen Kriege, die militärische Einkreisung Russlands und die Unterstützung des rechten Putsches in Kiew vor acht Jahren haben ihn die USA und die Nato systematisch provoziert. Nun überfluten sie das Land mit Waffen und verwandeln es in ein Eldorado für internationale Söldner und faschistische Milizen, um den Krieg so blutig wie möglich zu gestalten.

Die USA, Deutschland und die Nato verfolgen das Ziel, auch in Moskau ein Regime zu installieren, das ihnen zu Diensten ist, Russland als strategischen Rivalen auszuschalten und unbeschränkten Zugang zu seinen gewaltigen Bodenschätzen zu bekommen. Die deutsche Regierung nutzt den Krieg in der Ukraine als willkommenen Anlass, alle Einschränkungen der Vergangenheit abzuschütteln und sich zur stärksten Militärmacht Europas aufzuschwingen.

Als Kanzler Scholz am vergangenen Sonntag seine Kriegsrede im Parlament hielt und das größte Aufrüstungsprogramm seit Hitler sowie direkte Waffenlieferungen in die Ukraine ankündigte, herrschte unter den Abgeordneten Euphorie. Die stehenden Ovationen nahmen kein Ende. Jeder, der sich dem entgegenstellt, soll eingeschüchtert werden. Die Russen-Hetze dient der ideologischen Mobilmachung für den seit langem vorbereiteten Krieg der Nato gegen Russland.

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