Am Montag und Dienstag beteiligen sich in ganz Indien Millionen von Arbeitern an einem zweitägigen Generalstreik gegen die immer heftigeren Angriffe der rechtsradikalen Regierung von Narendra Modi und der Bharatiya Janata Party (BJP) auf ihre sozialen und demokratischen Rechte.
An dem Streik beteiligen sich Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Kohle- und Kupferbergarbeiter, Stahl-, Öl-, Telekommunikations- und Postarbeiter sowie Beschäftigte des ländlichen Gesundheitsdienstes ASHA. Mit einer besonders hohen Beteiligung wird in den Unternehmen in öffentlicher Hand gerechnet, die privatisiert werden sollen, darunter Coal India, die Life Insurance Corporation of India und die staatseigenen Banken.
Der Streik wird sich über die Kasten- und kommunalistischen Spaltungen hinwegsetzen, die von der herrschenden Elite Indiens und ihren politischen Vertretern systematisch gefördert werden, und eindrücklich die objektive Einheit der Arbeiterklasse demonstrieren.
In der indischen Bevölkerung herrscht immense Wut über Massenarbeitslosigkeit, die stark steigenden Preise für Lebensmittel und Treibstoff, die endemische Armut und das Fehlen selbst der grundlegendsten staatlichen Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung. All diese gesellschaftlichen Probleme wurden durch die verheerende Reaktion der herrschenden Klasse auf die Corona-Pandemie verschlimmert, die von Modis BJP und allen Bundesstaatsregierungen unter Führung der Oppositionsparteien umgesetzt wurde.
Im Laufe des vergangenen Jahres haben Arbeiter versucht, ihre Klasseninteressen durch eine wachsende Welle von Streiks und Protesten durchzusetzen. Im letzten Mai konnten Autoarbeiter kurzzeitig die Produktion in den Autowerken von Ford, Hyundai und Renault-Nissan in den Vororten von Chennai (Tamil Nadu) zum Erliegen bringen, um Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 durchzusetzen. Besonders wichtig ist der Streik von 75.000 Beschäftigten des Verkehrsbetriebs Maharashtra State Road Transport Corporation (MSRTC) seit letztem November gegen die Pläne, den Intercity-Busbetrieb zu privatisieren, und um die regelmäßige Zahlung ihrer Löhne durchzusetzen. Die Arbeiter haben sich dabei gegen Repressalien des Managements und Drohungen der Regierung sowie gegen die Sabotage durch die mehr als zwei Dutzend Gewerkschaften durchgesetzt, von denen sie angeblich repräsentiert werden. Schon vor Beginn des Streiks hatten Letztere den Beschäftigten bei MSRTC befohlen, sich an eine gerichtliche Verfügung zu halten, die ihren Streik für illegal erklärte.
Die Bedingungen sind mehr als reif für eine Vereinigung der getrennten Kämpfe der Arbeiter – gegen prekäre Zeitarbeitsverträge, Privatisierungen und Armutslöhne sowie für Sozial- und Gesundheitsvorsorge gegen die Pandemie und gegen die Arbeitslosigkeit – zu einer Gegenoffensive der Arbeiterklasse und zur Mobilisierung der Landarbeiter und städtischen Armen hinter dieser Offensive.
Doch für die zehn Gewerkschaftsbünde, die zu dem zweitägigen landesweiten Streik aufgerufen haben, ist er kein Schritt auf dem Weg zur industriellen und politischen Massenmobilisierung der Arbeiterklasse gegen die Modi-Regierung und den indischen Kapitalismus. Vielmehr haben sie diesen Streik ebenso wie ähnliche Proteststreiks, die seit einem Jahrzehnt fast jährlich stattfinden, organisiert, um den Klassenkampf zu unterdrücken anstatt ihn zu entwickeln. Sie wollen die Arbeiter dazu bringen, sinnlose Versuche zu unternehmen, die Modi-Regierung zur Übernahme einer „volksfreundlichen“ Politik zu bewegen. Zudem wollen sie selbst in der nächsten Parlamentswahl im Jahr 2024 eine andere rechte kapitalistische Regierung an die Macht bringen.
Das gilt für den Indian National Trade Union Congress (INTUC), die Gewerkschaft der Kongresspartei, die bis vor kurzem die bevorzugte Regierungspartei der indischen Bourgeoisie war, und ebenso für die Labour Progressive Front (LPF), die der rechten regionalchauvinistischen Regierungspartei von Tamil Nadu, der DMK, nahesteht. Besonders gilt das für das Centre of Indian Trade Unions (CITU) und den All-India Trades Union Congress (AITUC), die Gewerkschaftsableger der beiden stalinistischen Zwillingsparteien im Parlament: der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten), CPM, und der Kommunistischen Partei Indiens (CPI).
Profite vor Leben
Genau wie die imperialistischen Regierungen in Nordamerika und Europa haben auch die indischen Regierungen zu jedem Zeitpunkt der Pandemie dem Schutz der Profite des Großkapitals und der Vermögen der Investoren Vorrang vor der Rettung von Menschenleben eingeräumt. Auf einen kurzen, schlecht vorbereiteten landesweiten Lockdown im Frühjahr 2020, bei dem die Masse der Bevölkerung über Nacht sämtliche Einnahmequellen verlor und faktisch ihrem Schicksal überlassen wurde, folgte ein mörderischer Kurs mit dem Ziel, um jeden Preis „die Wirtschaft in Gang zu halten“. Als Indien im letzten Frühjahr von der katastrophalen zweiten Welle von Masseninfektionen und Todesfällen durch die Delta-Variante verwüstet wurde, versprach Modi öffentlich, er werde Indien „vor dem Lockdown retten“ – nicht jedoch vor dem tödlichen Virus.
Offiziell sind in Indien 521.000 Menschen an Covid-19 gestorben, doch jeder außer der Modi-Regierung und ihren Sprachrohren in den Mainstreammedien gibt zu, dass diese Zahl in Wirklichkeit viel höher liegt. Zahlreiche Studien zur Übersterblichkeit deuten darauf hin, dass in Indien in Wirklichkeit mehr als vier Millionen Menschen an Covid-19 gestorben sind.
Begleitet wurde die Corona-Pandemie von einer Pandemie der Arbeitslosigkeit und des Hungers.
Viele von den Dutzenden Millionen Arbeitsplätzen, die in den schlimmsten Phasen der Pandemie vernichtet wurden, sind nicht wiederhergestellt worden. Laut dem Centre for Monitoring Indian Economy haben acht Prozent der indischen Haushalte kein einziges „wirtschaftlich aktives“ Mitglied (d.h. als Arbeiter, Bauer, Straßenhändler oder Unternehmer), in 68 Prozent der Haushalte ist nur eine Person wirtschaftlich aktiv. Und das in einem Land, in dem die meisten Menschen in großen Mehrgenerationen-Haushalten leben und in dem es keine staatliche Arbeitslosenhilfe gibt.
Im ersten Jahr der Pandemie lebten laut einer Studie der Universität Azim Premji 230 Millionen Inder von 375 Rupien (umgerechnet fünf US-Dollar) pro Tag. Am stärksten betroffen waren die ärmsten Teile der Arbeiterklasse. Laut einer Umfrage von People’s Research on Indian’s Economy sind die Einkommen der ärmsten 20 Prozent der indischen Haushalte zwischen 2015–16 und 2020–21 um durchschnittlich mehr als 50 Prozent gesunken.
Die Vermögen der indischen Reichen und Superreichen hingegen sind angeschwollen – in der Pandemie mehr denn je zuvor. Im Jahr 2021 stieg die Zahl der Milliardäre in Indien von 102 auf 142 (Forbes) oder um 51 auf mehr als 250 (Harun Global Rich List). Die 98 reichsten Milliardäre besitzen laut dem aktuellen Oxfam-Bericht „Inequality Kills“ so viel Vermögen wie die ärmsten 40 Prozent der indischen Bevölkerung, bzw. wie die ärmsten 555 Millionen Einwohner Indiens.
Die verheerende „Profite vor Leben“-Politik der Modi-Regierung war die Speerspitze einer verschärften Klassenkriegsoffensive auf die Arbeiterklasse. Um den Wirtschaftsaufschwung nach der Pandemie zu fördern, hat sie eine ganze Reihe von umfangreichen „Wirtschaftsreformen“ umgesetzt, um die Profite der Investoren und die Ausbeutung der Arbeiter dramatisch zu erhöhen. Einige dieser Maßnahmen waren: weitere Steuersenkungen und Subventionen für das Großkapital, eine „Reform“ des Arbeitsrechts, mit der befristete und „Hire-and-Fire“- Arbeitsverhältnisse gefördert und die meisten Arbeitskämpfe für illegal erklärt werden und ein massiver Notverkauf von Staatsvermögen, durch den nur eine Handvoll von Firmen in „strategischen Sektoren“ der Privatisierung entgehen.
Um diese Maßnahmen der sozialen Brandstiftung umzusetzen, schüren Modi und seine hindu-chauvinistische BJP den Kommunalismus, um die Arbeiterklasse zu spalten, und setzen zunehmend auf autoritäre Maßnahmen. Beispielhaft dafür war der Verfassungsputsch gegen Jammu und Kaschmir im August 2019, durch den dem einzigen mehrheitlich muslimischen Bundesstaat Indiens sein verfassungsmäßiger Sonderstatus aberkannt wurde. Stattdessen wurde er zu einem Unionsterritorium und damit dauerhaft der Herrschaft der Zentralregierung unterstellt. Letzten August setzte Modi den Essential Defence Service Act ohne Debatte im Parlament durch, um alle Streiks in der Rüstungsindustrie zu verbieten.
Die Gewerkschaftsverbände, die zum Generalstreik am 28. und 29. März aufgerufen haben, erheben verschiedene Forderungen, in denen sich die Probleme der Arbeiter ausdrücken, darunter die Aufhebung der neuen Arbeitsgesetze, die Umwandlung aller befristeten in feste Arbeitsverhältnisse, die Bereitstellung von Schutzkleidung, Kranken- und Lebensversicherung für alle Arbeiter an der Pandemiefront und eine allgemeine Sozialversicherung für die 90 Prozent der Arbeiter, die als Tagelöhner oder Kleinunternehmer im so genannten informellen Sektor tätig sind.
Doch die Gewerkschaften und die stalinistischen „linken“ Parteien erheben diese Forderungen, um die Arbeiterklasse im Rahmen von Protesten zugunsten der etablierten und parlamentarischen Politik gefangen zu halten. Vor allem die Stalinisten agitieren gegen die BJP und bezeichnen sie als „Hindu-faschistisch“. Sie wollen die Arbeiterklasse jedoch nicht zum Kampf mobilisieren, sondern sie an den Staat und die korrupten, durch und durch rechten „säkularen“ Parteien des Großkapitals binden, zuvorderst die dynastische, von den Nehru- und Gandhi-Familien geführte Kongresspartei.
Indien und der Nato-Krieg gegen Russland
Bezeichnenderweise schweigen sich die Gewerkschaften, einschließlich der mit den Stalinisten verbundenen CITU und AITUC, völlig über den Krieg in der Ukraine aus. Die Nato-Mächte, allen voran der US-Imperialismus, haben Russland dazu provoziert, und jetzt eskalieren sie den Krieg rücksichtslos, um Russland zu unterwerfen und den militärisch-strategischen Druck auf China zu erhöhen.
Der Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland ist eine doppelte Bedrohung für die indische Arbeiterklasse sowie die Bevölkerung Südasiens und der Welt.
Erstens hat der umfassende Wirtschaftskrieg der imperialistischen Mächte gegen Russland verheerende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und führt zu einem starken Anstieg der Preise für Energie, Düngemittel und Grundnahrungsmittel.
Zweitens wird der Krieg, der von den USA und ihren Nato-Verbündeten seit langem geplant war, als globaler strategischer Konflikt mit dem Ziel geführt, eine Neuaufteilung der Welt durchzusetzen. US-Präsident Joe Biden hat das letzte Woche offen zugegeben, als er die derzeitige Krise mit den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert verglich und hinzufügte: „Es wird eine neue Weltordnung geben, und wir müssen sie anführen.“
Wenn die imperialistischen Mächte nicht durch die revolutionäre Intervention der internationalen Arbeiterklasse daran gehindert wird, dann wird ihr Kriegskurs in einem katastrophalen Krieg zwischen den Großmächten enden, in dem Südasien und der Indische Ozean vermutlich wichtige Schlachtfelder sein werden.
Die indische Bourgeoisie hat den US-Imperialismus in seinem Streben nach globaler Hegemonie ermutigt und gestärkt. Die Modi-Regierung hat den Kurs fortgesetzt, den ihre Vorgängerregierung unter der Kongresspartei eingeschlagen hat, und Indien in einen US-Frontstaat gegen China verwandelt. Sie hat ein immer größeres Netz von bilateralen, trilateralen und quadrilateralen militärischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu Washington und seinen wichtigsten Verbündeten im asiatischen Pazifik, Japan und Australien, aufgebaut.
Bisher hat sich Modi dem Druck der USA und der anderen imperialistischen Mächte widersetzt, Neu Delhi solle Russland als „Aggressor“ einstufen und seine langjährigen militärischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu Moskau einstellen. Dies basiert jedoch nur auf einfachen Berechnungen, wie die indische Bourgeoisie ihre eigenen räuberischen Interessen am besten durchsetzen kann. Zudem versucht Modi mit der Unterstützung der indischen Bourgeoisie den Druck der USA, Japans und der EU-Mächte in der Russlandfrage auszugleichen, indem er sich noch deutlicher hinter Washingtons kriegerische Haltung gegenüber China stellt.
Während der Pandemie wurden Profite über die Rettung von Menschenleben gestellt, was zu immer neuen Wellen von Massensterben und der allgegenwärtigen Gefahr neuer virulenterer Formen wie der sich rapide ausbreitenden Subvariante BA.2 geführt hat. Darauf folgte der Ausbruch des jetzigen Kriegs in Europa. Beides zeigt, dass die kapitalistische Herrschaft mit den grundlegendsten Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung in Indien und der Welt unvereinbar ist.
Die zunehmenden Kämpfe der indischen Arbeiterklasse müssen mit einem internationalen sozialistischen Programm gegen Krieg, soziale Ungleichheit und kommunalistische Reaktion für eine Zero-Covid-Politik verbunden werden. Ihr Kampf muss mit denen der Arbeiter im Rest der Welt zu einer politischen Offensive gegen das kapitalistische Profitsystem vereinigt werden.
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