Oscars 2022: Will Smith, Hollywood und Amerika auf Abwegen

Der Vorfall bei der Oscarverleihung am Sonntagabend, bei dem Schauspieler Will Smith den Komiker Chris Rock ins Gesicht schlug, sorgte weltweit für Aufsehen. Die Videoaufnahmen wurden inzwischen Millionen Mal angesehen.

Smith, der bei der jährlichen Filmpreisverleihung in der ersten Reihe saß, stürmte auf die Bühne und ohrfeigte Rock live im Fernsehen, nachdem der Komiker einen geschmacklosen, aber im Grunde harmlosen Witz über Smiths Frau Jada Pinkett Smith und ihren rasierten Kopf gemacht hatte.

Das Publikum im Dolby Theatre in Los Angeles verstummte – ebenso wie die ABC-Fernsehübertragung – und zwar für 30 Sekunden oder länger. Als er zu seinem Platz zurückkehrte, konnte man einen (in den USA zensierten) Smith sehen, der Rock zweimal anschrie: „Kein Wort über meine Frau aus Ihrem verdammten Mund!“

„Trotz einiger Beratungen hinter der Bühne beschlossen die Organisation und die Produzenten, Smith nicht von der Veranstaltung zu entfernen“, berichtet Deadline. Weniger als eine halbe Stunde später durfte Smith eine weitschweifige, tränenreiche Dankesrede halten, nachdem er den Preis für den besten Schauspieler für den Film King Richard (Regie: Reinaldo Marcus Green) gewonnen hatte.

Will Smith, rechts, schlägt Moderator Chris Rock bei der Oscar-Verleihung in Los Angeles, 27. März 2022 (AP Photo/Chris Pizzello)

Während er sich vage entschuldigte, verteidigte Smith seine Tat im Wesentlichen und verglich sich mit der Figur, die er in King Richard spielt, Richard Williams, dem Vater der Tennisspielerinnen Venus und Serena Williams. Williams, sagte Smith, „war ein erbitterter Verteidiger seiner Familie“. Später in seiner Rede kommentierte er: „Ich sehe aus wie der verrückte Vater, genau wie man es über Richard Williams gesagt hat, aber die Liebe lässt dich verrückte Dinge tun.“

Rock hat es bisher abgelehnt, bei der Polizei von Los Angeles Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten, aber es wäre sicherlich sein gutes Recht, dies zu tun. Am Montag veröffentlichte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences eine Erklärung, in der sie „das Verhalten von Mr. Smith bei der gestrigen Show“ verurteilte. „Wir haben eine offizielle Untersuchung des Vorfalls eingeleitet und werden weitere Maßnahmen und Konsequenzen in Übereinstimmung mit unseren Statuten, Verhaltensregeln und dem kalifornischen Recht prüfen.“

Am Montagabend entschuldigte sich Smith in einem Instagram-Post direkter, wenn auch in formelhafter Sprache. Er erklärte, dass Gewalt „in allen Formen giftig und zerstörerisch ist. Mein Verhalten bei der gestrigen Oscarverleihung war inakzeptabel und unentschuldbar.“ Anschließend entschuldigte er sich mit der Begründung, dass „ein Witz über Jadas Gesundheitszustand zu viel für mich war und ich emotional reagiert habe“.

Smith fuhr fort: „Es gibt keinen Platz für Gewalt in einer Welt der Liebe und Güte.“ Er schloss mit den Worten: „Ich bin noch in der Entwicklung.“ Smith ist gemeinhin für seine sympathische und lockere Art in Film und Fernsehen bekannt, aber mit seinen 53 Jahren wäre es vielleicht einmal an der Zeit, dass er sich seinem Alter entsprechend verhält. Ein zerknirschter Auftritt irgendwo bei Oprah Winfrey würde ihn vermutlich wieder in die Gunst Hollywoods bringen.

Wenn die Vertreter der Academy wirklich integer wären, hätten sie Smith gebeten, das Dolby Theatre zu verlassen und seinen Preis später abzuholen, oder sie hätten ihn ihm gebracht. Da sie Smiths Gewaltausbruch bei den Oscars im Grunde geduldet haben, ist ihre offizielle Kritik an ihm nichts als hohle Phrase.

Dass sie Smith nicht zumindest sofort gemaßregelt haben, weist auf die größeren Fragen, um die es geht. Mit seinen geschätzt 350 Millionen Dollar gehört Will Smith zur Welt der Prominenten, deren Reichtum und Ruhm sie für Behörden und Normalsterbliche weitgehend unantastbar machen – es sei denn, es handelt sich um ein angebliches sexuelles Vergehen oder „Mikro-Aggressionen“.

Der Kult der Stars in Amerika hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Auftrieb bekommen und nimmt mittlerweile äußerst schädliche Dimensionen an. Während sich die tatsächlichen Lebensbedingungen für Millionen Menschen drastisch verschlechtert haben, hat das Bedürfnis enorm zugenommen, ein Fantasieleben durch andere, „glücklichere“ Menschen zu führen. Wie wir bereits vor mehr als zwanzig Jahren feststellten: „Übermäßige Berühmtheit ist mit Ungleichheit verbunden, ja sie wird sogar zu einer Begründung für Ungleichheit und verstärkt diese, ideologisch und materiell. Dass eine einzige Person oder ein paar Wenige Ruhm und Reichtum anhäufen, ist nur möglich und sinnvoll, wenn die große Mehrheit keinen Zugang zu diesen Belohnungen hat.“

Vom rationalen Standpunkt aus betrachtet war Smiths Aktion zweifellos bizarr. Der Schauspieler lächelte zunächst als Antwort auf Rocks Stichelei, bevor er sich offenbar zum Kampf rüstete. Wie bei einem Großteil der Hollywood-Promis ist es auch in diesem Fall fast unmöglich, zwischen Gefühl und Gefühlsspiel zu unterscheiden. Der Angriff wirkte gekünstelt, aufgesetzt. Solche Leute schauspielern immer. Wir wissen nicht, was Smith in diesen wenigen Sekunden durch den Kopf ging. „Was soll ich tun?“, mag er gedacht haben. „Wenn ich einfach hier sitze, werde ich vielleicht ausgelacht, weil ich zulasse, dass meine Frau in der Öffentlichkeit beleidigt wird.“

Es ist auch möglich, dass Smith zu viel von dem mittelmäßigen „Biopic“ über Familie Williams aufgesogen hatte, für das er gerade einen Preis erhalten sollte. Möglicherweise handelte er auf der Grundlage irgendeines Unsinns, den er aus der Richard-Williams-Geschichte über die „Verteidigung“ einer Frau, Familie usw. abgeleitet hatte. Wenn dem so ist, war das eine absurde und erbärmliche Fehlkalkulation. Smith läuft nun Gefahr, dass man sich mehr an diesen Moment als an seine Film- oder Fernsehauftritte erinnert.

Die Episode vom Sonntag enthüllt etwas Reales über das Hollywood-Milieu, in dem so vieles irreal ist. Wie bei allem Royalem herrscht auch im „Königtum“ von Hollywood jede Menge Falschheit und Betrug. Stars werden mit Geld und Aufmerksamkeit überhäuft, was sie – und ein Großteil der Öffentlichkeit – unter bestimmten Umständen als Zeichen einer geradezu göttlichen Anerkennung deuten. Aber nicht jeder erhält der Götter Gabe einer vollständigen psychologischen und persönlichen Entwicklung. Ein Schauspieler kann eine Persönlichkeit, ein Gesicht und einen Körperbau haben, die in gewissem Sinne vor der Kamera „funktionieren“, und dennoch als Mensch äußerst beschränkt bleiben. Wenn sich die Umstände ändern – wie es zwischen Smiths Ohrfeige und seiner bedauernswerten, fast zusammenhangslosen Dankesrede kurze Zeit später der Fall war – erweist sich ein Hollywood-„Prinz“ plötzlich „bloß als ein verbrauchter Herr mit herabhängender Unterlippe“, um einen Ausdruck von Leo Trotzki zu verwenden.

Smiths Kommentar, dass es „keinen Platz für Gewalt in einer Welt der Liebe und Güte“ gebe, muss im richtigen Kontext gesehen werden. Der Vorfall am Sonntagabend war zunächst schockierend, weil öffentliche Veranstaltungen in den USA, die bis ins Detail inszeniert und konstruiert sind, normalerweise nicht durch Unerwartetes gestört werden.

Aber im weiteren Sinne gibt es nicht den geringsten Grund, die Auseinandersetzung zwischen Smith und Rock „schockierend“ zu finden. Das Leben in den USA ist extrem gewalttätig. Jedes Jahr werden etwa 40.000 Menschen durch Schusswaffen getötet. In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 gab es bereits 112 Massenschießereien, mehr als eine pro Tag, sowie mehr als 4.400 Morde und mehr als 5.800 Selbstmorde mit Schusswaffen.

Die amerikanischen Streitkräfte sind überall. Das Pentagon gibt offiziell rund 800 Stützpunkte in 80 Ländern der Welt an. Nach den Kriegen gegen Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und andere Länder, die zu hohen Opferzahlen und Elend geführt haben, wendet sich die Biden-Regierung nun Russland zu und droht, einen dritten Weltkrieg auszulösen.

Auch die besonderen Bedingungen des Jahres 2022 – inmitten einer vermeidbaren Pandemie, die in den USA bereits eine Million Menschenleben ausgelöscht hat – müssen berücksichtigt werden, wenn man das verrückte und verzweifelte Treiben bei der Oscarverleihung und in anderen Bereichen begreifen will. Die Filmindustrie mag die Pandemie vielleicht offiziell ignorieren, indem sie ihr nicht mehr als ein oder zwei Minuten gewidmet hat, aber die Pandemie hat die Filmindustrie nicht ignoriert. Viele Darsteller, Drehbuchautoren und Crewmitglieder haben ihr Leben verloren. In den Jahren 2020 und 2021 kam es zu verheerenden finanziellen Einbußen. Die Zukunft des Kinobetriebs ist in Frage gestellt. Hollywood ist mehr und mehr zu einer Fabrik für ein paar fade, leere „Blockbuster“ geworden. Die normale Unsicherheit des Schauspielerberufs hat sich vervielfacht.

Das berechtigte Entsetzen auf Smith’ Ausbruch wurde von der identitätspolitischen Brigade natürlich als Zeichen für „weißen Rassismus“ interpretiert. Ein Artikel im Guardian titelte „Weiße Empörung über Will Smiths Ohrfeige ist in Anti-Schwarzsein verwurzelt. Es ist eine offensichtliche Ungleichheit“. Die Autorin behauptet, dass die Reaktion auf die Ohrfeige von Smith „sich bestenfalls edel und schlimmstenfalls geradezu rassistisch anfühlt“. Sie „wurzelt nicht nur in Anti-Schwarzsein, sondern auch in der Politik der Ehrbarkeit“, heißt es da. Diese Art von „zur Schau gestelltem Aufschrei ist immer nur für schwarze Männer reserviert, die Mist gebaut haben“.

Diese dummen, absurden Äußerungen fanden in verschiedenen Kreisen Widerhall. National Public Radio (NPR) verteidigte Smith und verwies auf die „vielen im Internet“, die sagen, dass „zum ersten Mal ... ein schwarzer Mann öffentlich für seine schwarze Frau – und ihr schwarzes Haar – eintrat, und das auf einer Bühne, auf der Schwarzsein seit jeher übersehen oder ganz und gar verstoßen wird“.

Die Race- und Genderpolitik erhielt bei der Oscarverleihung selbst ihren unvermeidlichen, schändlichen Auftritt. Heutzutage findet in Hollywood praktisch nichts mehr statt, was nicht von den Zensoren der Identitätspolitik geprüft worden wäre. Als Ariana DeBose, die am wenigsten beeindruckende der Schauspielerinnen in West Side Story, ihren Preis als beste Nebendarstellerin entgegennahm, präsentierte sie sich als „eine offen queere Woman of Color, eine AfroLatina, die ihre Stärke im Leben durch die Kunst gefunden hat“.

Die Smith-Rock-Episode konnte den Rest der Oscars problemlos überschatten, weil sie nur der Höhepunkt einer Preisverleihung war, die auf Schritt und Tritt den falschen Ton anschlug. Während CODA, ein im Großen und Ganzen gut gemeinter und humaner Film, eine Auszeichnung für den besten Film, den besten Nebendarsteller (Troy Kotsur) und das beste adaptierte Drehbuch (Regisseur Siân Heder) erhielt, gingen die beiden mit Abstand ernsthaftesten Filme – die beißende Satire Don’t Look Up (Adam McKay) und Joel Coens The Tragedy of Macbeth – leer aus.

Jennifer Lawrence und Rob Morgan im Film Don’t Look Up

Wie wir im Februar feststellten, hätten Minamata (Andrew Levitas) und A Hero (Asghar Farhadi), die beide keine Nominierungen erhielten, einen Oscar am meisten verdient, aber wurden von der Academy völlig ignoriert. Ansonsten erhielt der Film West Side Story von Steven Spielberg und Tony Kushner nur einen Oscar, obwohl er bei allen Einschränkungen viel mehr Klugheit und Können bewies als die meisten anderen Filme, die mehrere Preise einheimsten.

Alles in allem sollte es nicht überraschen, dass ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung der Filmwelt entfremdet und sogar feindselig gegenübersteht, weil sie den großen gesellschaftlichen Problemen weitgehend den Rücken kehrt und sich auf belanglose Themen konzentriert, die nur für die wohlhabenden Mittelschichten von Interesse sind. Die von ABC am Sonntag übertragene Oscarverleihung wurde in den USA von schätzungsweise 15,3 Millionen Zuschauern verfolgt. Das sind zwar mehr als beim letztjährigen Rekordtief von 10,4 Millionen, aber es ist immer noch das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte. 1998 verfolgten noch mehr als 48 Millionen Amerikaner die Oscars.

Über Jahrzehnte hinweg sprachen die Hollywood-Filmstudios und ein erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung die gleiche Sprache oder konnten sich zumindest gegenseitig verstehen.

Wie die US-Autoren David Wallechinsky und Irving Wallace schrieben: „Im Januar 1940 löste John Fords Früchte des Zorns [ein Film über die Große Depression und ihre Opfer] unter Kritikern einhelliges Lob, Überraschung und Bewunderung aus. Die Reaktion des Publikums war ebenso überwältigend. Die Besucherzahlen am Eröffnungstag im New Yorker Rivoli Theatre brachen alle bisherigen Rekorde.“ William Wylers Die besten Jahre unseres Lebens über die Schwierigkeiten von Veteranen des Zweiten Weltkriegs verkaufte 1946 etwa 55 Millionen Kinokarten, d.h. mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung sah den Film. Insgesamt besuchten in jenem Jahr 80 Millionen Menschen jede Woche die Kinos.

Mit der Entwicklung des Klassenkampfs und dem Entstehen einer Massenbewegung, die sich gegen die Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung richtet, müssen neue künstlerische Stimmen und Kräfte auf die Bühne treten. Die gegenwärtige Situation ist einfach unhaltbar.

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