Zehntausende Ärzte und Ärztinnen haben am Donnerstag mit einem bundesweiten Warnstreik auf ihre prekäre Lage aufmerksam gemacht. An der zentralen Kundgebung auf dem Frankfurter Römerberg nahmen rund 4.000 von ihnen teil. Bestreikt wurden fast 500 kommunale Kliniken in der ganzen Bundesrepublik mit Ausnahme von Hamburg und Berlin.
Der Ärzte-Warnstreik zeigte einen auffälligen Widerspruch: Tausende Ärztinnen und Ärzte machten deutlich, dass sie nach zwei Jahren Pandemie am Limit arbeiten und nicht länger bereit sind, so weiterzumachen. Sie fordern grundlegende Veränderungen in einem kranken Gesundheitssystem, das mehr und mehr vor die Hunde geht.
Was jedoch den Marburger Bund betrifft, so ist mit Händen zu greifen, dass er diesen Kampf nicht führt. Der Marburger Bund ist eine konservative Standesorganisation. Er lehnt es ab, gemeinsam mit anderen Schichten der Arbeiterklasse für eine grundlegende Veränderung zu kämpfen. Im Gegenteil strebt er danach, den Konflikt mit den kommunalen Arbeitgebern so rasch als möglich beizulegen.
In den Kliniken ist es nicht anders als derzeit in Kitas und Schulen, an den Flughäfen, in der Industrie und in jedem Bereich: Der Kampf gegen Ausbeutung und Lohnraub darf nicht den Gewerkschaften und ihrer engen Verflechtung mit Regierungen und Staat untergeordnet werden.
Wie die Pflegekräfte, die Lehrer, die Busfahrer und Autoarbeiter müssen auch die Ärztinnen und Ärzte unabhängige Aktionskomitees aufbauen, die sich der kapitalistischen Profitwirtschaft widersetzen und sich mit anderen Arbeiterschichten zusammenschließen, um das volle Potential der Arbeiterklasse gegen die „Profite-vor-Leben“-Politik zu mobilisieren. Das ist der einzige Weg zu einem Gesundheitssystem, in dem es möglich sein wird, auf menschliche Weise sicher, vernünftig, gesund und auf dem höchsten Stand von Wissenschaft und Technik zu arbeiten.
Die Plakate der Teilnehmer in Frankfurt zeugten von der großen Wut über Bedingungen, die sich in den letzten zwei Jahren der Pandemie noch einmal dramatisch verschlimmert haben. Auf einem Plakat stand: „Zwei Jahre Corona, das ist eure Dank?“ Auf anderen: „Sogar Applaus war besser“. Auf wieder anderen: „Im Krankenhaus: Ausgelaugt und mies bezahlt!“, „Ärzte kämpfen gegen 70-Stunden-Woche“, „Arbeit bis zum Umfallen“, „Ihr verheizt uns“, „Work-Work-Balance?“, „Faire Zeiterfassung: Es reicht!“, „Arbeiten bis der Arzt umfällt“, oder: „Ohne Gesundheit der Ärzte – keine gesunden Patienten“.
Weitere Slogans lauteten: „Es verlangt keiner Champagner, nur 2 freie Wochenenden“, „Ja, ich bin überlastet – dem Krankenhaus ist das EGAL“, oder: „…und wer betreut euch in der nächsten Pandemie?!“ Das Kürzel VKA (Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände) wurde umgewidmet in „Völlig Kaputte Ärzte“.
Auf einem Schild stand: „Kind und Karriere? Für Ärzte nicht vorgesehen!“ Ein junges Pärchen, Waleed und Nisreen, betonten: „Für uns sind die Arbeitsbedingungen am wichtigsten. Wir müssen selber gesund sein, um die Menschen versorgen zu können.“ Waleed erklärte: Nisreen kriegt jetzt ein Baby, und wir sind beide Ärzte und überlegen, wie wir das machen können. Als Mensch und als Arzt – wie soll es weitergehen?“ Nisreen wies darauf hin, dass es für junge Eltern schlicht unmöglich sei, drei Wochenenden im Monat durchzuarbeiten. Auch habe sie Angst vor einer Corona-Ansteckung.
„Mediziner sind kardiologische Hauptbestandteile der Gesellschaft“, erklärte Waleed. „Für mich ist der Tarif einfach unfair, wenn man die Ausbildung berücksichtigt und uns mal mit anderen Berufen vergleicht.“ Aber am Wichtigsten sei ihnen beiden eine rasche Verbesserung der Arbeitsbedingungen: „Die Lage hat sich in den letzten zwei Jahren noch verschlechtert. Die Mediziner werden derartig schlecht behandelt – da muss sich einfach was ändern.“
Hanno aus Braunschweig erklärte, dass es den Ärzten in den kommunalen Krankenhäusern vor allem um eine klare Begrenzung der Nachtdienste, der Bereitschaft und der Ruhezeiten gehe. „Wir fordern faire Arbeitsbedingungen“, erklärte Hanno. „Es muss garantiert sein, dass jeder von uns mindestens zwei freie Wochenenden im Monat bekommt.“
Vor kurzem hatte eine Umfrage des Marburger Bunds unter 3.300 Ärzten ergeben, dass die Arbeitslast für 71 Prozent der Befragten in der Pandemie deutlich zugenommen hat. 91 Prozent der Klinikärzte fühlten sich durch ihre Arbeit regelmäßig erschöpft. 31 Prozent gaben an, dies sei „immer“ so, und 60 Prozent, es sei „zunehmend“ der Fall.
„Uns geht es um unsere Arbeitsbedingungen“, sagte auch Kent, der mit einer ganzen Gruppe aus Bremen gekommen war. „Sie sind so schlecht, dass wir kaum noch Nachwuchs an den Kliniken bekommen. Wenn ich am Wochenende Dienst habe, arbeite ich von Freitagmorgen bis Montagmorgen durch. Da habe ich zwar Rufbereitschaft, aber für mich bedeutet das oft: Durcharbeiten.“
Sein Kollege Ekhard erklärte: „Die Arbeitgeber gönnen uns die Ruhezeiten nicht. Wenn es des Nachts nicht möglich war, zu ruhen, und wir nach einer durchgearbeiteten Nacht nachhause gehen, dann wird uns das vom Gehalt abgezogen.“ Er ergänzte: „Der Arztberuf ist der einzige Berufsstand, wo man durch Mehrarbeit Minusstunden erwirtschaftet, die man dann an den Wochenenden abzuarbeiten hat. Das ist moderne Sklavenhaltung, nichts anderes.“
Zur Corona-Pandemie berichteten die Ärzte: „Gerade jetzt haben wir extrem viele Ausfälle. Ein Drittel des Personals fällt wegen der Omikron-Variante aus. Die haben alle Familien, die haben Kinder zuhause, die nicht verhindern können, sich in der Schule anzustecken. Doch im Klinikum ist die Personaldecke so dünn, dass man nichts mehr auffangen kann. Dann werden Betten gesperrt, Stationen geschlossen und Behandlungen abgesagt.“
Der Marburger Bund verhandelt schon seit dem 14. Oktober 2021 mit dem VKA über die Bedingungen von knapp 60.000 Ärztinnen und Ärzten in den kommunalen Krankenhäusern. In vier Verhandlungsrunden und zwei Sondierungsgespräche wurden keinerlei Fortschritte erzielt. Wolfgang Heyl, Verhandlungsführer des VKA, bezeichnete die finanziellen Kosten dafür als „untragbar“.
Dabei werden die Forderungen des Marburger Bundes der brisanten Situation in keiner Weise gerecht. Er fordert verlässliche Ruhezeiten, eine generelle Begrenzung der Rufbereitschaft auf maximal zwölf Rufdienste und zwei garantierte freie Wochenenden pro Monat. Außerdem soll das Gehalt um 5,5 Prozent steigen – bei einer Inflation, die im März schon auf 7,3 Prozent angestiegen ist. Die zwei freien Wochenenden stehen bereits im Vertrag von 2020 auf dem Papier, werden aber in der Realität in keiner Weise respektiert.
Susanne Johna, Bundesvorsitzende des Marburger Bunds, kritisierte in Frankfurt die „Verweigerungshaltung“ des VKA. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Organisation sich jetzt rasch mit den kommunalen Arbeitgebern einigen könnte. Der Marbuger Bund ist grundsätzlich nicht bereit, den Kampf auszuweiten und sich an andere Arbeiterschichten zu wenden.
Als der Tarifvertrag zum 30. September 2021 gekündigt wurde, befanden sich im letzten Herbst gerade tausende Pfleger und Krankenschwestern bei der Charité und Vivantes in Berlin im Arbeitskampf. Bundesweit gingen Arbeiter auch in andern Bereichen des Öffentlichen Dienstes wiederholt auf die Straße, um gegen Ausbeutung und Lohnraub zu kämpfen. In dieser Situation weigerte sich der Marburger Bund, die Ärzte an der Seite ihrer Kollegen zu mobilisieren.
Ende November stimmten die Gewerkschaften Verdi, GEW und IG BAU einem üblen Ausverkauf zu, der über eine Million Beschäftigte bundesweit dazu verurteilte, die ersten 14 Monat lang, bis zum 1. Dezember 2022 (!), auf jegliche Lohnerhöhung zu verzichten.
Dazu schrieb die WSWS: „Die Gewerkschaften haben die Streiks in Kliniken, Schulen und Behörden absichtlich auf kleiner Flamme gehalten. Die von ihnen organisierten Proteste waren Alibi-Veranstaltungen und dienten allein dazu, Druck abzulassen. Sie stecken mit den Arbeitgebern unter einer Decke, besitzen oft dasselbe Parteibuch wie diese und wechseln des Öfteren von einem gut bezahlten Funktionärsjob auf einen besser bezahlten Posten in der Regierung und umgekehrt. Vor allem sind sie wie diese der Ansicht, dass Profite und Vermögen der Reichen nicht durch höhere Steuern belastet werden dürfen, und dass Einsparungen im öffentlichen Dienst notwendig sind.“
Exakt dasselbe trifft auch auf den Marburger Bund zu.