Selten zuvor hat ein Wahlergebnis derart deutlich die Klassenspaltung der Gesellschaft gezeigt, wie das der nordrhein-westfälischen Landtagswahl vom vergangenen Sonntag. Die Arbeiterklasse blieb zuhause, weil sie sich durch keine der etablierten Parteien vertreten sah, die wohlhabenden städtischen Mittelschichten wandten sich den Grünen zu, der kriegswütendsten aller Parteien.
Das bedeutendste Ergebnis der Wahl ist die hohe Zahl der Enthaltungen. 5,8 Millionen der knapp 13 Millionen Wahlberechtigten blieben zuhause, etwa gleich viele, wie zusammen für die drei stärksten Parteien – die CDU, die SPD und die Grünen – stimmten. Mit 55,5 Prozent erreichte die Wahlbeteiligung einen historischen Tiefstand. Bei der Landtagswahl 2017 hatten noch 65,2 Prozent und bei der Bundestagswahl 2021 76,4 Prozent an der Wahl teilgenommen.
Die Enthaltungen sind höchst ungleich verteilt. In verarmten Industriegebieten, ehemaligen SPD-Hochburgen, liegt die Wahlbeteiligung unter 50 und teilweise sogar unter 40 Prozent. In wohlhabenderen Regionen erreicht sie dagegen bis zu 70 Prozent. Dort sind die Grünen stärkste Partei. In den Universitätsstädten Köln, Münster und Aachen eroberten sie erstmals in der Geschichte des Landes sieben Direktmandate.
In der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen gingen nur 44 und in Duisburg knapp 47 Prozent zur Wahl. Je tiefer man in die einzelnen Regionen schaut, umso niedrigere Ergebnisse findet man. In Duisburg Nord (Marxloh, Hamborn) lag die Wahlbeteiligung bei 38 und im Essener Nordviertel unter 33 Prozent. Im Stimmbezirk Duisburg Beeck fanden von 800 Wahlberechtigten nur 102 den Weg ins Wahllokal. Im südlichen Essener Wahlkreis IV, wo die Bessergestellten und Wohlhabenden leben, beteiligten sich dagegen fast 70 Prozent an der Wahl.
Mit Ausnahme der Grünen verloren alle Parteien massiv Stimmen. Selbst die Wahlsiegerin CDU, die ihr Ergebnis von 33 auf 35,7 Prozent verbesserte, büßte 244.000 Wählerstimmen ein. Die SPD, der ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU vorausgesagt worden war, erlebte ein Desaster. Sie verlor 744.000 Wähler, landete 9 Prozentpunkte hinter der CDU und erzielte mit 26,7 Prozent ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis.
Noch schlimmer erging es der FDP, die von 12,6 auf 5,9 Prozent absackte und 647.000 Wähler verlor. Auch die AfD büßte 238.000 Stimmen ein, blieb aber mit 5,4 Prozent im Landtag. Die Linke, die 2017 knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert war, verlor 270.000 Stimmen und kam nur noch auf 2,1 Prozent. Die Grünen gewannen dagegen 761.000 Stimmen hinzu und verbesserten ihr Ergebnis von 6,4 auf 18,3 Prozent.
Die meisten Medien werten das Wahlergebnis als Ohrfeige für SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz. Das Ergebnis sei „in erster Linie der Enttäuschung der Wähler über den zögerlichen und zaudernden Kurs des Bundeskanzlers in der Ukraine-Frage zuzuschreiben,“ lautet ein typischer Kommentar im Weser Kurier.
Die professionellen Meinungsmacher in den Medien haben sich derart in ihre Kriegsbegeisterung hineingesteigert, dass sie völlig blind sind für die gesellschaftliche Realität. Das Wahlergebnis ist eine Ohrfeige für die SPD – aber nicht, weil sie zögert, den Krieg in der Ukraine zu unterstützen, sondern weil sie ihn systematisch anheizt. Die von Scholz geführte Bundesregierung hat das größte Aufrüstungsprogramm seit Hitler beschlossen und rüstet die Ukraine mit schweren Waffen aus.
Viele Arbeiter wissen oder spüren, dass sich dieser Krieg gegen sie selbst richtet und sie die Rechnung dafür bezahlen müssen. Anders als die gut bezahlten Propagandisten in den Redaktionsbüros haben sie die Verbrechen nicht vergessen, die die USA, Deutschland und ihre Nato-Verbündeten im Irak, in Libyen, in Afghanistan und zahlreichen anderen Ländern begangen haben.
Sie lassen sich auch nicht von der Lüge beeindrucken, die Aufrüstung der Ukraine mit Waffen in zweistelliger Milliardenhöhe diene dem „Frieden“ und der Verteidigung von „Demokratie“ und „Freiheit“. Sie sind nicht bereit, den Stellvertreterkrieg der Nato gegen die Nuklearmacht Russland zu unterstützen und sich in einen dritten Weltkrieg hineintreiben zu lassen.
Umfragen, so unzuverlässig und widersprüchlich sie sind, machen immer wieder deutlich, dass große Teile der Bevölkerung die Kriegspolitik der Bundesregierung ablehnen. So sprachen sich Ende April im Deutschlandtrend des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap trotz einer intensiven Medienkampagne nur 45 Prozent für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und ebenso viele dagegen aus. Ein Monat vorher waren noch 55 Prozent dafür gewesen.
Auch ein Importstopp für russisches Öl und Gas stieß in der Umfrage auf große Skepsis. Die Energiepreise haben schon jetzt Rekordwerte erreicht, und ein abrupter Stopp der Importe würde hunderttausende Arbeitsplätze in der Chemie-, Stahl- und anderen Industrien gefährden.
In der Wahl fand diese Opposition gegen den Ukrainekrieg keinen Ausdruck. Sowohl die CDU wie die AfD und die Linke unterstützen den Kriegskurs der Berliner Ampelkoalition in seinen Grundzügen. Das ist ein Grund, weshalb viele Wähler zuhause blieben. Laut Analyse der Wählerwanderung verlor die SPD die meisten ihrer bisherigen Wähler, 310.000, ins Lager der Nichtwähler.
Ansonsten fand eine Art Ringtausch zwischen den bürgerlichen Parteien statt, von dem die Grünen, die zur führenden Kriegspartei des deutschen Imperialismus geworden sind, am meisten profitierten. 260.000 frühere Wähler der SPD, 140.000 der CDU und 100.000 der FDP wechselten zu den Grünen. Die CDU wiederum gewann 260.000 Wähler von der FDP hinzu.
Die FDP, die stets wegen ihrer Arroganz verhasst war, wurde zwischen den anderen Kriegs- und Aufrüstungsparteien zerrieben. Ein Grund für ihre Wahlniederlage ist auch ihre verheerende Schulpolitik. NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) hatte mit ihrer rücksichtslosen Corona-Politik und ihrem Sparkurs an den Schulen selbst Teile der wohlhabenden Klientel der FDP gegen sich aufgebracht.
Der Aufstieg der Grünen ist ein Warnsignal. Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck sind die aggressivsten Kriegstreiber in der Berliner Ampelkoalition. Seit die Partei 1999 grünes Licht für den Jugoslawienkrieg gab, ist sie zu einer treibenden Kraft des deutschen Militarismus geworden. Mit dem Ukrainekrieg nimmt dies eine neue Dimension an.
Der Übergang des wohlhabenden und gebildeten Kleinbürgertums ins Lager des Militarismus hat in Deutschland eine lange Tradition. Vor dem Ersten Weltkrieg berauschten sich eine Million Mitglieder des Deutschen Flottenvereins am Bau einer Kriegsflotte, die den Briten die Herrschaft über die Meere streitig machen sollte. Nach Hitlers Regierungsübernahme kippten reihenweise Beamte, Professoren und andere Gebildete um, arrangierten sich mit dem neuen Regime und wurden Mitglieder der NSDAP.
Die Verwandlung der Grünen zur führenden deutschen Kriegspartei hat objektive Wurzeln. Die Partei stützt sich auf wohlhabende Mittelschichten, die neben gutbezahlten Jobs oft auch über Immobilienbesitz und Aktiendepots verfügen und sich in den vergangenen Jahrzehnten auf Kosten der Arbeiterklasse bereichert haben.
Ihre Begeisterung für den Militarismus ist eng mit ihrer Angst vor dem Klassenkampf verbunden, der ihre privilegierte Stellung bedroht. Im Gesundheits- und Erziehungswesen, in der Auto-, Stahl- und anderen Industrien brodelt es. Unerträglicher Arbeitsstress und gefährdete Arbeitsplätze kommen mit einer hohen Inflation zusammen, die den Lebensstandard rasch untergräbt.
Die Grünen werden daher kein Problem haben, in NRW mit der CDU von Hendrik Wüst eine Koalition zu bilden. Sie werden auch mit seinem rechten Innenminister Herbert Reul zusammenarbeiten, dessen autoritäres Polizeigesetz sie bis vor kurzem noch abgelehnt haben. In zwei anderen westdeutschen Flächenstaaten – Baden-Württemberg und Hessen – arbeiten die Grünen seit langem bestens mit der CDU zusammen.
Man sollte den Einfluss der Grünen auch nicht überschätzen. In NRW hat gerade einmal jeder zehnte Wahlberechtigte für sie gestimmt. Auch unter den 18- bis 24-Jährigen, wo die Grünen mit 28 Prozent stärkste Partei wurden, ist ihr Einfluss geringer, als es scheint. 54 Prozent der Erstwähler sind nämlich nicht zur Wahl gegangen.
Die Wahl in NRW bestätigt, dass es für die Arbeiterklasse unmöglich geworden ist, im Rahmen des verknöcherten parlamentarischen Systems ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Auch der Kollaps der Linkspartei, die nie mehr als ein pseudolinkes Feigenblatt für eine arbeiterfeindliche Politik war, bestätigt das.
Der Kampf gegen Krieg, Sozialabbau und Staatsaufrüstung erfordert die Entwicklung einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse, die sich international zusammenschließt und für ein sozialistisches Programm eintritt, das die gesellschaftlichen Bedürfnisse über die Profitinteressen des Kapitals stellt. Dazu müssen die Sozialistische Gleichheitspartei und das Internationale Komitee der Vierten Internationale als neue Arbeiterpartei aufgebaut werden.