Bundesweite Warnstreiks im Sozial- und Erziehungsdienst – Verdi vehandelt in Potsdam

Seit zweieinhalb Monaten finden im Sozial- und Erziehungsdienst bundesweit Warnstreiks und Kundgebungen statt. Am heutigen Mittwoch endet in Potsdam die dritte und vorerst letzte Verhandlungsrunde. Die Beschäftigten kämpfen für bessere Verträge, höhere Eingruppierungen und weniger Arbeitslast. Doch die Verhandlungen, die Verdi, GEW und der Deutsche Beamtenbund mit den kommunalen Arbeitgebern führen, werden keines ihrer Probleme lösen.

Seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Kita-Erzieherinnen und Sozialarbeiter als „systemrelevante“ Arbeitskräfte bewährt. Unter großer Gefahr haben sie die ganze Zeit durchgearbeitet, viele von ihnen sind an Covid-19 erkrankt. In den Arbeitervierteln und sozialen Brennpunkten tragen sie die Hauptlast der Kinderbetreuung, der Kinder- und Jugendhilfe, der Flüchtlingshilfe und der Behindertenhilfe. Aber ihre Bedingungen haben sich seit sieben Jahren, seit dem großen Kita-Streik von 2015, nicht verbessert. Aufgrund des großen Stresses und der schlechten Bezahlung fehlen mittlerweile in den Kitas über 173.000 Beschäftigte.

Streikende Kita-Erzieherinnen in Frankfurt am Main

In den letzten Wochen gingen bundesweit Tausende auf die Straße. Zu einem Aktionstag kamen am 2. Mai mehrere hundert Sozialarbeiter nach Hannover, und am 4. Mai waren es über tausend Erzieherinnen in Frankfurt am Main. In Gelsenkirchen versammelten sich am 11. Mai 10.000 Pädagogen, in Hamburg waren es am 12. Mai über 2000, und weitere 2000 demonstrierten in München.

Auch in Kiel, Stuttgart, Leipzig und anderswo fanden große Kundgebungen statt. In Marburg protestierten hunderte unterbezahlte Beschäftigte der Wohlfahrtsverbände und kirchlichen Träger, die nicht direkt von den aktuellen Verhandlungen betroffen sind, aber ebenfalls als Sozialarbeiter in den Schulen, Behindertenstätten und als Streetworker arbeiten.

Einem Boykott der großen Medien zum Trotz gelang es den Sozialarbeitern und Kita-Beschäftigten, in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass es so nicht weitergehen kann. „Die Kitas platzen aus allen Nähten, wir haben kein Personal“, wie es eine Erzieherin in Frankfurt ausdrückte. Eine andere fügte hinzu: „Ich kann nicht mehr, bin vormittags um 11 Uhr schon erschöpft.“

Eine Kita-Leiterin in Bremen sagte: „Ich wünsche mir, dass die Politiker wenigstens einen Tag lang bei uns mal mitarbeiten. Dann sehen sie vielleicht, dass das nicht bloß Gerede von uns ist. Die Lage ist verdammt ernst.“ Viele berichten auf twitter über Zukunftsängste: „Ich liebe meinen Job, aber ich glaube nicht, dass ich ihn bis ins Rentenalter schaffen kann.“ Praktisch alle stimmen zu, notfalls auch länger und schärfer zu streiken.

Der Aufbruch der Sozial- und Erziehungsbeschäftigten ist Teil einer größeren Bewegung, die auch die Pflegekräfte immer stärker erfasst. So ist ein Streik an den Unikliniken in NRW gerade bis zum 26. Mai verlängert worden. An den nordrhein-westfälischen Unikliniken hatten über 98 Prozent für den unbefristeten Streik gestimmt. In Frankfurt am Main und in Stuttgart kam es schon zu gemeinsamen Kundgebungen von Sozialdienst- und Pflegekräften.

Pflegekräfte am 12. Mai in Düsseldorf, während des unbefristeten Streiks an den Unikliniken in NRW

Diese Bewegung ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Krankenschwestern und Pfleger streiken derzeit in Madrid und in Kalifornien, sie demonstrieren durch Wien und stehen in Sri Lanka an vorderster Front des sozialen Aufstands. In Finnland streikten die Pflegekräfte im April zwei Wochen lang. In Washington demonstrieren Krankenschwestern für eine Kollegin, die beschuldigt wird, für einen tragischen Medikationsfehler allein verantwortlich zu sein. Auch in der Industrie und Logistik mehrt sich die Streikbereitschaft.

Die Proteste der Pädagogen in den Kitas und im Sozialdienst sind Teil dieser wachsenden Bewegung. Die Forderungen der Beschäftigten nach Entlastung und besserer Bezahlung findet in der arbeitenden Bevölkerung großen Widerhall. Wie eine Forsa-Umfrage im Auftrag des dbb zeigt, halten 87 Prozent der Befragten die Forderung nach besserer Bezahlung für richtig, und 81 Prozent würden eine zeitliche Entlastung im Sozial- und Pflegedienst unterstützen.

Allerdings werden die Verhandlungen in Potsdam, die auf den heutigen Mittwoch verlängert worden sind, keine Lösung bringen, im Gegenteil. Es ist die dritte und vorerst letzte Verhandlungsrunde, die in dieser Woche vom 16. bis 18. Mai stattfindet. Die Verhandlungsführer von Verdi, der GEW oder des dbb vertreten dasselbe politische Programm und gehören denselben Parteien (hauptsächlich SPD, Grüne, CDU) an, wie ihre Gegenüber, die Vertreter der Verbände Kommunaler Arbeitgeber (VKA), mit denen sie in Potsdam zusammensitzen.

Die Politiker haben den Druck auf Kita-Pädagogen und Sozialarbeiter noch einmal verschärft. Die Bundesregierung hat beschlossen, sich auf einen offenen Krieg gegen Russland vorzubereiten, und die Arbeiterklasse, allen voran die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, sollen die Kosten dafür tragen.

Während die Ampelkoalition ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr aus dem Hut gezaubert hat, sind die Forderungen des öffentlichen Dienstes angeblich „aus Kostengründen nicht umsetzbar“. Das erklärte Karin Welge (SPD), Präsidentin der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), der Deutschen Presseagentur dpa.

Welge fuhr fort, gerade mit Blick auf die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und die höheren Energiepreise müssten kommunale Arbeitgeber „verlässliche Strukturen“ bieten können. „Eine allgemeine Aufwertung in dem Sinne, dass jede Entgeltgruppe mehr bekommt, können wir nicht leisten“, so die VKA-Präsidentin.

Die Politiker bereiten bereits Maßnahmen zur Unterdrückung von Widerstand aus der Arbeiterklasse vor. In Sachsen antwortete ein Bürgermeister mit Aussperrung auf einen Warnstreik. Der Bürgermeister der Stadt Öbisfelde-Weferlingen reagierte auf den ganztägigen Warnstreik vom 13. Mai, indem er sämtliche Kitas und Horte der Stadt für diesen Tag stilllegte und alle Beschäftigten ohne Lohn freistellte. Damit verhinderte er auch die Einrichtung einer Notbetreuung und strafte diejenigen ab, die kein Verdi-Streikgeld kassieren.

In Hessen hat die Landesregierung den Kitas mitgeteilt, dass sie aufgrund der Flüchtlinge aus der Ukraine ab sofort die Zahl der Kinder pro Fachkraft von 25 auf 30 erhöhen werde. Das ist ihre Antwort auf die Forderung nach „Entlastung“.

Die Gewerkschaften haben auf diese Angriffe keine Antwort. Die Verdi-Führer Frank Werneke und Christine Behle (beide SPD), die die Verhandlungen in Potsdam führen, teilen die Ansichten der Regierungspolitiker zum Krieg gegen Russland. Sie sind selbst dann, wenn die heutigen Verhandlungen scheitern, nicht bereit, die Arbeiterklasse zu einem echten Arbeitskampf aufzurufen.

Ganz im Gegenteil: Die Verdi-Forderungen sind geeignet, den Arbeitskampf durch einen faulen Kompromiss möglichst rasch abzuwürgen. Die Forderungen richten sich darauf, eine bessere Bezahlung durch höhere Eingruppierung in den Lohntabellen zu erreichen. Daneben wird eine Verlängerung der Zeiten für Vor- und Nachbereitung der Arbeit gefordert, wie auch bessere Bedingungen für die Qualifizierung von Quereinsteigern, die einen immer größeren Teil des Personals ausmachen. In all diesen Fragen können Minikompromisse erzielt werden, die an anderer Stelle doppelt und dreifach wieder konterkariert werden.

Auch lenken die Forderungen davon ab, dass die Gewerkschaften die Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht gegen die explodierende Teuerung verteidigen. Als Folge der Milliardengeschenke an die Banken und Konzerne in der Finanzkrise und der Corona-Pandemie sowie der Sanktionen gegen Russland ist die Inflation im April offiziell auf 7,4 Prozent gestiegen; für Energie und Lebensmittel steht sie schon deutlich höher.

Im gesamten öffentlichen Dienst ist deshalb die Einführung einer gleitenden Lohnskala dringend erforderlich, wobei sie alleine noch keine Aufwertung des Erzieherberufs bedeuten würde.

Keine Frage: Die Arbeiterklasse ist kampfbereit. Sie darf sich aber nicht länger von Verdi, GEW, dbb & Co. bevormunden lassen. Bezeichnenderweise betonte Verdi-Chef Frank Werneke am ersten Verhandlungstag in Potsdam: „Wir haben von unserer Seite aus kein Interesse an einem wochenlangen Streik.“

Der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst kann nur zum Erfolg geführt werden, wenn die Beschäftigten sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, sich mit Pflegekräften und anderen Teilen der Arbeiterklasse auch international zusammenschließen und die Kontrolle über alle Entscheidungen in die eigenen Hände nehmen! Die Sozialistische Gleichheitspartei ruft dazu auf, Kontakt zur Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees aufzunehmen, und verpflichtet sich, jeden solchen Schritt nach Kräften zu unterstützen. Registriert euch über das unten stehende Formular.

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