Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Twitter veröffentlicht.
Gideon Rachman von der Financial Times hat in einer Kolumne ungewollt, dafür aber umso vernichtender offengelegt, wie weit der bürgerliche Journalismus theoretisch und moralisch heruntergekommen ist – und mit ihm das politische System und die Gesellschaftsordnung, die er verteidigt.
In einer Kolumne mit dem Titel „Lügen schwächen Russland in seiner Kraftprobe“ beklagt Rachman, dass Putin in seiner Besessenheit mit amerikanischer Heuchelei den Westen fälschlicherweise beschuldigt, ein „Lügenimperium“ zu sein.
Rachman hält Putin entgegen, dass „Heuchelei und Lügen nicht ganz dasselbe sind“. Im Gegensatz zur russischen Regierung, die „auf offene Lügen spezialisiert“ sei, seien die USA und ihre Verbündeten „auf Heuchelei spezialisiert“.
Rachman argumentiert, dass die Heuchelei des Westens im Vergleich zu den Lügen Russlands ein weitaus geringerer Fehler sei. Es handele sich lediglich um die bedauerliche Neigung, „ein Ideal oder eine Politik zu verkünden, sie dann aber nicht konsequent umzusetzen“.
Als Beispiel für die inkonsequente Anwendung der westlichen Ideale führt Rachman die „humanitäre Intervention in Libyen“ an, die „direkt und vielleicht absichtlich zu einem Regimewechsel und zum gewaltsamen Tod des libyschen Führers Muammar Gaddafi führte“.
Ein durch Heuchelei geheiligter Mord ist verzeihlich, mag das Opfer auch ebenso tot sein wie das Opfer eines Mordes, der mit Lügen vorbereitet wurde. Und Rachman kann der Heuchelei noch weitere Vorteile abgewinnen.
„In einem Reich der Heuchelei“, schreibt Rachman, „sind eine offene Debatte und Kritik noch möglich. Es werden Fehler gemacht und Verbrechen begangen. Aber diese Verbrechen können aufgedeckt werden – durch offizielle Ermittlungen oder durch eine freie Presse“.
Immerhin sei es der New York Times in einem Reich der Heuchelei möglich gewesen, die „entsetzliche Zahl der zivilen Opfer“ durch den US-Drohnenkrieg offenzulegen. Rachman merkt an: „Die Antwort des Pentagons bestand darin, sich bei der Zeitung zu bedanken und Änderungen zu geloben.“
Rachman spürt, dass dieses Ergebnis der Aufdeckung von Massenmord nicht ganz zufriedenstellend ist: „Wieder Heuchelei? Vielleicht – aber ohne Untersuchung und Aufdeckung gäbe es keine Aussicht auf Reform.“
Dann macht Rachman einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen westlicher Heuchelei und russischen Lügen aus: „In Russland wird niemand für die Untersuchung der Kriegsverbrechen in Butscha oder der Zerstörung von Mariupol ausgezeichnet werden.“
Irgendwie scheint Rachman entfallen zu sein, dass der Preis, der Julian Assange für die Aufdeckung von US-Kriegsverbrechen verliehen wurde, in unerbittlicher staatlicher Verfolgung, grausamer Inhaftierung in einem britischen Höllenloch und drohender Auslieferung an die Vereinigten Staaten besteht.
Der wichtigste Aspekt von Rachmans Essay ist die absurde und selbsttäuschende Prämisse, dass die amerikanische Heuchelei lediglich eine bedauerliche Abweichung von der Ehrlichkeit sei – und nicht die spezifische und hochentwickelte Form eines monströsen Systems der offiziellen und allgegenwärtigen Lüge.
Es mag seltsam anmuten, dass Gideon Rachman – einer der klügeren FT-Kommentatoren – nicht erkennt, dass seine eigene apologetische Abgrenzung der staatlichen Heuchelei von der Lüge im tiefsten Sinne die Vorherrschaft der Lüge in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft unterstreicht.
In seiner berühmten Abhandlung Der Imperialismus, die vor 120 Jahren entstand, erläuterte J.A. Hobson die wesentliche Rolle der Heuchelei als einer Form der Lüge. Sie diente zur Rechtfertigung der monströsen Verbrechen, die im Interesse der herrschenden Eliten der Kolonialreiche begangen wurden.
Die Heuchelei der imperialistischen Machthaber und ihrer Kollaborateure und Apologeten ist nicht konventioneller, rein persönlicher Natur. Sie basiert auf systematischen Lügen über die soziale Wirklichkeit, die so tief verwurzelt sind, dass auch diejenigen an sie glauben, die sie verbreiten. „Der Imperialismus“, schrieb Hobson, „fußt auf einer beharrlichen Verfälschung von Fakten und Kräften. Vornehmlich geschieht das durch einen raffinierten Prozess der Auswahl, Übertreibung und Abschwächung, gelenkt von interessierten Cliquen und Personen, um das Gesicht der Geschichte zu verzerren.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die größte Gefahr des Imperialismus liegt in der Geisteshaltung eines Volks, das sich an diese Täuschung gewöhnt hat und zur Selbstkritik unfähig geworden ist.“
Der folgende Absatz ist eine der stärksten Anklagen gegen die imperialistische Mentalität:
Denn dies ist der Zustand, den Platon „die Lüge in der Seele“ genannt hat – eine Lüge, die sich selbst nicht als Lüge kennt. Eines der Kennzeichen dieses krankhaften Zustands ist eine verhängnisvolle Selbstgefälligkeit.
Wenn eine Nation ihr verfallen ist, weist sie leicht und instinktiv jede Kritik anderer Nationen als Ausfluss von Neid und Bosheit zurück, und jede Kritik von innen gilt dann als unpatriotisch.
Im Vorgriff auf die späteren Werke der großen Marxisten identifizierte J. A. Hobson, der liberale Gegner des Imperialismus, in allgemeiner Form die objektiven sozialen Interessen, die der „Lüge in der Seele“ zugrunde liegen:
Die maßgebende, lenkende Kraft bei dem ganzen Prozess ist, wie wir sahen, der Druck finanzieller und industrieller Motive, der zugunsten von direkten, kurzfristigen materiellen Interessen kleiner, fähiger und wohlorganisierter Gruppen innerhalb einer Nation ausgeübt wird.
Rachman hat nicht die Absicht, seine Leser zu täuschen. Mitgerissen von der Flutwelle der Anti-Russland-Hysterie bestätigt er jedoch Hobsons Feststellung, dass diejenigen, die andere über die Interessen irreführen, die den Imperialismus antreiben, zunächst sich selbst irreführen mussten.