Die Reaktionen auf die Abberufung des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk, zeigen, wie weit die Rehabilitierung des Nationalsozialismus in Deutschland 77 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs fortgeschritten ist.
Obwohl Melnyk ein bekennender Parteigänger des ukrainischen Faschisten, Antisemiten und Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera ist und dessen mörderisches Erbe öffentlich ehrt und verteidigt, zollen ihm in Deutschland zahlreiche führende Politiker und Medien Tribut und ergehen sich in Lobpreisungen und Danksagungen.
Die Vizepräsidentin des Bundestags und langjährige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, schrieb auf Twitter: „Der @MelnykAndrij hat sich mit wirklich voller Kraft für sein Land eingesetzt. Was Bandera angeht, war und bin ich nicht einig mit ihm. Unabhängig davon wünsche ich ihm alles Beste für das, was kommt und vor Allen für sein Land! Und sage: Danke.“
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), twitterte ähnlich. Melnyks Aussagen hätten „polarisiert“ und „die Verteidigung Banderas“ sei „schlimm“ gewesen, aber es seien eben „dramatische Zeiten für die Ukraine und Europa“. Der Botschafter kämpfe „mit aller Kraft um das Überleben seines Landes und seines Volkes und dafür, dass wir nicht wegschauen“. Er wünsche ihm „und seiner Familie eine friedliche Zukunft in einer freien, demokratischen Ukraine. Auf Wiedersehen.“
Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Roderich Kiesewetter, verteidigte die Aussagen Melnyks ganz offen. „Dass er hier nicht immer den diplomatischen Ton traf, ist angesichts der unfassbaren Kriegsverbrechen und des Leids für das ukrainischen Volk mehr als verständlich“, erklärte er gegenüber der Augsburger Allgemeinen. Der Botschafter habe „für sein Land wichtige Verdienste geleistet“ und sei „stets eine wahrnehmbare Stimme“ gewesen, die „für sein Land um Unterstützung warb“.
Ähnliche Aussagen finden sich in den großen Medien. „Trotz allem ein Verlust“, schreibt die Zeit, „Danke, Andrij Melnyk!“, die Welt. Ein Kommentar des ARD-Hauptstadtstudios mit dem Titel „Der Spiegelvorhalter wird fehlen“ bedauert Melnyks Abberufung ebenso. Dessen Versuch, Bandera „reinzuwaschen“, sei zwar ein „schwerer Fehler“ gewesen. Aber wer „wollte dem Diplomaten verübeln, dass er hier mit allen – verbalen – Mitteln sein Land zu retten versucht?“
Der Autor des Artikels, Kai Küstner, erklärt nicht, warum er der Meinung ist, die Verteidigung eines Faschisten und Massenmörders trage zur Rettung eines Landes bei. Er selbst gibt zu, dass Bandera „nicht nur mit den Nazis zusammengearbeitet“ habe, sondern dass dessen Partisanen auch „eine Mitverantwortung für den Massenmord an Polen und Juden im Zweiten Weltkrieg“ trugen.
Aber es ist klar, worum es Küstner geht. Er schreibt: „Es war Andrij Melnyk, der die von Angela Merkel geführte Große Koalition ebenso beständig wie vergeblich vor der Ostseepipeline Nord Stream 2 warnte. Es war Andrij Melnyk, der die Sozialdemokraten an die historischen Irrtümer ihrer russlandfreundlichen Politik erinnerte. Es war Andrij Melnyk, der nach dem Beginn von Putins Angriffskrieg die Ampel und auch den Bundeskanzler heftig dafür kritisierte, wie zögerlich die sein angegriffenes Land mit schweren Waffen versorgten.“
Mit anderen Worten: Melnyk hat in den letzten Jahren und Monaten eine zentrale Rolle dabei gespielt, die deutsche Außenpolitik auf einen aggressiven, anti-russischen Kriegskurs auszurichten.
Nach einer anfänglichen gewissen Zurückhaltung steht Deutschland mittlerweile an der Spitze der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Berlin liefert schwere Waffen und beteiligt sich massiv an der Nato-Kriegsoffensive in Osteuropa. Darüber hinaus sieht die herrschende Klasse den Krieg als Chance, ihre längst ausgearbeiteten Militarisierungs- und Großmachtpläne in die Tat umzusetzen und sich nach zwei verlorenen Weltkriegen wieder zur führenden militärischen Macht in Europa aufzuschwingen.
Auch aus diesem Grund wurde Melnyk in zahllose Talkshows geladen, um seine penetranten Forderungen nach mehr deutschen Waffen vorzutragen und jeden zu denunzieren, der auch nur die Worte „Verhandlung“ oder „Diplomatie“ in Bezug auf Russland in den Mund nahm. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar im Bundestag den 100 Milliarden Euro schweren Sonderfond für die Bundeswehr und schwere Waffen für die Ukraine verkündete, stand Melnyk zusammen mit dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Ehrentribüne und der Bundestag applaudierte.
Dabei wussten Politiker und Medien immer genau, wes Geistes Kind Melnyk ist. Bereits kurz nachdem er seinen Posten als ukrainischer Botschafter 2015 in Deutschland antrat, hatte er das Grab seines Idols Bandera in München besucht, dort Blumen niedergelegt und ihn auf Twitter als „Held“ bezeichnet. Seitdem hat Melnyk seine Bewunderung und Verehrung für den ukrainischen „Providnik“ (Führer) in zahlreichen Interviews kundgetan.
Zuletzt ging er in einem Interview mit der Sendung Jung & Naiv noch einen Schritt weiter. Er feierte Bandera nicht nur als „Freiheitskämpfer“ und „Robin Hood“ der Ukraine, sondern leugnete den Massenmord der von ihm befehligten OUN-Einheiten im Holocaust und bei Massakern an Russen, Polen und Ungarn. „Es gibt keine Belege, dass Bandera-Truppen hunderttausende Juden ermordet haben,“ behauptete er.
Tatsächlich ist es eine historische Tatsache, dass Bandera und seine Anhänger im radikal antisemitischen Flügel der OUN den Vernichtungskrieg der Nazis mit vorbereiteten und nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Ukraine Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung organisierten und russische Kriegsgefangene ermordeten. Als der Journalist Tilo Jung Melnyk mit den Verbrechen der Banderisten konfrontierte, verteidigte der ukrainische Botschafter diese mit den Worten: „Ich werde dir heute nicht sagen, dass ich mich davon distanziere. Und das war’s.“
Das Interview löste einen öffentlichen Aufschrei und scharfe internationale Reaktionen aus. „Die Aussagen des ukrainischen Botschafters sind eine Verzerrung der historischen Tatsachen, eine Verharmlosung des Holocausts und eine Beleidigung derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden,“ erklärte die israelische Botschaft in Berlin auf Twitter.
Das polnische Außenministerium bezeichnete Melnyks Äußerungen als „absolut inakzeptabel“.
Vor allem um die westliche Kriegsallianz gegen Russland nicht zu gefährden, sah sich Kiew letztlich gezwungen, Melnyk als Bestandteil einer diplomatischen Rotation abzuziehen. An der engen Zusammenarbeit mit ihm und am pro-faschistischen Bandera-Kurs der ukrainische Regierung ändert das nichts. Im Gegenteil: Medienberichten zufolge wird Melnyk sogar zum stellvertretenden Außenminister der Ukraine befördert.
Die WSWS bemerkte bereits in einem früheren Artikel, dass die Aussagen Melnyks nicht nur die ukrainische Regierung entlarven, die Bandera und die OUN trotz ihrer furchtbaren, völkermörderischen Verbrechen verehrt, ihm zu Ehren Statuen errichtet, Briefmarken druckt und Straßen und Plätze umbenennt. Sie werfen „auch ein Schlaglicht auf den im Kern faschistischen Charakter der herrschenden Klasse in Deutschland, die 81 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion wieder massiv aufrüstet und sich führend am Nato-Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland beteiligt“.
Der Fall Melnyk ist eine Warnung, aber er hat auch etwas Positives. Die Kriegsunterstützung für die Ukraine hat nicht das Geringste mit der Verteidigung von „Werten“ oder „Demokratie“ zu tun. Es handelt sich um einen gewollten imperialistischen Stellvertreterkrieg. Mit der jahrzehntelangen militärischen Einkreisung Russlands hat die Nato Putins reaktionären Einmarsch in die Ukraine zunächst provoziert und eskaliert den Konflikt nun immer weiter. Die wichtigsten Bündnispartner in der Ukraine berufen sich dabei auf die gleichen faschistischen Kräfte, mit denen Hitler-Deutschland beim Überfall auf die Sowjetunion paktierte.
Auch die Kriegsziele ähneln denen von damals. Den imperialistischen Mächten geht es darum, das rohstoffreiche und geostrategisch bedeutsame Land militärisch zu unterjochen und aufzuspalten, so dass es ausgebeutet und beherrscht werden kann. Ideologisch erfordert der erneute Krieg gegen Russland die Rehabilitierung des Nationalsozialismus und letztlich von Hitler selbst. Das steckt im Kern hinter der Verteidigung von Melnyk. Wenn der ukrainische Faschisten-Führer Bandera kein Verbrecher, sondern ein Held war, warum dann nicht auch der deutsche?
Die herrschende Klasse, die Hitler an die Macht brachte, um den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln, ist nicht weit davon entfernt, das offen auszusprechen. Bereits 2014 hatte der rechtsextreme Humboldt-Professor Jörg Baberowski Hitler im Spiegel als „nicht grausam“ bezeichnet und behauptet: „Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung gesprochen wird.“ Im gleichen Interview solidarisierte er sich mit dem mittlerweile verstorbenen Nazi-Apologeten Ernst Nolte, der bereits im Historikerstreit der 1980er Jahre behauptet hatte, der Holocaust sei eine gerechtfertigte Reaktion auf die Sowjetunion gewesen.
Damals waren die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) die einzigen, die dieser üblen Geschichtsfälschung und Verharmlosung des Nationalsozialismus entgegentraten und davor warnten, dass die Relativierung der historischen Verbrechen des deutschen Imperialismus der Vorbereitung neuer Kriege und neuer Verbrechen dient.
Das hat sich auf dramatische Art und Weise bestätigt. Die gleichen Parteien und Medien, die in den letzten acht Jahren Baberowski verteidigten und die SGP/IYSSE denunzierten, feiern nun Melnyk.
Und die Standpunkte Baberowskis sind mittlerweile der Kern der deutschen Regierungspolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nutzte am 22. Juni Mai ausgerechnet den 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, um in einer Regierungserklärung eine massive Ausweitung des Stellvertreterkriegs gegen Russland zu verkünden. Dabei erwähnte er die deutschen Verbrechen – die Ermordung von mindestens 27 Millionen Sowjetbürgern und den Holocaust – mit keinem Wort.
In der Bevölkerung wächst der Widerstand gegen diese Entwicklung. Laut einer Civey-Umfrage begrüßen 69 Prozent der Deutschen Melnyks Abberufung. Nur etwa jeder Zehnte bedauert sie. Faschismus und Krieg sind unter Arbeitern und Jugendlichen gerade auf Grund der historischen Verbrechen verhasst. Es kommt jetzt darauf an, diese massive Opposition zu organisieren und mit einer klaren Perspektive zu bewaffnen. Die dringende Aufgabe in Deutschland und international ist der Aufbau einer mächtigen sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus.
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