Pakistan droht enorme humanitäre Krise wegen anhaltender Überschwemmungen

Pakistan wird weiterhin von beispiellosen Überschwemmungen heimgesucht, die nachweislich auf den Klimawandel zurückzuführen sind bzw. damit in Zusammenhang stehen. Die offizielle Zahl der Todesopfer ist seit letzter Woche um mehr als 250 gestiegen.

Inzwischen sind 1.391 Menschen durch die Überschwemmungen ums Leben gekommen, weitere 12.700 wurden verletzt. Die Überschwemmungen haben ein Drittel des verarmten südasiatischen Landes unter Wasser gesetzt. Am Freitag meldete die Nationale Katastrophenschutzbehörde Pakistans weitere 36 Todesopfer innerhalb der letzten 24 Stunden.

Luftaufnahme von Shahdadkot, Khairpur Nathan Shah, Mado, Faridabad, Mehar sowie weiterer Städte der pakistanischen Provinz Sindh während der Überschwemmungen 2022 (Ali Hyder Junejo / HYPERLINK 'https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/' \t '_blank' CC BY 4.0) [Photo by Ali Hyder Junejo / CC BY 4.0]

Die offiziellen Zahlen der Todesopfer und Verletzten gelten jedoch allgemein als viel zu niedrig angesetzt, da viele Gebiete aufgrund der Zerstörung von Brücken und sonstiger Infrastruktur noch immer völlig abgeschnitten sind. Darüber hinaus wächst die Gefahr von Infektionskrankheiten.

Mehr als 33 Millionen Menschen – ein Siebtel der Bevölkerung – gelten als vertrieben, obdachlos oder direkt von den Überschwemmungen betroffen, darunter 16 Millionen Kinder.

Selbst vor den Zerstörungen durch die Überschwemmungen galt fast die Hälfte der Bevölkerung als ernährungsunsicher. Millionen müssen jetzt in Notunterkünften oder kaum instand gehaltenen Lagern leben. Weil es dort kaum Hilfslieferungen gibt, schlafen viele im Freien.

Den Überlebenden der Flut fehlt es an Nahrungsmitteln, Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Weil es in den Lagern keine Toiletten gibt, müssen sich die Bewohner in der Umgebung erleichtern. Am schlimmsten sind Kinder und Schwangere von diesen unerträglichen Bedingungen betroffen. Laut dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen sind 650.000 schwangere Frauen von den Überschwemmungen betroffen, von denen 73.000 noch in diesem Monat entbinden sollen.

Der Mangel an angemessenen sanitären Anlagen hat ideale Bedingungen für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten geschaffen. Die fehlenden Toiletten gelten als Hauptursache für die starke Ausbreitung von Hautinfektionen und Magen-Darm-Grippe in den Lagern. Alleine in der Provinz Sindh wurden mehr als 134.000 Fälle von Durchfall und 44.000 Malariafälle gemeldet. Auch andere durch Moskitos übertragene Krankheiten breiten sich aus; Karachi meldete im August 1.265 Fälle von Denguefieber sowie allein 347 Fälle in den ersten fünf Tagen des September.

Es findet fast keine Koordinierung der Such- und Rettungseinsätze statt, um die Menschen zu finden, die durch die Überschwemmungen in Not geraten sind. Auch die Hilfsaktionen, die größtenteils vom Militär übernommen werden, werden in keiner Weise dem Ausmaß der Krise gerecht. 81 der 160 Distrikte des Landes sind von Überschwemmungen betroffen und angesichts der für die kommenden Tage vorhergesagten schweren Regenfälle ist ein rasches Zurückgehen des Hochwassers unwahrscheinlich.

Das National Flood Response Coordination Centre (NFRCC) meldete am Mittwoch, dass das Militär in den vorangegangenen 24 Stunden bei 20 Hubschrauberflügen 217 Menschen in Not gerettet und 30 Tonnen Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete gebracht hatte. Auch die Marine und die Luftstreitkräfte führen Rettungs- und Hilfseinsätze durch, allerdings in geringerem Umfang.

Die Wasserstände sind in den letzten Tagen zwar etwas zurückgegangen, doch der Manchar-See im Herzen der Provinz Sindh, der größte Süßwassersee des Landes, droht jederzeit über die Ufer zu treten, was zu einem massiven Verlust von Menschenleben führen könnte. Um dies zu verhindern, wurden mehrere geplante Durchbrüche vorgenommen. Wie erwartet haben die Durchbrüche zur Überflutung zahlreicher umliegender Dörfer geführt und die Evakuierung von mehreren Hunderttausend Menschen notwendig gemacht. Am Mittwoch gaben die Behörden in Bhan Syedabad eine Evakuierungswarnung für 150.000 Einwohner und 10.000 Vertriebene heraus, die hier Zuflucht gesucht hatten.

Die Provinzregierung von Belutschistan, der ärmsten und unterentwickeltsten Region des Landes, bezeichnete am 1. September 32 ihrer 34 Distrikte als „von der Katastrophe betroffen“. Auch die Provinz Khyber Pakthunkhwa im Norden ist stark betroffen.

Es wird befürchtet, dass die Überschwemmung die Ruinen von Mohenjo-daro wegspülen könnte, einer der weltweit bedeutendsten archäologischen Stätten. Dort befinden sich eine Siedlung, die rund 2500 Jahre v. Chr. erbaut wurde. Die Überschwemmungen haben die Stätte noch nicht erreicht, allerdings wurde sie durch außergewöhnlich starke Regenfälle beschädigt, mehrere Mauern sind eingestürzt. Mohenjo-daro war ein Zentrum der Harappan- oder Indus-Tal-Zivilisation und hat ein ausgeklügeltes antikes Entwässerungssystem, wodurch es frühere Überschwemmungen überstehen konnte. Die Stätte gilt als die am besten erhaltene antike städtische Siedlung in Südasien.

Am 30. August richteten die Vereinten Nationen einen dringenden Appell an ihre Mitgliedsstaaten, 160 Millionen Dollar für die Versorgung der Überschwemmungsopfer mit Nahrungsmitteln, Unterkünften und medizinischen Hilfsgütern bereitzustellen. Trotz der massiven humanitären Krise konnten sie in den vergangenen eineinhalb Wochen seither nicht einmal diesen geringen Betrag aufbringen.

Die oberste Priorität der pakistanischen Übergangsregierung, einer Koalition aus der Großindustrie-nahen Muslim League Nawaz (PML-N) und der People's Party (PPP), besteht darin, die Ausgaben auf die Höhe zu beschränken, die der Internationale Währungsfonds im Rahmen eines Rettungspakets festgelegt hat.

Bisher hat die Regierung nur 70 Milliarden Rupien bzw. 314 Millionen US-Dollar als Hilfsgelder für die mehr als 33 Millionen Flutopfer bereitgestellt, von denen viele ihre Häuser, Ernten und ihr Vieh verloren haben.

Den Überschwemmungen gingen im März und April extrem hohe Temperaturen voraus, wobei regelmäßig die Marke von 45 Grad Celsius, in einigen Orten sogar die 50-Grad-Marke überschritten wurde. Darauf folgten ein früher Beginn der Monsunzeit und Niederschläge, die im Juli und August das Drei- bis Achtfache des Durchschnitts betrugen. Die lang anhaltenden Hitzewellen haben das langfristige Abschmelzen der Gletscher im Himalaya und Hindukusch beschleunigt. Dadurch wurde ein Phänomen ausgelöst, das als Gletschersee-Überschwemmung bekannt ist. Hierbei treten große, durch schmelzende Gletscher entstandene Wassermassen plötzlich über ihre behelfsmäßig errichteten Ufer, stürzen die Bergehänge hinunter und überfluten die tieferliegenden Gebiete. Neben den tödlichen Sturzfluten haben die Gletschersee-Überschwemmungen auch verheerende Erdrutsche ausgelöst.

Dr. Fahad Saeed, der Regionalleiter für Südasien bei Climate Analytics, einer internationalen Organisation für Klimawissenschaft und politische Analysen, erklärte gegenüber der BBC, die verheerenden Überschwemmungen in Pakistan seien „ein absoluter Weckruf“ an die Regierungen der Welt: „Das alles passiert, während sich die Welt um 1,2 Grad erwärmt hat. Jede weitere Erwärmung ist ein Todesurteil für viele Menschen in Pakistan.“

UN-Generalsekretär Antonio Guterres ging in einer Rede im Vorfeld seines Besuchs in Pakistan am 9. September auf die anhaltende Weigerung der Weltmächte ein, auf den Klimawandel zu reagieren. Er erklärte, der Ukrainekrieg erhalte „große Aufmerksamkeit, doch die Menschen vergessen leicht, dass es noch einen anderen Krieg gibt – unseren Krieg gegen die Natur. Die Natur schlägt zurück, und der Klimawandel treibt die Zerstörung unseres Planeten weiter voran. Der Klimawandel ist das entscheidende Problem unserer Zeit, und darauf zu reagieren, indem man zur Tagesordnung übergeht, ist reiner Selbstmord.“

Solche rein rhetorischen Proteste stoßen bei den Großmächten auf taube Ohren.

Guterres erwähnte nicht, dass die USA führend darin sind, eine wirksame Reaktion auf den Klimawandel zu verhindern. Diese Woche kündigte Washington die Bereitstellung von 30 Millionen Dollar für Opfer des Klimawandels in Pakistan an, d.h. weniger als ein Dollar für jeden Betroffenen. Diese erbärmliche Summe verblasst im Vergleich zu den zweistelligen Milliardenbeträgen, die die USA als militärische Unterstützung in die Ukraine gepumpt hat, um einen Krieg gegen Russland auszuweiten, der bereits Zehntausende auf beiden Seiten getötet hat und einen katastrophalen Atomkrieg auszulösen droht.

Letzte Woche bezifferte die pakistanische Regierung die Flutschäden auf zehn Milliarden Dollar, doch diese Zahl wurde drastisch nach oben korrigiert, als das Ausmaß der Katastrophe deutlicher wurde. Die neue Schätzung beträgt 30 Milliarden Dollar, d.h. mehr als 60 Prozent des pakistanischen Staatshaushalts von 47 Milliarden Dollar. Laut den pakistanischen Behörden wurden mehr als 5.700 Kilometer Straße beschädigt, mehr als 240 Brücken zerstört oder unbrauchbar und mehr als eine Million Wohnhäuser weggespült oder schwer beschädigt. Laut UNICEF wurden 18.000 Schulen beschädigt oder zerstört.

Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen am 29. August berichtete, wurden in der zweitgrößten Provinz Sindh fast 80 Prozent der Ernte zerstört. Am schlimmsten war der Baumwollanbau betroffen. Rohe Baumwolle ist das drittgrößte Exportgut Pakistans und lebenswichtig für die Textilindustrie, die für die meisten Exporte des Landes verantwortlich ist.

Die Zerstörung der Ernten wird auch die Preise für Lebensmittel in die Höhe treiben, während Pakistan, genau wie viele andere Länder der Welt, ohnehin von Energie- und anderen Preissteigerungen betroffen ist. Anfang des Monats meldete das pakistanische Statistikamt, die Inflationsrate habe mit 45,5 Prozent einen historischen Höchststand erreicht.

Der größte Inflationstreiber war die Abschaffung der Subventionen für Energieprodukte, die zu einem scharfen Anstieg der Preise führte. Im Rahmen eines Abkommens mit dem IWF, der letzte Woche eine Kredittranche von 1,16 Milliarden US-Dollar für Pakistan freigegeben hat, muss die Regierung die Benzinpreise um weitere 53 Prozent erhöhen. Laut der Zeitung Dawn hat sie sich verpflichtet, die allgemeine Mehrwertsteuer auf Erdölprodukte wieder einzuführen und andere Preissubventionen zu kürzen. Alleine die Erhöhung der Benzinpreise soll der Regierung Mehreinnahmen in Höhe von 786 Milliarden Rupien bescheren, mehr als zehnmal so viel wie Islamabad für Dutzende Millionen Flutopfer bereitgestellt hat.

Gleichzeitig unterbrechen die Überschwemmungen in Pakistan die Lebensmittelversorgung von Afghanistan und verschärfen die humanitäre Krise in dem Binnenstaat. Außerdem leben in Pakistan 1,3 Millionen afghanische Flüchtlinge, schätzungsweise 420.000 davon in den am stärksten von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten.

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