Flut im Ahrtal: Zahlreiche Leben hätten gerettet werden können

Mehr als ein Jahr nach der Flutkatastrophe, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 Teile von Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Belgien verwüstete und allein im Ahrtal 134 Menschen das Leben kostete, sind neue Videos aufgetaucht, die bestätigen, dass bei entsprechender Reaktion der verantwortlichen Politiker ein großer Teil der Todesfälle hätte verhindert werden können.

Die Videos wurden von einem Polizeihubschrauber aufgenommen, der am Abend des 14. Juli 2021 das gesamte Ahrtal überflog und insbesondere an der oberen Ahr zwischen Mayschoß und Schuld dramatische Bilder festhielt. Doch sie erreichten den Ausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags, der die Flutkatastrophe untersucht, erst Ende September 2022. Sie wurden den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses unter Ausschluss der Medien und der Öffentlichkeit gezeigt und wenige Tage später, aus daten- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen verpixelt, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Flutkatastrophe: "Es sieht immer noch so aus wie in einem Nachkriegsgebiet"

Die Videos zeigen die verheerende Situation, in der sich die Menschen des oberen Ahrtals bereits am Abend der ersten Flutnacht befanden. Sie wurden zwischen 22:14 und 22:44 Uhr aufgenommen, mehrere Stunden bevor die reißende Flut an der unteren Ahr viele weitere Menschen in den Tod riss.

Ganze Landstriche sind überflutet, Dörfer von Wassermassen eingeschlossen, viele Häuser stehen bis zum Dach unter Wasser. Man sieht immer wieder Lichtpunkte, die zu Menschen gehören, die vom Balkon oder Dach ihrer Häuser aus versuchen, auf sich aufmerksam zu machen, und auf Rettung hoffen. Einmal sieht man ein vorbeischwimmendes Auto mit Innenbeleuchtung. Ob sich Menschen darin befinden, ist nicht zu erkennen.

Eine Warnung aufgrund dieser Aufnahmen und die rechtzeitige Evakuierung der Häuser am unteren Flusslauf hätte viele Menschen, die von der Flut mitgerissen wurden oder in ihren Wohnungen und Häusern ertranken, das Leben retten können.

Das gilt auch für die zwölf Menschen, die im Erdgeschoss eines Hauses der Lebenshilfe für Behinderte in Sinzig ertranken, das kurz vor der Mündung der Ahr in den Rhein liegt. Der einzige Betreuer, der in dieser Nacht für zwei Häuser dieser Einrichtung zuständig war, hatte es nicht geschafft, alle Betroffenen in das nächsthöhere Stockwerk zu bringen, als die Flutwelle mit hoher Geschwindigkeit auf die Häuser zuschoss.

Die Videos aus dem Polizeihubschrauber belegen die kriminelle Untätigkeit der rheinland-pfälzischen Landesregierung, einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP, und insbesondere von Innenminister Roger Lewentz (SPD).

Das Lagezentrum des Innenministeriums hatte den Polizeihubschrauber selbst angefordert, um sich ein genaueres Bild der Lage im Flutgebiet zu machen. Jeder Laie, der die jetzt veröffentlichen Videos sieht, kann erkennen, dass die sofortige Mobilisierung überregionaler Rettungskräfte und die Warnung und Evakuierung der Menschen am unteren Flusslauf dringend erforderlich war. Doch nichts dergleichen geschah in dieser Nacht.

Angeblich hatten die Videoaufnahmen das Lagezentrum nicht erreicht. Erst in den letzten Wochen, als der Untersuchungsausschuss des Landtags vermehrt Material anforderte, sollen sie auf der externen Festplatte eines Mitglieds der Hubschrauberbesatzung entdeckt worden sein.

Die Behauptung, die Videoaufnahmen hätten das Lagezentrum nicht erreicht, wird allerdings durch die Tatsache widerlegt, dass der Pilot des Polizeihubschraubers noch in derselben Nacht einen schriftlichen Bericht über die Erkenntnisse des Überflugs mit Fotos aus den Videoaufnahmen per Email an das Lagezentrum des Innenministeriums übermittelte und die dramatische Lage vor Ort schilderte. Eine Sprecherin des Innenministeriums hat bestätigt, dass dieser Bericht um 0.53 Uhr im Lagezentrum eingegangen war.

Innenminister Lewentz behauptet, die Aufnahmen seien ihm nicht bekannt gewesen, er habe sie zum ersten Mal bei der Vorführung im Untersuchungsausschuss am 23. September dieses Jahres gesehen. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage steht im Raum.

Skandalös war auf jeden Fall Lewentz‘ Antwort auf Reporterfragen nach Bekanntwerden der Videos. Bisher hatte der Innenminister seine Untätigkeit in der Flutnacht immer damit gerechtfertigt, dass er kein Gesamtbild der Lage und keine Hinweise auf einen Katastrophenfall gehabt habe. Nun erklärte Lewentz, man sehe auf den Videos zwar ein „starkes Hochwasser“, aber keine Katastrophe. Es seien keine eingestürzten Häuser, keine weggerissenen Brücken, keine zerstörte Bahnlinie zu sehen, wie man sie später im Hellen habe feststellen müssen.

Die Frage, ob die Bilder etwas an seinem Verhalten geändert hätten, wenn er sie in dieser Nacht gesehen hätte, beantwortete der Minister mit „Wohl nein“. Man sehe ja auch Rettungskräfte auf den Bildern, alles, was von Feuerwehren und THW, Bundeswehr, Rettungsdienstorganisationen, DLRG und anderen in den Einsatz geführt wurde. „Ich hätte keine anderen Hilfsmöglichkeiten gehabt.“

Am 12. Oktober, zweieinhalb Wochen nach Vorführung der Videos im Untersuchungsausschuss, trat Lewentz schließlich von seinem Amt zurück. „Heute übernehme ich für in meinem Verantwortungsbereich gemachte Fehler die politische Verantwortung“, begründete er seinen Schritt. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) nahm den Rücktritt an, ließ Lewentz aber bis zur Ernennung eines Nachfolgers geschäftsführend im Amt. Ob er auch den Vorsitz der SPD Rheinland-Pfalz niederlegt, ließ Lewentz offen.

Lewentz Verhalten ist nur ein Beispiel für die Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber dem Leben und der Sicherheit der Bevölkerung, die zahlreiche Politiker während und nach der Flutkatastrophe an den Tag legten. Im April dieses Jahres mussten bereits die rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) und die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) zurücktreten, weil sie während oder kurz nach der Flutkatastrophe Urlaub gemacht und in den jeweiligen Untersuchungsausschüssen darüber die Unwahrheit gesagt hatten.

Bereits kurz nach der Flutkatastrophe hatte die World Socialist Web Site festgestellt: „Die schweren Folgen der Flutkatastrophe waren nicht einfach das Ergebnis einer Naturkatastrophe ‚unvorstellbaren Ausmaßes‘, sondern das Ergebnis der Verantwortungslosigkeit von Politikern und Behörden in Bund, Ländern und Kommunen. Vor allem dass die Flut so viele Menschen getötet und so verheerende Schäden angerichtet hat, ist eine direkte Folge der kriminellen Untätigkeit der Regierungen auf Bundes- und Landesebene.“

Den Rücktritt von Umweltministerin Spiegel kommentierte die WSWS: „Spiegel verkörpert das Milieu der Grünen – ein gesellschaftliches Milieu, dessen Welt sich um die eigene Befindlichkeit dreht, das bereit ist, für die eigene Karriere über Leichen zu gehen, und das gegenüber ärmeren Schichten nur Verachtung übrig hat.“

Diese Verantwortungslosigkeit und Verachtung für die Arbeiterklasse teilt auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), die in der Flutnacht nichts unternahmen, um die tödlichen Auswirkungen der Flut einzugrenzen.

Die Bevölkerung vor Ort reagierte auf die Veröffentlichung der Videos und die Reaktion von Innenminister Lewentz mit einer Mischung aus Unverständnis und Wut. So sagten betroffene Anwohner am 8. Oktober dem ZDF-Länderspiegel: „Wer auf den Videos keine Katastrophe sieht, ist total fehl am Platz.“ Eine Frau fragte: „Wer wird verurteilt? Niemand!“ Ein Bewohner sagte: „In Sinzig, in diesem Heim, wo die Flut erst drei bis vier Stunden später war, hätten die Menschen gerettet werden können.“

Die Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber dem Leben und den Bedürfnissen der Bevölkerung, die im Verhalten von Roger Lewentz zum Ausdruck kommt, zeigt die wirklichen Prioritäten aller kapitalistischen Parteien. Daran wird auch sein Rücktritt nichts ändern.

Dieselbe Verachtung zeigt sich auch in der Profite-vor-Leben-Politik in der Corona-Pandemie, die bereits über 150.000 Menschenleben gekostet hat, und in der rücksichtslosen Kriegspolitik, die alle im Bundestag vertreten Parteien trotz der Gefahr eines dritten nuklearen Weltkriegs verfolgen. Nur eine vereinte Bewegung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms kann diesen Wahnsinn beenden.

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