Inmitten der sich verschärfenden nuklearen Konfrontation zwischen der Nato und Russland veranstaltet die Nato seit Montag die Militärübung Steadfast Noon, bei der US-amerikanische B-52-Bomber und F-16-Kampfflugzeuge den Abwurf von Atombomben über Europa proben. Die Übung, an der die Bundeswehr im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe beteiligt ist, läuft bis zum 30. Oktober.
Nur zehn Tage vor dieser Militärübung hatte US-Präsident Joe Biden vor einer nuklearen „Apokalypse“ gewarnt und erklärt, das Risiko eines Atomkriegs sei so groß wie zuletzt in der Kubakrise im Jahr 1962.
Hans Kristensen von der Federation of American Scientists schrieb: „Bei dieser Übung wird der Einsatz von Nato-Atomwaffen mit konventionell und atomar einsetzbaren Flugzeugen und den taktischen Atombomben des Typs B61 geübt, welche die USA in Europa stationiert haben.“
Die Flugzeuge proben den Abwurf von „taktischen“ thermonuklearen Bomben des Typs B61, von denen jede 20-mal stärker ist als die Waffen, die im Zweiten Weltkrieg Hiroshima und Nagasaki zerstörten und bis zu 126.000 Zivilisten töteten.
Normalerweise werden atomare Trainingsübungen als Routine dargestellt, die keine Bedrohung bedeuten und nicht gegen ein bestimmtes Land gerichtet sind. Doch dieses Jahr machte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg deutlich, dass die Übung als Drohung gegen Russland zu verstehen ist.
Stoltenberg erwähnte Russland in seiner Rede fünfmal und kündigte an: „Nächste Woche wird die Nato ihre seit Langem geplante Abschreckungsübung Steadfast Noon abhalten... Russland weiß, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist und nie geführt werden darf.“
Im Jahr 2019 hatten die USA in ganz Europa 150 „taktische“ Atomsprengköpfe als Teil des Nato-Atomarsenals stationiert, u.a. in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei.
Am Sonntag, einen Tag vor der geplanten Atomwaffenübung, wies China seine in der Ukraine lebenden Staatsbürger unter Hinweis auf die „ernste Sicherheitslage“ an, das Land zu verlassen.
Im Juni veröffentlichte die Nato ein Dokument, in dem sie sich verpflichtete, „das gesamte Spektrum an Streitkräften“ bereitzustellen, das für eine „hochintensive domänenübergreifende Kriegführung gegen atomar bewaffnete Konkurrenten“ benötigt wird.
In ihrer Ankündigung der Übung Steadfast Noon erklärte die Nato, dass an den Trainingsflügen „14 Staaten und bis zu 60 Flugzeuge verschiedener Typen teilnehmen, darunter Kampfflugzeuge der vierten und fünften Generation sowie Überwachungs- und Tankflugzeuge“. Weiter heißt es: „US-amerikanische B-52-Langstreckenbomber werden vom Luftwaffenstützpunkt Minot in North Dakota anfliegen“, um an der Übung teilzunehmen.
Die Flüge finden „über Belgien statt, das Gastgeber der Übung ist, außerdem über der Nordsee und dem Vereinigten Königreich“.
Die Nato fügte hinzu: „Es werden keine scharfen Waffen benutzt.“ Das ist eine Erleichterung, denn die bei der Übung eingesetzten Waffen würden mehrere hundert Quadratkilometer Fläche verstrahlen und der radioaktive Niederschlag würde sich auf mehrere Länder ausbreiten.
Am 7. Oktober erklärte Präsident Joe Biden, der Welt drohe ein nukleares „Armageddon“, d.h. dass die rasche Eskalation des Krieges in der Ukraine zu einem Atomkrieg zwischen den USA und Russland führen könnte.
Biden erklärte: „Seit Kennedy und der Kubakrise waren wir nicht mehr mit der Aussicht auf ein Armageddon konfrontiert.“
Er fügte hinzu, er glaube nicht, dass „es möglich ist, eine taktische Atomwaffe (einzusetzen) und dabei nicht gleichzeitig in einem Armageddon zu enden“.
Im Februar hatte er gewarnt, dass die Lieferung von Angriffswaffen an die Ukraine den „Dritten Weltkrieg“ auslösen würde. Seither haben die USA Hunderte von Panzerfahrzeugen, hochmoderne Langstreckenraketensysteme und andere hochmoderne Waffen an die Ukraine geliefert.
Das Magazin Politico veröffentlichte letzte Woche einen Artikel des ehemaligen CIA-Direktors Leon Panetta, in dem dieser schrieb, dass nach Ansicht der US-Geheimdienste die Wahrscheinlichkeit, einer Eskalation des Ukrainekrieges zu einem Atomkrieg bei eins zu vier liege.
Panetta schrieb: „Einige Geheimdienstanalysten glauben mittlerweile, dass die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes taktischer Atomwaffen in der Ukraine von eins bis fünf Prozent zu Beginn des Krieges auf heute 20 bis 25 Prozent gestiegen ist.“
Der Guardian berichtete am Freitag, die Regierungen würden Pläne ausarbeiten, um eine „Panik“ zu verhindern, falls der Krieg in der Ukraine zu einem nuklearen Konflikt eskalieren sollte. Der Bericht trug die Überschrift: „Der Westen arbeitet an Plänen, um Panik zu vermeiden, wenn Russland in der Ukraine eine Atombombe einsetzt“. Er zitierte einen anonymen Regierungsvertreter, laut dem die Regierungen „sorgfältige Planungen für mehrere mögliche Szenarien“ durchführen.
Die Nato-Atomwaffenübung findet nahezu zeitgleich mit der russischen Atomübung „Grom“ statt. Während die Nato ihre Atomwaffen-Übungen lautstark angekündigt hat, kamen von Russland keine ähnlichen Ankündigungen.
Das hat Vertreter der Nato jedoch nicht daran gehindert, die bislang nicht angekündigte russische Übung als provokante Eskalation zu verurteilen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Ein anonymer US-Regierungsvertreter erklärte gegenüber Reuters: „Es ist verantwortungslos, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten mit Atomwaffen zu nötigen.“
Er fügte hinzu: „Wir halten nukleares Säbelrasseln für skrupellos und unverantwortlich. Russland mag dieses Spiel spielen, aber wir nicht.“ Nur wenige Tage später kündigte Washington an, Bomber nach Europa zu schicken und den Abwurf von Atombomben zu üben.
Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, drohte letzte Woche mit der „Vernichtung“ des russischen Militärs, wenn in der Ukraine Atomwaffen eingesetzt werden: „Jeder nukleare Angriff auf die Ukraine wird eine Reaktion nach sich ziehen – keine nukleare, aber eine so starke militärische Reaktion, dass die russische Armee vernichtet wird.“
Am 7. Oktober, am gleichen Tag, an dem Biden vor dem atomaren Armageddon warnte, forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Treffen einer australischen Denkfabrik die Nato zu Präventivschlägen gegen Russland auf, um „einen möglichen Atomwaffeneinsatz Russlands“ zu verhindern.
Er erklärte: „Was sollte die Nato tun? Die Möglichkeit eines russischen Atomwaffeneinsatzes eliminieren. Wir brauchen Präventivschläge, damit sie wissen, was mit ihnen passieren wird, wenn sie Atomwaffen einsetzen, nicht umgekehrt.“
In dieser hochgradig aufgeheizten Atmosphäre birgt die von den USA angeführte Atomwaffenübung das Risiko einer schweren Fehleinschätzung. Es ist allgemein bekannt, dass die Nato-Übung Able Archer während des Kalten Kriegs 1983 fast zu einem Atomkrieg geführt hätte, weil die Führung der Sowjetunion davon überzeugt war, dass die USA tatsächlich mit Atomwaffen angreifen würden.
Die Washington Post schrieb, die sowjetischen Bomberbesatzungen „erhielten den Befehl, in jedem Regiment eine Staffel mit Atombomben zu bestücken, und die Flugzeuge wurden in ,Bereitschaftsstufe 3‘ versetzt, d.h. eine Einsatzbereitschaft von 30 Minuten.“
Im Februar 2021 hat das Historian’s Office des US-Außenministeriums einen Brief von Lieutenant General Leonard H. Perroots freigegeben, laut dem die sowjetischen Streitkräfte als Reaktion auf den US-Aufmarsch ihre Bomber mit Atomsprengköpfen bestückten und es zu einem Atomkrieg hätte kommen können, wenn die USA entsprechend reagiert hätten.
Nach der Veröffentlichung wurde der Brief von Perroots vom Außenministerium offline genommen. Ein Richter entschied, er solle wieder als geheim eingestuft werden.