100 Jahre „Marsch auf Rom“

Vor hundert Jahren, am 31. Oktober 1922, marschierte Benito Mussolini, der Führer der Nationalen Faschistischen Partei, an der Spitze mehrere tausend Schwarzhemden durch Rom. Am Tag zuvor hatte ihn Italiens König Vittorio EmanueleIII. zum italienischen Ministerpräsidenten ernannt.

Es war der Auftakt zu einer brutalen Diktatur, die 23 Jahre dauern sollte. Die Faschisten unterdrückten demokratische Rechte, terrorisierten und zerschlugen die organisierte Arbeiterbewegung, führten grauenhafte Kolonialkriege, verbündeten sich mit Hitler-Deutschland zum Zweiten Weltkrieg und schickten 9000 Juden in die Gaskammern.

Mussolini (Zweiter von links) inspiziert Schwarzhemden vor dem Marsch auf Rom

Das Regime des „Duce“ wurde zum Vorbild zahlreicher weiterer Diktaturen, der Begriff Faschismus zum Inbegriff von Gewaltherrschaft und Barbarei. Mussolinis gelehrigster Schüler war Adolf Hitler, der ein Jahr später den „Marsch auf Rom“ mit einem Putsch in München imitierte. Der Putsch misslang, trotzdem übernahm Hitler zehn Jahre später in Berlin die Macht.

Der hundertste Jahrestag von Mussolinis Machtübernahme ist nicht nur von historischem Interesse, sondern von brennender politischer Aktualität. Seit einer Woche führen Mussolinis politische Erben, die Fratelli d’Italia, die italienische Regierung.

Die neue Ministerpräsidentin, Giorgia Meloni, hat den Faschismus zwar aus taktischen Gründen zur „historischen Frage“ erklärt, doch es ist unübersehbar, dass sie und ihre Partei fest in der faschistischen Tradition verankert sind. In den Reihen der Fratelli wimmelt es von Verehrern Mussolinis und faschistischer Kriegsverbrecher, sie unterhalten enge Verbindungen zu militanten Neonazis und rechtsextremen Elementen im Staatsapparat und vertreten einen aggressiven Nationalismus und Rassismus.

Meloni selbst führt die Partei aus dem früheren Büro von Giorgio Almirante, der unter Mussolini die faschistische Tageszeitung Il Tevere sowie die antisemitische Zeitschrift La difesa della razza (Verteidigung der Rasse) leitete und von 1946 bis 1987 das Movimento Sociale Italiano (MSI), die Nachfolgeorganisation von Mussolinis Faschistischer Partei und Vorgängerin der Fratelli, führte.

Melonis Regierungsübernahme, die von allen italienischen Parteien und europäischen Regierungen mehr oder weniger offen begrüßt wurde, ist Bestandteil einer Rechtswende der gesamten internationalen Bourgeoisie. Konfrontiert mit einer unlösbaren ökonomischen Krise und einem Aufschwung des Klassenkampfs, setzt sie auf Krieg gegen Russland und China und auf autoritäre Herrschaftsformen, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken.

Dies verleiht den Lehren des Marsches auf Rom eine außergewöhnliche Aktualität. Die Geschichte wiederholt sich nicht, oder zumindest nicht in gleicher Form. Doch um die Rückkehr der Erben Mussolinis an die Spitze der italienischen Regierung und die damit verbundenen Gefahren zu verstehen und zu bekämpfen, ist das Studium dieser Lehren unverzichtbar.

Der „Marsch auf Rom“

Die Faschisten haben den Marsch auf Rom zum Mythos verklärt, laut dem 300.000 Schwarzhemden, getragen vom Volk, eine nationale Revolution vollbrachten und 3000 Märtyrer ihr Leben gaben.

Die Wirklichkeit sah anders aus. Mussolinis Ruf, nach Rom zu marschieren, folgten am 27. Oktober gerade einmal 5000 Faschisten, die, ausgehungert und schlecht ausgerüstet, in der Nähe der Hauptstadt im Regen und Schlamm stecken blieben. Am folgenden Tag kamen etwa 10.000 weitere hinzu. Mussolini verharrte in Mailand, wo er an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die Oper besuchte – bereit, im Falle eines Fehlschlags über die nahegelegene Schweizer Grenze zu flüchten.

Für die Armee wäre es ein Leichtes gewesen, den Haufen zu zerstreuen. Ministerpräsident Luigi Facta erließ nach langem Zögern einen entsprechenden Befehl. Doch der König weigerte sich, die Notstandserklärung zu unterzeichnen, und beauftragte stattdessen Mussolini am Abend des 29. Oktober mit der Bildung einer neuen Regierung. Dieser reiste darauf im Schlafwagen nach Rom, wo er am 30. Oktober die Amtsgeschäfte übernahm. Erst am Tag danach marschierte der neue Regierungschef dann an der Spitze eines sorgfältig inszenierten Triumphmarsches in die Hauptstadt ein.

Die Legende vom Marsch auf Rom leistete sowohl den Faschisten wie all jenen, die ihnen zur Macht verhalfen, gute Dienste. Den Faschisten diente sie als Gründungsmythos und einigendes Ritual, ihren Helfern in Wirtschaft und Staat zur Vertuschung der Tatsache, dass sie und nicht „das Volk“ es waren, die dem Diktator zur Macht verholfen hatten.

Was genau den König bewog, sich für Mussolini zu entscheiden, ist historisch nicht geklärt. Es ist aber offensichtlich, dass mächtige Kräfte aus Wirtschaft, Armee und Polizei ihn dazu drängten. Mussolini konnte für den „Marsch auf Rom“ auf einen beträchtlichen Kriegsfonds zurückgreifen. Der Industriellenverband hatte ihm vorher 20 Millionen Lire überwiesen. Die Faschisten wurden gebraucht, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, nachdem das Land vier Jahre lang am Rand der sozialistischen Revolution gestanden hatte.

Die besondere Aufgabe des Faschismus besteht darin, das verzweifelte Kleinbürgertum „zu einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie“ zusammenzupressen, wie Leo Trotzki 1932 erklärte. Zu diesem Zweck bedient er sich nationaler, rassistischer aber auch sozialer und antikapitalistischer Demagogie. Einmal an der Macht, erweist er sich dagegen als nackte Diktatur des Finanzkapitals:

Der Sieg des Faschismus führt dazu, dass das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt: Staatsapparat und Armee, Gemeindeverwaltungen, Universitäten, Schulen, Presse, Gewerkschaften, Genossenschaften. Die Faschisierung des Staates bedeutet nicht nur die Mussolinisierung der Verwaltungsformen und -verfahren – auf diesem Gebiet sind die Veränderungen letzten Endes zweitrangig – sondern vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes. (Leo Trotzki, „Was nun?“)

Als Trotzki diese Zeilen schrieb, um die deutschen Arbeiter gegen den Aufstieg Hitlers zu wappnen, stützte er sich auf die Lehren aus Italien, die er sehr genau kannte. Der Dritte und Vierte Kongress der Kommunistischen Internationale, auf denen Trotzki eine führende Rolle spielte, hatten sich intensiv mit der italienischen Frage befasst.

Terror gegen die Arbeiterklasse

Italien wurde nach dem Ersten Weltkrieg von einer Welle militanter Arbeitskämpfe, ländlicher Unruhen und Aufständen überrollt, die eine sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setzten. Mussolini, der sich im Verlauf des Kriegs vom Sozialisten zum glühenden Nationalisten und Kriegsbefürworter gewandelt hatte, organisierte bewaffnete Banden, sogenannte Fasci, um die Arbeiter einzuschüchtern. Der Terror, den sie dabei ausübten, spottet jeder Beschreibung.

Finanziert von Industriellen und Grundbesitzern und gedeckt von der Polizei, fuhren die schwerbewaffneten Faschisten zu Versammlungslokalen oder Privathäusern bekannter Arbeiterführer, wo sie brandschatzten, folterten und mordeten. Oft wurden Frauen und Kinder bedroht, um die Gesuchten zur Aufgabe zu zwingen. Schätzungen zufolge ermordeten die Faschisten allein in den Jahren 1921 und 1922 rund 3000 Sozialisten und Gewerkschafter auf diese Weise.

Anfangs konzentrierte sich der faschistische Terror auf ländliche Gebiete und Kleinstädte, wo Arbeiter und Landarbeiter gegen sklavenähnliche Zustände rebellierten. Doch Ende 1920 dehnte er sich auch auf die großen Industriestädte aus.

Besetzter Betrieb im Sommer 1920

Im Sommer dieses Jahres hatte die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht. Über 500.000 Arbeiter besetzten Fabriken und Werften, hissten rote und schwarze (anarchistische) Fahnen und warfen Besitzer und Geschäftsführer aus den Betrieben. Sie reagierten damit auf eine Aussperrung im Alfa-Romeo-Werk in Mailand. Die Arbeitermacht lag in der Luft.

Doch es existierte keine politische Führung, die bereit war, die Macht zu erobern, wie dies die Bolschewiki 1917 in Russland getan hatten. Die Führung der Sozialistischen Partei lag zwar in den Händen der Maximalisten unter Giacinto Serrati, die sich gegen den Ersten Weltkrieg gestellt und der Kommunistischen Internationale angeschlossen hatten. Doch das Bekenntnis der Maximalisten zur Arbeitermacht war rein platonisch. Sie weigerten sich, mit den Reformisten zu brechen, die damals den Arbeitsminister stellten und die Gewerkschaften dominierten, und hatten keine Strategie und Taktik zur Eroberung der Staatsmacht.

Schließlich gelang es den Gewerkschaften, den Streik mithilfe einiger leerer Zugeständnisse abzuwürgen. Die Medien jubelten: „Der Reformismus hat die Zivilisation gerettet!“, „Die Revolution ist nicht zustande gekommen, weil die CGdL (der Gewerkschaftsdachverband) sie nicht gewollt hat.“

Nun ging der Faschismus in die Offensive. Am 21. November marschierten 300 bewaffnete Faschisten zum Rathaus von Bologna, wo die sozialistische Verwaltung vereidigt wurde, und ermordeten sieben Sozialisten. In den folgenden Wochen setzten sie ihre Angriffe unter Duldung der Polizei in anderen Städten fort. Die faschistische Bewegung erhielt Zulauf. Kleine Aktionsgruppen, bewaffnet mit Knüppeln, Revolvern, Granaten und selbst Maschinengewehren fuhren durch das Land, um Sozialisten und militante Arbeiter zu jagen. Die Mitgliedschaft der faschistischen Bewegung wuchs in fünf Monaten von 20.000 auf 180.000.

„Hinter der theatralischen Fassade verbarg sich ein Kern gezielter Brutalität, um die Arbeiterbewegung zu brechen“, schildert Christoper Duggan in seiner Geschichte Italiens ihr Vorgehen. „Partei- und Gewerkschaftsgebäude wurden geplündert und die Büros linker Zeitungen verwüstet, während Schlüsselfiguren der Sozialistischen Partei wie Abgeordnete, Bürgermeister, Stadträte und Capilega gezielt eingeschüchtert, verprügelt, gefoltert und gelegentlich ermordet wurden.“

Regierungschef Giovanni Giolitti, ein bürgerlicher Liberaler, lud Mussolini ein, in einem gemeinsamen „nationalen Block“ zu den Wahlen im Frühjahr 1921 anzutreten. Die Wahlen wurden für Mussolini zum Erfolg. Die Faschisten gewannen 37 Mandate; doch die Sozialisten blieben mit 123 Sitzen stärkste Partei.

Im Januar 1921 brachen Amadeo Bordiga, Antonio Gramsci und andere Vertreter des linken Flügels mit den Sozialisten Serratis und gründeten die Kommunistische Partei. Diese war aber zu jung und unerfahren, um die Krise der proletarischen Führung sofort zu überwinden. Das Fehlen einer revolutionären Führung, die die Kämpfe der Arbeiterklasse vereinen und zur Eroberung der Macht führen konnte, ebnete schließlich Mussolini den Weg.

Der Schriftsteller Ignazio Silone, der zu den Gründern und Führern der Kommunistischen Partei gehörte, schreibt in seinem lesenswerten Buch „Der Fascismus“, das er 1934 im Schweizer Exil veröffentlichte:

Die italienische Arbeiterklasse erlag ohne Kampf. Der Marsch auf Rom verlief, ohne den geringsten Widerstand der Arbeiterschaft zu provozieren. Die Reformisten, die Maximalisten und die Kommunisten waren auf den Marsch auf Rom nicht gefasst. … Das italienische Proletariat erschien wie eine Armee, die sich vier Jahre heroisch in illusorischen Schlachten geschlagen hatte… An der Spitze der italienischen Arbeiterschaft hatten die italienischen Lenins und Trotzkis gefehlt…

Mit der Übernahme der Regierung hatte Mussolini seine Diktatur allerdings noch nicht gefestigt. Seinem Kabinett gehörten neben Faschisten auch Vertreter der katholischen Volkspartei, Demokraten, Liberale und zwei Militärs an. Selbst den rechten Flügel der Sozialistischen Partei lud er zur Mitarbeit ein, und einer seiner Führer, Gino Baldesi, sagte zu, musste dann allerdings einen Rückzieher machen. Mussolini benötigte weitere drei Jahre, um seine uneingeschränkte Autorität als „Duce“ zu etablieren.

Lehren für heute

Die heutige Lage in Italien unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von jener vor hundert Jahren.

Mussolini gelangte nach einem Aufstand der Arbeiterklasse an die Macht, der von den Sozialisten und den Gewerkschaften desorientiert, gelähmt und verraten worden war. Er konnte sich auf eine Massenbewegung ehemaliger Soldaten und erbitterter Kleinbürger stützen, die sich nach der Niederlage der Streikbewegung von 1920 rabiat nach rechts wandten.

Meloni hat die Regierung vor dem Ausbruch offener Klassenschlachten übernommen, die sich als Folge von Inflation, Pandemie, Ukrainekrieg und Wirtschaftskrise in raschem Tempo entwickeln. Sie hat keine faschistische Massenbewegung im Rücken, sondern verdankt ihren Aufstieg den sogenannten „linken“ Parteien und den Gewerkschaften, die in den vergangenen drei Jahrzehnten die Hauptverantwortung für die sozialen Angriffe trugen und den Klassenkampf systematisch unterdrückten. Das politische Vakuum, das sie hinterließen, hat die Fratelli d’Italia zur stärksten Partei werden lassen.

Das macht sie aber nicht weniger gefährlich. Die herrschende Klasse setzt – nicht nur in Italien – neben den bürokratischen Apparaten der Gewerkschaften, der Sozialdemokaten, der ehemaligen Stalinisten und ihrer Verbündeten immer mehr auf autoritäre Herrschaftsformen, um den Klassenkampf zu unterdrücken. Deshalb haben die führenden Politiker der Europäischen Union Meloni mit offenen Armen empfangen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte: „Ich bin bereit und glücklich, auf konstruktive Weise mit der neuen italienischen Regierung zusammenzuarbeiten.“ Frankreichs Präsident Emmanuel Macron traf sich am ersten Amtstag mit Meloni in Rom, die das Treffen hinterher als „herzlich und nützlich“ bezeichnete.  Bundeskanzler Olaf Scholz telefonierte mit Meloni, um den Ukrainekrieg zu diskutieren und das „Interesse an guter Zusammenarbeit und Partnerschaft in der EU, Nato und G7“ zu bekunden.

Auch in anderen Ländern fördert die herrschende Klasse rechtsextreme Parteien, integriert sie in Staat und Regierung und übernimmt ihre rechte Politik. Das gilt für Vox in Spanien (zu der Meloni enge Beziehungen unterhält) ebenso wie für die AfD in Deutschland, das Rassemblement National in Frankreich und die Schwedendemokraten in Schweden – um nur einige zu nennen. In den USA verwandeln sich die Republikaner unter Donald Trump in eine offen faschistische Partei, ohne den geringsten Widerstand von Seiten der Demokraten.

Wer behauptet, die faschistische Gefahr, könne durch die Unterstützung oder ein Bündnis mit angeblich demokratischen Parteien gestoppt werden, wie dies zahlreiche pseudolinke Gruppen tun, führt die Arbeiterklasse gezielt in die Irre. Diese Parteien haben das Programm der Faschisten in der Migrationspolitik, der inneren und äußeren Aufrüstung und anderen Bereichen längst übernommen. Sie werden keinen Moment zögern, mit den Faschisten gemeinsame Front gegen die Arbeiterklasse zu machen, wie es ihre politischen Vorfahren 1922 in Italien taten, als sie sich Mussolinis erster Regierung anschlossen, und 1933 in Deutschland, als sie für Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmten und ihm diktatorische Vollmachten erteilten.

Die Herrschaft Mussolinis bleibt eine vernichtende und unvergessliche Lektion über den verheerenden Preis, den die Arbeiterklasse zahlen muss, wenn sie daran gehindert wird, in einer revolutionären Situation die Macht zu erkämpfen. Heute wie 1922 besteht die entscheidende politische Aufgabe darin, den Griff der konterrevolutionären nationalistischen Bürokratien über den Klassenkampf zu brechen. Das bedeutet, Parteien aufzubauen, die es verstehen, den wachsenden Widerstand der internationalen Arbeiterklasse gegen Sozialabbau, Krieg und Faschismus in einem unversöhnlichen Kampf gegen den Kapitalismus zu vereinen – Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Italien und auf der ganzen Welt.

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