Giorgia Meloni, die Vorsitzende der faschistischen Fratelli d’Italia, ist neue italienische Regierungschefin. Staatspräsident Sergio Matarella vereidigte Meloni und ihre 24-köpfige Regierung am Samstagmorgen. Am Sonntag übergab ihr der bisherige Ministerpräsident Mario Draghi die Amtsgeschäfte. Die Bestätigung im Parlament, die Anfang der Woche geplant ist, gilt als Formsache.
Es ist zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass in einem großen europäischen Land eine Partei mit faschistischen Wurzeln die Regierung führt. Solche Parteien waren zwar schon an Regierungen beteiligt, wie ab 1994 die Vorgängerin der Fratelli in Italien, doch sie stellten nie den Regierungschef. Eine vergleichbar rechte Regierung gibt es bisher nur in Ungarn, wo sich Viktor Orbán rühmt, eine „illiberale Demokratie“ errichtet zu haben.
Orbán zählte dann auch zu den Ersten, die Meloni gratulierten. „Heute ist ein großer Tag für die europäische Rechte,“ twitterte er. Auch Marine Le Pen, Vorsitzende des rechtsextremen französischen Rassemblement National, übersandte Glückwünsche. „Überall in Europa kommen Patrioten an die Macht und mit ihnen das Europa der Nationen, auf das wir hoffen,“ schrieb sie.
Der Umstand, dass Melonis Regierungsübernahme fast genau auf den hundertsten Jahrestag der Machtergreifung Benito Mussolinis am 30. Oktober 1922 fällt, der in den folgenden 22 Jahren eine brutale Diktatur gegen die Arbeiterklasse ausübte, gibt ihr zusätzliche Brisanz.
Die mittlerweile 45-jährige Meloni hatte sich im Alter von 15 Jahren dem Movimento Sociale Italiano (MSI) angeschlossen, das seit Kriegende die Tradition und das Andenken Mussolinis hochhielt und in die rechtsextremen Terroranschläge der 1960er und 70er Jahre verwickelt war. Nachdem sich das MSI 1994 in Alleanza Nazionale umbenannt und schließlich in Silvio Berlusconis Forza Italia aufgelöst hatte, gründeten Meloni und andere 2012 die Fratelli d’Italia, um die Kontinuität des MSI fortzusetzen.
Weil sie sich als einzige im Parlament vertretene Partei nicht an der Allparteienregierung Mario Draghis beteiligten, wurden die Fratelli, die 2018 nur 4,3 Prozent der Stimmen erhalten hatten, bei der Wahl im September mit 26 Prozent stärkste Partei.
Meloni gibt sich inzwischen als pragmatische konservative Politikerin und erklärt den Faschismus, von dem sie sich nie distanziert hat, zu einer historischen Frage. Doch das ist reine Taktik. Das zeigen nicht nur die engen Verbindungen ihrer Partei zu Neonazi-Organisationen wie CasaPound, gewalttätigen Fußball-Hooligans, Mussolini-Verehrern, rechten Netzwerken im Staatsapparat und internationalen rechtsextremen Parteien, wie zur spanischen Vox und zum Trump-Flügel der US-Republikaner, sondern auch die Besetzung von Spitzenämtern in Staat und Regierung.
Bereits letzte Woche wählten die Fratelli und ihre Bündnispartner, die rechtsextreme Lega und Berlusconis Forza Italia, den langjährigen Neofaschisten Ignazio La Russa ins zweithöchste Staatsamt, zum Vorsitzenden des Senats.
Der 1947 geborene Politiker, der mit zweitem Vornamen Benito heißt, war jahrzehntelang im MSI aktiv und gehörte mit Meloni zu den Gründern der Fratelli. Seine Privatwohnung ist mit Büsten, Orden und Fotos von Mussolini dekoriert, die er in einem Video stolz präsentierte. Noch wenige Tage vor der Wahl im September hatte er erklärt: „Wir sind alle Erben des Duce.“ Von 2008 bis 2011 war La Russa italienischer Verteidigungsminister. Er soll Regierungschef Berlusconi davon überzeugt haben, sich am Krieg gegen Libyen – eine frühere italienische Kolonie – zu beteiligen.
Auch an die Spitze der zweiten Parlamentskammer, des Abgeordnetenhauses, wurde mit Lorenzo Fontana ein Rechtsextremer gewählt. Der 42-jährige Lega-Abgeordnete ist Mitglied einer erzkatholischen Sekte und Anhänger der faschistischen Theorie des „Bevölkerungsaustauschs“, laut der eine Verschwörung versucht, die europäische Mehrheitsbevölkerung durch eingewanderte Muslime zu ersetzen. Gleichgeschlechtliche Ehen bezeichnet er als „Schweinerei, die wir noch nicht einmal mit Namen hören wollen“.
Anders als etwa in Deutschland, gibt es in Italien keinen schriftlichen Koalitionsvertrag. Aber die Zusammensetzung der neuen Regierung, in der die Fratelli neun, Lega und Forza Italia je fünf und parteilose Experten weitere fünf Posten bekleiden, macht ihre politische Ausrichtung deutlich.
Meloni ließ sich bei der Auswahl der Minister von zwei Kriterien leiten. Zum einen versuchte sie, die Finanzmärkte zu beruhigen und zu verhindern, dass diese – wie im Falle von Liz Truss in Großbritannien – den Daumen über ihrer Regierung senken.
Ein Ausscheren Italiens aus der Kriegsallianz gegen Russland und der Europäischen Union würden die Finanzmärkte angesichts der hohen Verschuldung des Landes und der 200 Milliarden Euro, die ihm aus dem sogenannten EU-Wiederaufbaufonds zustehen, kaum hinnehmen. Der Anstieg der Renditen italienischer Staatsanleihen hatte bereits 2010 maßgeblich zur Eurokrise beigetragen.
Außen- und wirtschaftspolitisch relevante Ressorts wurden daher mit Ministern besetzt, die über gute internationale Beziehungen verfügen.
Antonio Tajani (Forza Italia), ein enger Gefolgsmann Berlusconis, ist neuer Außenminister. Tajani verbrachte nahezu seine gesamte politische Karriere in Brüssel. Er war Vorsitzender des Europaparlaments und der Europäischen Volkspartei und verfügt über beste Verbindungen in andere europäische Hauptstädte.
Das Wirtschafts- und Finanzressort ging an Giancarlo Giorgetti (Lega), einen Freund und Denkverwandter des bisherigen Regierungschefs und früheren EZB-Bankers Mario Draghi. Giorgetti soll dafür sorgen, dass die Staatsausgaben weiter gesenkt werden, und Draghis Politik des Sozialabbaus weiterführen.
Das Verteidigungsministerium übernimmt Guido Crosetto (Fratelli d’Italia), ein Rüstungslobbyist und Manager eines Rüstungsunternehmens, der das Vertrauen der Militärs besitzt. Er soll der Nato garantieren, dass Italien weiterhin fest hinter dem Kriegskurs gegen Russland steht – eine Haltung, die innerhalb von Forza Italia und der Lega umstritten ist.
Auch innenpolitisch hat Meloni klare Signale an ihre faschistische Gefolgschaft gesetzt, berüchtigte Rechte zu Ministern ernannt und sogar einige Ministerien umbenannt, um ihren nationalistischen Kurs zu unterstreichen.
So nennt sich das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung nun „Ministerium der Unternehmen und des Made in Italy“, das Landwirtschaftsministerium ist auch für die „Souveränität über Lebensmittel“ (die Bevorzugung italienischer Produkte) und das Familienministerium für „Natalität“, für Geburtenförderung zuständig.
Familienministerin Eugenia Roccella (Fratelli d’Italia) wird den „Theocons“ zugerechnet, den Verfechtern einer ultrakonservativen Familienpolitik. Sie agitiert gegen Abtreibung, gegen homosexuelle Partnerschaften, gegen künstlich Befruchtung und gegen Patientenverfügungen.
Das Innenministerium wird die rabiate Anti-Migrationspolitik fortsetzen, für die Lega-Chef Matteo Salvini, der das Ressort von 2018 bis 2019 leitete, berüchtigt ist. Meloni verhinderte zwar, dass Salvini, der als ihr schärfster Konkurrent und politischer Rivale gilt, sich erneut als Innenminister profilieren kann, und speiste ihn mit dem Infrastrukturministerium ab. Sie begründet dies damit, dass gegen Salvini noch ein Prozess wegen Amtsmissbrauchs laufe, weil er illegal Flüchtlingsschiffe blockiert hatte. Er könnte ihm eine Haftstrafe bis zu 15 Jahren einbringen. An seiner Stelle wurde sein früherer Kabinettschef Matteo Piantedosi (parteilos) Innenminister.
Andere Posten besetzte Meloni mit loyalen Gefolgsleuten. So ist ihr Schwager Francesco Lollobrigida, ein Großneffe der bekannten Schauspielerin, in der Regierung für die Landwirtschaft zuständig. Seine Frau, Melonis Schwester Arianna, rückt an die Spitze der Partei vor.
Die Regierungsübernahme durch eine Faschistin im drittgrößten Land der EU stieß in Europa auf Gelassenheit und offene Zustimmung.
„Ich bin bereit und glücklich, auf konstruktive Weise mit der neuen italienischen Regierung zusammenzuarbeiten und Antworten auf die Herausforderungen zu finden, die uns bevorstehen“, twitterte Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, die Meloni als „erster Frau in dieser Funktion“ gratulierte.
Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb ebenfalls auf Twitter: „Ich freue mich darauf, weiterhin eng mit Italien in der EU, der Nato und G7 zusammenzuarbeiten.“ Petr Fiala, der Ministerpräsident der Tschechischen Republik, die derzeit die EU-Präsidentschaft innehat, erklärte: „Ich kenne ihre Position zur europäischen Integration und ich glaube, dass eine gute Zusammenarbeit möglich ist.“
Präsident Emmanuel Macron wird die neue Regierungschefin als erster ausländischer Politiker treffen. Macron, der sich im Alter von zwölf Jahren katholisch taufen ließ, reiste am Sonntag zu einem katholischen Treffen nach Rom, wo er neben Meloni auch den Papst trifft.
Der Aufstieg Melonis und die Resonanz, auf die er in Europa trifft, ist Bestandteil eines weltweiten Rechtsrucks der herrschenden Eliten. Sie reagieren auf den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse gegen Sozialabbau, Krieg und Pandemie mit zwei Methoden. Zum einen versuchen sie, ihn mithilfe der korporatistischen Gewerkschaften zu sabotieren und zu lähmen. Zum andern stärken sie ultrarechte Parteien – wie die spanische Vox, die deutsche AfD oder das französische RN – sowie den Staatsapparat, um die Opposition einzuschüchtern und zu unterdrücken.
Meloni kann sich, anders als vor hundert Jahren Mussolini, nicht auf eine faschistische Massenbewegung von Schwarzhemden stützen. Sie verdankt ihren Wahlerfolg dem Vakuum, das der Bankrott der sogenannten Mittelinks-Parteien und ihrer pseudolinken Anhängsel hinterlassen hat. Diese haben in den vergangenen drei Jahrzehnten die führende Rolle beim Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse gespielt, die imperialistischen Kriege der Nato unterstützt und eine Pandemiepolitik mitgetragen, die 180.000 Menschen das Leben gekostet hat.
Dagegen entwickelt sich heftiger Widerstand. Die Zahl von Streiks und Protesten nimmt spürbar zu. Doch Militanz allein reicht nicht aus, um die Gefahr von Faschismus und Krieg zu besiegen. Die Arbeiterklasse braucht eine unabhängige politische Führung und Perspektive. Sie muss den Kampf zur Verteidigung ihrer sozialen Errungenschaften mit einer internationalen sozialstischen Perspektive gegen Krieg und Kapitalismus verbinden. Das erfordert den Aufbau einer italienischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.