Der bekannten britischen Dramatikerin Caryl Churchill wurde der Preis für das Lebenswerk zugesprochen – und wieder aberkannt, weil sie sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Die Entscheidung ist eine schändliche Verleumdung und ein Akt der Zensur. Seit mehr als zehn Jahren wird Churchill im Rahmen einer breiten rechten Kampagne verunglimpft, die Antizionismus und jegliche Kritik am Staat Israel als antisemitisch hinstellt.
Die 84-jährige Churchill ist mit Stücken wie „Serious Money“ (über den Boom des Finanzkapitals unter Thatcher) und „A Light Shining in Buckinghamshire“ bekannt geworden (das letztere Stück basiert auf den Putney-Debatten im ersten englischen Bürgerkrieg, 1647). Eine führende Figur des britischen Theaters, kritisiert Churchill seit langem die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel. Sie ist auch eine prominente Unterstützerin der Bewegung „Boykott-, Desinvestitionen- und Sanktionen“ (BDS), die sich für Palästinenserrechte einsetzt.
Mehr als 170 Schauspieler, Anwälte, Schriftsteller und Produzenten haben einen eindringlichen Offenen Brief der Artists for Palestine unterzeichnet, der den Angriff auf Churchill zurückweist und sich gegen einen „modernen McCarthyismus“ ausspricht. Zu den Unterzeichnern gehören Breyten Breytenbach, Stephen Daldry, Brian Eno, Stephen Frears, Mike Leigh, Ken Loach, Miriam Margolyes, Maxine Peake, Miranda Richardson, Kae Tempest, Harriet Walter und viele mehr.
Der Menschenrechtsanwalt Sir Geoffrey Bindman KC erklärte, dass die Aberkennung des Preises für Churchill „aufgrund ihrer Unterstützung für BDS eindeutig gegen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verstößt, das durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist“.
Der Mut der Unterzeichner ist bemerkenswert, denn die bösartige Kampagne wird sich unweigerlich auch gegen sie richten.
Der Preis ist der mit 75.000 Euro dotierte „Europäische Dramatiker:innen Preis“, der vom Schauspiel Stuttgart verliehen und vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert wird. Die Jury hat Anfang November ihre Entscheidung vom April revidiert und den Preis für Churchills Lebenswerk mit der Begründung zurückgezogen, es seien „Informationen bekannt geworden, die der Jury bisher nicht vorlagen“.
Die Entscheidung des Schauspiels Stuttgart stellt einen explizit politischen Angriff dar. In der Erklärung heißt es: „In der Zwischenzeit haben wir Kenntnis von BDS-Unterschriften der Autorin bekommen.“
Churchill steht zu ihrer „Unterstützung für BDS und die Palästinenser“. Mit einer Aufführung ihres Stücks „Far Away“ im Jahr 2001 sammelte sie Geld für palästinensische Theater. Sie ist Schirmherrin der Palästina-Solidaritätskampagne, die sich in jenem Jahr zur BDS-Politik bekannte. Die Behauptung, dies alles seien „bisher unbekannte Informationen“, ist eine fadenscheinige Lüge.
In dem Offenen Brief zu Churchills Verteidigung wird darauf hingewiesen, dass die Ziele der BDS-Bewegung – „Beendigung der Besatzung, die volle Gleichberechtigung der palästinensischen Bürger Israels und das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge – dem Völkerrecht entsprechen“. Zionisten, die über jede Kritik am Staat Israel empört sind, beschimpfen BDS routinemäßig als antisemitisch.
Mike Leigh schrieb: „Ich stehe an der Seite von Caryl Churchill in ihrer völlig berechtigten Unterstützung des Kampfs des palästinensischen Volks gegen das israelische Apartheidregime. Dass das Schauspiel Stuttgart seine prestigeträchtige Auszeichnung zurückzieht, ist unverantwortlich, illiberal und ignorant; die Entscheidung riecht nach eben dem Faschismus, den sie zu bekämpfen vorgibt.“
Intendant Dominic Cooke sagte: „Es ist nicht antisemitisch, wenn man auf die Menschenrechtsverletzungen Israels und die illegale Besetzung palästinensischer Gebiete aufmerksam macht. Das ist ein legitimer Protest. Wir müssen das Recht der Künstler verteidigen, sich dazu und zu jedem anderen Machtmissbrauch in der Welt zu äußern, ohne dass sie diffamierenden Beschimpfungen und üblen Verleumdungen ausgesetzt sind.“
Das Schauspiel wiederholte die Angriffe auf Churchills 2009 entstandenes Stück „Seven Jewish Children“. Es ist ein Stück von 10 Minuten, bei dem Cooke Regie geführt hatte, und das als Reaktion auf die israelische „Operation Gegossenes Blei“ von 2008 entstanden war. Bei der Bombardierung des Gazastreifens wurden damals nach Angaben von Amnesty International mindestens 1.383 Palästinenser getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Unter den Getöteten waren auch 333 Kinder. Nur 13 Israelis wurden bei diesem einseitigen Gemetzel getötet, darunter drei Zivilisten. Eine Untersuchung der Vereinten Nationen kam zum Schluss, dass die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) lehnte einen Antrag der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ab, in diesem Zusammenhang gegen Israel zu ermitteln. Er erklärte, er könne dem Antrag nicht stattgeben, da die Palästinensische Autonomiebehörde nur ein „Beobachter“ der UNO und kein Staat sei.
Churchill versuchte in ihrem Stück, einen ideologischen Bogen von den Schrecken des Holocaust zur Unterdrückung der Palästinenser zu spannen. Wütende Zionisten, die Israels Kriegsverbrechen verteidigen, greifen Churchill an, weil sie sich auf „jüdische“ und nicht auf „israelische“ oder „zionistische“ Kinder bezogen habe. Eine Tendenz, die routinemäßig behauptet, für alle Juden zu sprechen, stützt ihre ganzen Anschuldigungen auf diese absurde Prämisse. Dabei beginnt die Erzählung, die sich mit dem Holocaust befasst, zu einer Zeit, als Israel noch gar nicht gegründet war.
Der Jewish Chronicle bezeichnete Churchills „humanitäre Reaktion auf den grausamen Tod der Palästinenser in Gaza“ (wie das Blatt zugab) als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und als „unmenschlich“ – nicht jedoch den Tod von 333 Kindern.
Cooke sagte richtig: „Die erfundene Empörung ... diente dazu, mögliche Kritiker ... zum Schweigen zu bringen.“
Eine breite Schicht des liberalen Establishments befindet sich heute voll und ganz im Lager dieser zionistischen Verleumdung der Antizionisten. So behauptet das Schauspiel Stuttgart, das Stück „Seven Jewish Children“ könne „antisemitisch wirken“.
Churchill hat dies zurückgewiesen. Sie sagte, ihr Stück „kritisiert Israels Behandlung der Palästinenser; es ist kein Angriff auf alle Juden, von denen viele die israelische Politik ebenfalls kritisieren. Es ist falsch, Israel mit allen Juden in einen Topf zu werfen. Ein politisches Theaterstück hat sich politische Feinde gemacht, und diese greifen es mit dem Vorwurf des Antisemitismus an.“
Im Jahr 2016 hat das Plenum der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) trotz juristischer und menschenrechtlicher Bedenken eine „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ angenommen, die es implizit rechtfertigt, die Kritik an Israels Apartheid-Politik als antisemitisch zu bezeichnen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass der Zionismus die legitime und unanfechtbare Stimme des jüdischen Volkes sei, und dass Kritik am Zionismus daher antijüdisch sei.
Sieben der dort angeführten elf Beispiele für Antisemitismus beziehen sich auf Israel, darunter:
- Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen
- Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird
- Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten
In der Definition heißt es: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“
Im Jahr 2018 sagte Menschenrechtsanwalt Bindman: „Die Definition und die Beispiele sind schlecht formuliert und irreführend. In der Praxis haben sie zur Unterdrückung legitimer Debatten und der Meinungsfreiheit geführt.“ Ein weiterer Menschenrechtsanwalt, Geoffrey Robertson, erklärte, mehrere Beispiele seien so ungenau formuliert, dass sie sich wahrscheinlich auf legitime Kritik an der israelischen Regierung und an Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern auswirken würden.
Trotzdem wurde die Definition der IHRA weithin übernommen und als Waffe gegen die Linke eingesetzt, um Akademiker und Studierende von den Universitäten zu vertreiben. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der Absetzung von Jeremy Corbyn als Führer der Labour Party, sowie auch beim Ausschluss zahlreicher Labour-Mitglieder, die der Partei zuvor aufgrund ihrer linken Rhetorik beigetreten waren, um sich gegen den rechten Blair-Flügel zu stellen.
Der offene Brief stellt die „empörende Kehrtwende“ des Schauspiels Stuttgart in den Kontext dieser laufenden „Kampagne, die auf Künstler abzielt, die Israels koloniale Gewalt kritisieren“. Er wirft „dringende Fragen“ auf, die auf ein „Muster der Einschüchterung und des Schweigens in Deutschland und darüber hinaus“ hinweisen.
Der Brief bezieht sich auf eine Resolution des Bundestags aus dem Jahr 2019, in der BDS als „antisemitisch“ bezeichnet wurde. Viele internationale Antisemitismus-Experten haben sie kritisiert.
Die Kunstministerin der baden-württembergischen grün-schwarzen Landesregierung, Petra Olschowski (Die Grünen), hat die Absage mit der „besonderen historischen Verantwortung Deutschlands“ verteidigt. Sie sagte: „Deshalb positionieren wir uns als Land klar gegen jegliche Form von Antisemitismus.“
Zu diesem moralischen Getue greifen die Grünen regelmäßig, wenn es darum geht, ihre Unterstützung für die räuberischen Militärambitionen des deutschen Imperialismus zu rechtfertigen. So auch in der Ukraine, wo die Nato-Mächte ein direktes Bündnis mit Faschisten und echten Antisemiten eingegangen sind. Dagegen ist die reale Bedrohung durch Antisemitismus von rechts den deutschen Grünen gleichgültig, während sie sich an jeder Verleumdung derjenigen beteiligen, die linke Ansichten vertreten.
Der Offene Brief setzt sich für die engagierte Kunst ein, wegen der Caryl Churchill angegriffen wird. Es heißt dort: „Wenn ausschließlich diejenigen Kunstformen als ‚sicher‘ für die Institutionen gelten, die den Enteigneten und Unterdrückten dieser Erde nichts zu sagen haben, und die über staatlich sanktionierte Unterdrückung schweigen – dann werden Kunst und Kultur ihrer Bedeutung und ihres Wertes beraubt.“
Der Herausgeber des Jewish Chronicle, Stephen Pollard, hat die Aberkennung des Preises als einen „Grund zum Feiern“ bezeichnet. Churchills Stück ist für ihn ein „Erguss von Judenhass“.
Dieselbe Zeitung hat im Jahr 2009 argumentiert: „Man kann ein Stück, das eine Gemeinschaft kritisiert und vollständig von Figuren aus dieser Gemeinschaft handelt, nur verteidigen, wenn es von einem Mitglied dieser Gemeinschaft selbst stammt.“
Ein Beispiel dafür, was dies wirklich bedeutet, lieferte Israel Horovitz‘ „What Strong Fences Make“, ein Stück, das ausdrücklich gegen Churchill geschrieben wurde. Horovitz schildert darin einen jungen israelischen Soldaten, der an einem Kontrollpunkt der israelischen Verteidigungskräfte IDF einen potenziellen Selbstmordattentäter daran hindert, sich in den besetzten Gebieten in die Luft zu sprengen. Das Motiv des Selbstmordattentäters ist Rache für einen palästinensischen Terroranschlag, bei dem Mitglieder seiner Familie ums Leben kamen.
Um jede linke Reaktion anzugreifen, werden die Mörder als Helden dargestellt. Horovitz‘ IDF-Soldat erscheint als angeblicher Ausbund von Demokratie angesichts der von palästinensischen Terroristen begangenen Gräueltaten. Das Stück warnt lediglich davor, dass fanatische Zionisten dazu getrieben werden könnten, die verzweifelten Methoden der Palästinenser zu kopieren. Aber das brauchen sie gar nicht: Die IDF und der israelische Staat führen die mörderischen Angriffe für sie durch.
Das ist die Konsequenz der falschen Angriffe auf den „linken Antisemitismus“: Stärkung der politischen und künstlerischen Reaktion auf ganzer Linie, während die staatlichen Verbrechen gegen ein unterdrücktes Volk verteidigt werden. Anstatt den Antisemitismus zu bekämpfen, heizen diese Verbrechen ihn weiter an.
Der Text von Churchills „Seven Jewish Children“ kann hier nachgelesen werden:
http://image.guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2009/02/26/churchill.pdf
Eine Aufführung ist hier zu sehen:
https://www.theguardian.com/stage/video/2009/apr/25/seven-jewish-children-caryl-churchill