Die Ideologen der herrschenden Klassen werfen Marxisten seit jeher Übertreibung oder „Katastrophitis“ vor, weil sie aufzeigen, dass die Widersprüche des Kapitalismus die Zukunft der Menschheit bedrohen.
Die Vertreter solcher Anschuldigungen, die in den Medien und in akademischen Kreisen gern nachgeplappert werden, täten gut daran, den „Global Risks Report 2023“ bzw. Weltrisikobericht zu studieren, der für das jährliche Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) diese Woche in Davos erstellt wurde.
Der Bericht zeichnet ein verheerendes Bild eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das auf eine Katastrophe zusteuert und sich der Kontrolle der herrschenden Eliten – für die das WEF spricht – entzieht.
Die Zusammenfassung des Berichts beginnt mit der Feststellung, dass die ersten Jahre dieses Jahrzehnts „eine außerordentlich disruptive Phase in der Geschichte der Menschheit eingeläutet haben“.
Dann folgt ein Absatz, der es wert ist, vollständig zitiert zu werden:
Zu Beginn des Jahres 2023 ist die Welt von einem Gemenge an Risiken bedroht, die sich sowohl völlig neu als auch gefährlich bekannt anfühlen. Wir erleben die Rückkehr der „alten Risiken“ – Inflation, steigende Lebenshaltungskosten, Handelskriege, Kapitalabfluss aus den Schwellenländern, allenthalben soziale Unruhen, geopolitische Zusammenstöße und das Schreckgespenst eines Atomkriegs –, die nur wenige Wirtschaftsführer und Politiker der heutigen Generation am eigenen Leib erlebt haben. Verstärkt werden sie durch vergleichsweise neue Entwicklungen in der globalen Risikolandschaft, darunter eine untragbare Verschuldung, eine neue Ära niedrigen Wachstums, geringe globale Investitionen und Deglobalisierung, ein Rückgang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangen Fortschritten, eine rasche und ungebremste Entwicklung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) sowie der wachsende Druck durch die Auswirkungen des Klimawandels und die Bemühungen, in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster den Übergang zu einer 1,5 °C-Welt zu schaffen. Zusammengenommen werden diese Faktoren dem vor uns liegenden Jahrzehnt einen besonderen, ungewissen und turbulenten Charakter verleihen.
Die marxistische Analyse der gegenwärtigen Situation wird in der Neujahrserklärung der World Socialist Web Site vorgestellt (2023: Die globale kapitalistische Krise und die wachsende Offensive der internationalen Arbeiterklasse), in der es heißt: „Im Jahr 2022 erreichte der angestaute Druck der verschiedenen Faktoren der kapitalistischen Weltkrise gewissermaßen eine kritische Masse und verleiht der Krise nun eine Dynamik, die es den Regierungen unmöglich macht, die Entstehung eines sozialen Kataklysmus zu verhindern.“
Der Inhalt des WEF-Berichts bestätigt auf seine Weise die Richtigkeit dieser Analyse – was der Grund dafür sein dürfte, dass er in den so genannten Mainstream-Medien kaum Beachtung gefunden hat.
Der Bericht listet eine Reihe sich verschärfender Krisen auf: die ständige Verschlechterung der wirtschaftlichen Aussichten, die Verschärfung geopolitischer Konflikte und Spannungen (die sich nicht auf die Ukraine beschränken, sondern weit darüber hinausgehen) die rasche Verschlechterung des Gesundheitswesens und der Gesundheitsversorgung sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf das Wetter und den Rückgang der biologischen Vielfalt.
Eine der wichtigsten Veränderungen im Jahr 2022 war das Ende der ultraniedrigen Zinssätze, die als Reaktion auf die globale Finanzkrise im Jahr 2008 eingeführt und nach der Finanzkrise im März 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, verlängert worden waren.
Die Straffung der Geldpolitik, mit der die Fed und andere große Zentralbanken nun Lohnerhöhungen der Arbeiterklasse entgegentreten, treibt die Weltwirtschaft in eine Rezession.
Im WEF-Bericht wird dazu festgestellt:
Selbst wenn einige Volkswirtschaften eine sanftere Landung als erwartet erleben, wird das Ende der Niedrigzinsphase erhebliche Auswirkungen für Staaten, Unternehmen und private Haushalte haben. Die Auswirkungen werden die schwächsten Teile der Gesellschaft und die bereits fragilen Staaten am stärksten treffen und zu wachsender Armut, Hunger, gewaltsamen Protesten und politischer Instabilität bis hin zum Zusammenbruch von Staaten führen … Die Regierungen werden weiterhin vor der heiklen Aufgabe stehen, die breite Masse ihrer Bürger vor einer langwierigen Krise der Lebenshaltungskosten zu schützen, ohne dass sich die Inflation verfestigt, und gleichzeitig den Schuldendienst zu bestreiten, obwohl die Einnahmen durch den wirtschaftlichen Abschwung, den immer dringlicheren Übergang zu neuen Energiesystemen und ein weniger stabiles geopolitisches Umfeld unter Druck geraten.
In dem Bericht wird davor gewarnt, dass soziale Unruhen und politische Instabilität nicht auf die Schwellenländer beschränkt bleiben werden, weil auch die mittleren Einkommensschichten wirtschaftlich unter Druck geraten:
Die zunehmende Frustration der Bürger über geringere Entfaltungsmöglichkeiten und die abnehmende soziale Mobilität sowie die wachsende Kluft in Bezug auf Werte und Gleichberechtigung stellen die politischen Systeme rund um die Welt vor existenzielle Herausforderungen.
Die weltweit nachlassende Konjunktur und das Abgleiten großer Teile der Welt in eine Rezession werden die geopolitischen Spannungen und Konflikte verstärken:
Wirtschaftskriege werden zur Norm, denn in den nächsten zwei Jahren werden die Zusammenstöße zwischen globalen Mächten und die staatlichen Eingriffe in die Märkte zunehmen.
Die Wirtschaftspolitik wird nicht nur defensiv, sondern „zunehmend offensiv eingesetzt, um den Aufstieg anderer zu begrenzen“.
Des Weiteren wird auf den Anstieg der Militärausgaben im Verhältnis zum BIP in den USA und in anderen Ländern verwiesen sowie auf die Entscheidung Japans, seine Militärausgaben zu verdoppeln:
Umfangreiche Verteidigungsausgaben, insbesondere für Forschung und Entwicklung, könnten die Unsicherheit verstärken und einen Wettlauf zwischen globalen und regionalen Mächten um immer modernere Waffen hervorrufen.
Dies wird mit dem Entstehen von Blöcken einhergehen, in denen sich Länder in den Bereichen Sicherheit, Handel, Innovation und Investitionen zusammenschließen.
Der Bericht schweigt sich zwar darüber aus, aber diese Einschätzung widerspricht den früheren Verlautbarungen des Weltwirtschaftsforums, wonach die Globalisierung von Produktion und Finanzen durch das Wirken des „freien Marktes“ zu Frieden und Wohlstand führen würde.
Bei dieser Analyse aus den Jahren nach der Auflösung der UdSSR wurde der zentrale Umstand übergangen, der nur von der trotzkistischen Bewegung, dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale, hervorgehoben wurde: dass der Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, in dem der Kapitalismus verwurzelt ist, eine solche organische, friedliche Entwicklung unmöglich macht.
Der Bericht zum Weltwirtschaftsforum enthält wenig zum Ausmaß der Pandemie und geht entgegen den Tatsachen davon aus, dass Corona der Vergangenheit angehört. Er weist jedoch auf die Krise im Gesundheitswesen und die Gefahr weiterer Pandemien hin. Dabei seien die Gesundheitssysteme bereits jetzt einem „zunehmenden finanziellen Druck“ ausgesetzt:
Während Covid-19 aus den Schlagzeilen verschwindet, greift hinsichtlich der Vorbereitung auf künftige Pandemien und andere globale Gesundheitsbedrohungen offenbar Selbstzufriedenheit um sich. Die Gesundheitssysteme sind mit ausgebrannten Beschäftigten und anhaltendem Personalmangel konfrontiert, und das in einer Zeit, in der die Haushaltskonsolidierung die Aufmerksamkeit und die Ressourcen auf andere Bereiche zu lenken droht. Wenn sich in den nächsten zehn Jahren vor dem Hintergrund chronischer Krankheiten breite Ausbrüche von Infektionskrankheiten mehren, könnten die erschöpften Gesundheitssysteme weltweit an den Rand des Zusammenbruchs geraten.
Die Gesundheitsprobleme werden auch aufgrund der Folgen des Klimawandels und des Zerfalls der Ökosysteme weiter zunehmen, die zu einem vermehrten Auftreten von Zoonosen führen – Krankheiten, die, wie Sars und Covid, von Tieren auf den Menschen übergreifen.
Ein objektives Maß für den menschlichen Fortschritt ist der Anstieg der Lebenserwartung. Nun hat sie zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zu sinken begonnen. In dem Bericht heißt es: „Die Menschen verbringen mehr Jahre in einem schlechten Gesundheitszustand, und bald könnte der Anstieg der Lebenserwartung in einem Maße umschlagen, das über die Folgen der Pandemie hinausgeht.“
Zur Frage des Klimawandels wird festgestellt, dass die Aussicht, die globale Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten, in weite Ferne rückt und dass Klima- und Umweltfragen eine zentrale Quelle von Risiken in den nächsten zehn Jahren darstellen, gleichzeitig aber auch „die Risiken sind, auf die wir am wenigsten vorbereitet sind“.
Weiter heißt es:
Der Mangel an tiefgreifenden, konzertierten Fortschritten bei den Klimazielen hat deutlich gemacht, dass zwischen dem, was im Interesse von Netto-Null wissenschaftlich notwendig ist, und dem, was politisch machbar ist, ein tiefer Abgrund klafft.
Das Gleiche gilt für die Frage der Covid-19-Eliminierung, die das Weltwirtschaftsforum jedoch zu umgehen versucht. Der Bericht bietet nicht einmal ansatzweise eine Erklärung für die von den Regierungen in aller Welt betriebene Politik der Masseninfektion, denn das würde bedeuten, das „Allerheiligste“ anzutasten – die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, auf denen die Weltwirtschaft beruht und die keine Anwendung der Wissenschaft zulassen, sobald sie mit den Interessen des privaten Profits kollidiert.
Zusammenfassend stellt der Bericht fest, dass gegenwärtige und zukünftige Risiken
zusammen eine „Polykrise“ bilden – ein Bündel zusammenhängender globaler Risiken mit sich gegenseitig verstärkenden Auswirkungen, sodass die Gesamtauswirkung die Summe der Bestandteile übersteigt.
Mit anderen Worten, wie es in der Neujahrserklärung der World Socialist Web Site heißt, die Krise des Kapitalismus hat eine „kritische Masse“ erreicht. Die WSWS hob einen weiteren entscheidenden Punkt hervor: Das Verhalten der kapitalistischen Regierungen ist zunehmend irrational und verschärft die Krise, anstatt sie zu lindern.
Der gleiche Punkt wird auf andere Weise in der Schlussfolgerung des Berichts zum Weltwirtschaftsforum angesprochen:
Trotz der unbestreitbaren Notwendigkeit einer wirksamen Reaktion kann die zu starke Priorisierung aktueller Herausforderungen schnell in einen Teufelskreis ständiger globaler Schocks münden, bei dem die Ressourcen durch das Krisenmanagement absorbiert werden, anstatt sie für die Vorbereitung auf künftige Risiken einzusetzen. Komplexe Herausforderungen lassen sich nicht durch kurzfristige Entscheidungen lösen – doch auch langfristiges Denken reicht angesichts der aktuellen Krisen nicht aus.
Man fühlt sich an das Bild eines Jungen erinnert, der ein Loch im Deich mit dem Finger abdichtet, während das ganze Bauwerk unter dem Druck der Fluten nachgibt.
Wer immer noch der Illusion anhängt, dass die herrschenden Klassen eine fortschrittliche Lösung für die Krise haben, sollte den letzten Absatz lesen:
In Anbetracht der komplexen Risiken müssen nationale Vorsorge und globale Zusammenarbeit in ein besseres Gleichgewicht gebracht werden. Wir müssen gemeinsam handeln, um einen Weg aus der Kaskade von Krisen zu finden und uns gemeinsam auf den nächsten globalen Schock vorzubereiten, welche Form auch immer er annehmen wird. Führungspersönlichkeiten müssen sich der Komplexität stellen und auf Grundlage einer ausgewogenen Vision handeln, um eine stärkere, wohlhabende gemeinsame Zukunft zu schaffen.
Mit anderen Worten: Die herrschenden Eliten, allen voran die in Davos versammelten schwerreichen Oligarchen, die die Menschheit in eine existenzielle Krise geführt haben, sollen irgendwie die Kurve kriegen und den Weg aus der Katastrophe weisen.
In Wirklichkeit haben sie dafür keine Politik und können auch keine entwickeln, weil der heutige Kurs letztlich nicht in ihrer Psyche, sondern in den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise wurzelt, die von ihnen um jeden Preis verteidigt wird.
Die Kapitalistenklasse und ihre politischen Vertreter sind das größte Hindernis für den Fortschritt der Menschheit. Aber das bedeutet nicht, dass sie kein Programm hätten. Das haben sie durchaus: Sie wollen die gesamte Last der Krise ihres Systems auf den Rücken der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen abwälzen.
Obwohl sie von der Geschichte zum Untergang verurteilt sind, verfügen sie als gesellschaftliche Kraft über enorme Ressourcen und jahrhundertelange konterrevolutionäre Erfahrung. Der Weg nach vorn besteht nicht darin, an sie zu appellieren, ihren Kurs zu ändern, sondern darin, die Macht einer größeren sozialen Kraft – der internationalen Arbeiterklasse – zu mobilisieren, um sie zu entmachten.
Aber damit sich dieses enorme Potenzial entfalten kann, braucht die Arbeiterklasse eine klar ausgearbeitete Perspektive, die auf dem historisch entwickelten Programm und den strategischen Lehren beruht, die die trotzkistische Weltbewegung, die heute ausschließlich durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale vertreten wird, im Laufe von hundert Jahren in einem unnachgiebigen politischen und theoretischen Kampf gezogen hat.
Die Schlussfolgerung ist einfach. Wie in der Neujahrserklärung der WSWS dargelegt, hängt die Zukunft der Menschheit vom Sieg des Sozialismus ab, und um dieses Ziel zu erreichen, muss das IKVI als Weltpartei der sozialistischen Revolution aufgebaut werden.