Perspektive

Zugunglück in East Palestine wirft Frage der Arbeitermacht auf

Entgleister Kesselwagen in East Palestine, Ohio, 15. Februar 2023 [AP Photo/Gene J. Puskar]

Die Freisetzung großer Mengen giftiger Chemikalien bei der Entgleisung eines Güterzugs im US-Bundesstaat Ohio ist eine Katastrophe, deren gesellschaftliche Ursachen mit Händen zu greifen sind.

Die enorme Katastrophe in East Palestine und die nicht geringere Skrupellosigkeit sowohl der Eisenbahngesellschaft als auch der Behörden sind schockierend, aber nicht überraschend.

Jedes Jahr kommt es in den Vereinigten Staaten zu mehr als 1.000 Zugentgleisungen, das sind im Durchschnitt etwa drei pro Tag. In den wenigen Tagen seit dem Unglück in East Palestine gab es eine Zugentgleisung in Houston (Texas), bei der ein Mensch ums Leben kam, und eine weitere in Van Buren (Michigan), die ebenfalls einen Kesselwagen mit Chemikalien betraf.

Für die rund 120.000 Beschäftigten der Eisenbahngesellschaften in den USA sind die Gründe für diese hohe Unfallrate offensichtlich. Lokomotiven, Infrastruktur, Gerät und Personalstärke wurden durch jahrelange Kosteneinsparungen ruiniert. Die Züge wurden auf eine Länge von fast fünf Kilometern verlängert und werden von nur zwei Personen gesteuert. Aufgrund des sogenannten „Präzisionsfahrplans“ und entsprechenden Arbeitszeitregelungen bekommen die Bediener der gewaltigen Loks zwischen ihren Einsätzen oft nur wenige Stunden Schlaf.

Das an der Entgleisung in East Palestine beteiligte Modell 32N, genannt „32 Nasty“, ist schon lange als besonders gefährlich bekannt.

Nicht nur Leben und Gesundheit der Eisenbahner, sondern auch der gesamten Öffentlichkeit wurden bewusst aufs Spiel gesetzt. Je stärker die Eisenbahnen ausgeblutet werden und je mehr die Ortschaften entlang der Eisenbahnstrecken gefährdet sind, desto höher die Gewinne der Bahngesellschaften.

Die Eisenbahnindustrie ist der profitabelste Wirtschaftszweig in Amerika. Norfolk Southern, der Betreiber des Katastrophenzugs, meldete für das vergangene Jahr einen Rekordgewinn von 3,2 Milliarden Dollar. Anstatt in die Infrastruktur zu investieren, von den Arbeitsbedingungen ganz zu schweigen, hat das Unternehmen in den letzten fünf Jahren 18 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen aufgewendet. Dieses Muster wiederholt sich bei allen großen Eisenbahnunternehmen.

Für das Weltmachtstreben der herrschenden Klasse werden enorme Mittel aufgewendet, während die elementare soziale Infrastruktur verfällt. Das US-Militär und die Nachrichtendienste erhalten jedes Jahr etwa 1 Billion Dollar, und der Kongress bewilligt im Monatstakt zweistellige Milliardensummen für den eskalierenden Konflikt mit Russland.

Wenn es darum geht, möglichst effektiv Menschen zu töten, werden keine Kosten gescheut. Aber für den sicheren Transport von Gütern und die Verhütung von Katastrophen ist kein Geld da.

Hier zeigt sich eine grundlegende Realität des Kapitalismus: der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Bedarf und privatem Profit.

Den Arbeitern kommt der grundlegende Gegensatz zwischen ihren Interessen und den Unternehmensgewinnen zunehmend zu Bewusstsein. „Ich bin kein Senator oder Kongressabgeordneter, ich muss für meinen Lebensunterhalt arbeiten“, erklärteletzte Woche ein Teilnehmer einer öffentlichen Versammlung in East Palestine. Ein Anwohner sagte der WSWS: „Sie wussten, was in diesen Waggons war, und es war ihnen egal. Die Menschen waren ihnen egal, es ging ihnen nur ums Geld.“ Ein anderer fügte hinzu: „Wir haben das Gefühl, dass sie eine ganze Stadt verseuchten, nur um die Eisenbahn fahren zu lassen.“

Obwohl die Wissenschaft der Katastrophenvorsorge große Fortschritte gemacht hat, ließ man ein Desaster nach dem anderen einfach geschehen, ohne Vorsorge und ohne nennenswerte organisierte Reaktion nach dem Geschehen.

Die Einwohner von East Palestine vergleichen ihre Lage mit der Vergiftung des Trinkwassers der Stadt Flint (Michigan) durch Blei. Es gab zahllose weitere Katastrophen dieser Art, man denke nur an den Giftmüllskandal von Love Canal (New York) Ende der 1970er Jahre, die BP-Ölpest im Jahr 2010 und natürlich die Coronavirus-Pandemie.

Überall auf der Welt ist das gleiche Grundmuster zu erkennen. Die Zahl der Todesopfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien ist inzwischen auf über 45.000 gestiegen. Tausende Männer, Frauen und Kinder sind unter Trümmern begraben, obwohl das Beben, das ihre Häuser zum Einsturz brachte, absehbar war und vorhergesagt wurde.

Der Vorfall in Ohio wird wie üblich von den staatlichen Stellen vertuscht. Gouverneur Mike DeWine twitterte am Mittwochmorgen, das Wasser in East Palestine könne ohne Bedenken getrunken werden. Auf Videos aus dem Gebiet sieht man jedoch, dass die Oberfläche von Bächen mit einem Ölfilm bedeckt ist und das Wasser buchstäblich blubbert, wenn Steine hineingeworfen werden.

Verkehrsminister Pete Buttigieg von der US-Bundesregierung spielte in einem Interview die Katastrophe herunter: „Diese schlimme Situation hat zwar besonders viel Aufmerksamkeit erregt, aber es gibt etwa 1.000 Zugentgleisungen pro Jahr.“ Äußerungen dieser Art zeigen, dass die Regierung nicht einmal mehr vorgibt, sich zu kümmern, und die Bewohner im Osten Ohios einfach sich selbst überlässt.

Auch die Leitmedien sind aktiv an der Vertuschung beteiligt. In den großen Zeitungen wird jedes Hinterfragen der offiziellen Darstellung als Wahn der extremen Rechten oder als „Verschwörungstheorie“ aus den sozialen Medien abgetan. In einem Artikel der New York Times heißt es unter der Überschrift „Tschernobyl 2.0? Zugentgleisung in Ohio führt zu wilden Spekulationen“: „Viele Influencer quer durch das politische Spektrum gehen mit ihren Behauptungen über die Umweltauswirkungen der Zugentgleisung weit über die bekannten Fakten hinaus.“

Diese Medien – dieselben, die auch Mär vom Ende der Coronavirus-Pandemie verbreiten – erwarten kritiklosen Glauben an die Darstellung der Regierung.

Solange die gesellschaftliche Entscheidungsmacht in den Händen einer winzigen kapitalistischen Oligarchie verbleibt, sind weitere Katastrophen und Vertuschungen unvermeidlich. Wieder und wieder erweisen sich die egoistischen Profitinteressen dieser Schicht als unvereinbar mit dem Funktionieren einer modernen Gesellschaft und sind eine ständige Quelle von Chaos, Desorganisation und offener Kriminalität.

Die Alternative dazu ist die Organisation und Mobilisierung der Arbeiterklasse. Dieselben Ursachen, die zur Giftwolke in Eastern Palestine geführt haben, lösen bei den Eisenbahnern erheblichen Widerstand aus. Letztes Jahr sprachen sich in Urabstimmungen mehr als 99 Prozent der Beschäftigten für Streik aus. Die Arbeiter wollen für menschenwürdige und sichere Arbeitsbedingungen kämpfen, sowohl für sich selbst als auch für die Gesellschaft.

Gehindert wurden sie daran durch eine korporatistische Verschwörung, an der sowohl die Eisenbahngesellschaften, die Demokraten und die Republikaner als auch die Gewerkschaftsbürokratie beteiligt waren. Die Gewerkschaften zögerten einen Streik so lange wie möglich hinaus, um ihre Tarifeinigung durchzudrücken und dem Kongress bis nach den Zwischenwahlen im November den Rücken frei zu halten.

Schließlich wurde den Eisenbahnern die Einigung per Gesetz aufgezwungen. Nur wenige Tage nach der entsprechenden Abstimmung im Kongress haben drei Eisenbahngesellschaften, einschließlich Norfolk Southern, Pilotprogramme zur Reduzierung der Besatzung von zwei auf eine Person vorgestellt – ein langjähriges Ziel der Unternehmerseite, das Katastrophen wie die in East Palestine noch schlimmer machen würde.

Ein Streik zur Durchsetzung sicherer Personal- und Wartungsstandards und gegen die Mitverschwörer der Regierung würde in der jetzigen Situation auf überwältigende Unterstützung in der Bevölkerung stoßen.

Es allerdings um weit mehr als einen Tarifkampf: Es geht um Arbeiterkontrolle über die Produktion. Die Wall-Street-Spekulanten, denen die Eisenbahnen gehören, haben in der Praxis bewiesen, dass man ihnen keine kritische Infrastruktur anvertrauen kann.

Die Socialist Equality Party fordert, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe in East Palestine, einschließlich der Führungskräfte von Norfolk Southern, zur Rechenschaft gezogen werden. Den Geschädigten müssen eine alternative Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden, bis die Bedingungen in der Stadt und der umliegenden Region tatsächlich wieder sicher sind, und sie müssen für die wirtschaftlichen und sonstigen Folgen der Katastrophe voll entschädigt werden.

Die Unternehmen müssen in gesellschaftliches Eigentum überführt, der demokratischen Kontrolle und Aufsicht durch die Arbeiterklasse unterstellt und als öffentliche Versorgungsbetriebe weitergeführt werden.

Die riesigen Unternehmensgewinne und der damit finanzierte Reichtum der kapitalistischen Oligarchen müssen beschlagnahmt und dazu verwendet werden, die soziale Infrastruktur wieder aufzubauen und das Grundrecht der arbeitenden Bevölkerung auf hochwertigen Wohnraum und vernünftige Lebensbedingungen zu erfüllen.

Letztlich ist der Kampf für sichere Bedingungen bei den Eisenbahnen eng mit der sozialistischen Organisation der Gesellschaft verbunden. Er wirft die Frage auf: Welche Klasse soll herrschen? Die Kapitalistenklasse, die die gesamte Gesellschaft dem Profit und dem Krieg unterordnet, oder die Arbeiterklasse, die das Wirtschaftsleben auf der Grundlage der sozialen Bedürfnisse neu organisiert.

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