Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien und die Rolle des deutschen Imperialismus

Die WSWS hat die schwere Erdbebenkatastrophe, die Anfang Februar große Gebiete im Süden der Türkei und in Nordsyrien erschütterte, bereits in einem früheren Kommentar als „eine verheerende Anklage gegen den Weltkapitalismus“ bezeichnet. Während die Regierungen schier unermessliche Ressourcen für Aufrüstung und Krieg verschwenden, vernachlässigen sie die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung. Für die Erdbebenopfer gibt es lediglich Almosen.

Eine besonders üble Rolle in dieser Hinsicht spielt der deutsche Imperialismus. Bis dato hat die Bundesregierung gerade einmal Mittel in Höhe von 108 Millionen Euro zugesagt, um die Menschen in der betroffenen Region zu unterstützen. Für die größte Aufrüstungsoffensive seit Hitler, die Kanzler Scholz (SPD) vor einem Jahr in seiner berüchtigten Rede zur „Zeitenwende“ verkündete, wurde hingegen quasi über Nacht ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro bereitgestellt – also fast tausendmal so viel wie für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien!

Vor knapp zwei Wochen reisten Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) in das Erdbebengebiet, um ihre Anteilnahme zu heucheln.

„Unser Mitgefühl erschöpft sich nicht in Worten“, erklärte die Außenministerin und fügte hinzu, dieses werde auch nicht nachlassen, wenn die Katastrophe und ihre Folgen in den Nachrichten von anderen Schlagzeilen verdrängt werden.

Ihre Kollegin Faeser trug noch dicker auf: „Es zerreißt uns allen das Herz, zu sehen, welch unfassbare Verwüstung und welch unendliches Leid dieses Erdbeben in der Türkei und in Syrien verursacht hat.“ Der Bundesregierung sei es sehr wichtig, in enger Abstimmung mit den türkischen Behörden sofort und umfassend zu helfen, so die Innenministerin.

Wem wollen Baerbock und Faeser mit ihren Krokodilstränen etwas vormachen? Die Bundesregierung überlässt die Menschen in der Türkei und Syrien gleichgültig ihrem Schicksal. Das Sondervermögen, mit dem die Bundesregierung den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine immer weiter eskaliert, würde ausreichen, um die gröbsten Erdbebenschäden zu beseitigen und Wiederaufbauhilfe zu leisten.

Der entstandene Sachschaden, durch den unzählige Menschen ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, beläuft sich laut der Weltbank für die Türkei auf mindestens 34,2 Milliarden US-Dollar (rund 32,4 Milliarden Euro). Für Syrien wird der Sachschaden auf rund 5,1 Milliarden US-Dollar (rund 4,8 Milliarden Euro) geschätzt, wobei dieser Wert nur vorläufig ist. Die Kosten für den Wiederaufbau für beide Länder werden etwa auf das Doppelte geschätzt. Zwar können schwere Nachbeben die Sachschäden (und auch das menschliche Leid) noch erhöhen, doch selbst dann wäre das Sondervermögen vermutlich nicht erschöpft.

Die bislang von der Bundesregierung zugesagte Summe entpuppt sich als ein Tropfen auf den heißen Stein. Gleichzeitig werden im Nato-Krieg gegen Russland immer mehr schwere Waffen an Kiew geliefert, wie Scholz in seiner Regierungserklärung zum Jahrestag der „Zeitenwende“ offenbarte; und die herrschende Klasse fordert zusätzliche Milliarden für die Aufrüstung.

Weit schwerwiegender als die Sachschäden ist die menschliche Tragödie der Katastrophe: Aktuellen Schätzungen zufolge kamen bislang 53.000 Menschen ums Leben. In der Türkei wurden 45.089 und in Syrien 8.476 Todesfälle bestätigt. Jeden Tag kommen weitere Opfer hinzu und die Dunkelziffer dürfte für beide Länder weit über den offiziellen Zahlen liegen. Derweil leidet eine ganze Region unter Obdachlosigkeit, Hunger und widrigen klimatischen Bedingungen. Viele müssen in Notunterkünften oder gar in Zelten ausharren.

Viele Menschen in Deutschland wollen ihren Verwandten in der betroffenen Region in der Türkei helfen. Doch das vorgeblich „vereinfachte, pragmatische Visumverfahren“ des Auswärtigen Amtes liest sich wie ein schlechter Witz. In Zusammenarbeit mit dem Innenministerium sollen damit angeblich Angehörige aus dem Katastrophengebiet schnell nach Deutschland geholt werden können.

Die Liste der geforderten Dokumente – die laut dem Außenministerium „auf ein Minimum“ reduziert wurden –, ist angesichts der Lage vor Orte schlicht zynisch. Doch um das Verfahren erfolgreich zu durchlaufen, müssen zwingend folgende Unterlagen vollständig vorgelegt werden:

  • Offizielles Antragsformular
  • Gültiger türkischer Pass
  • Krankenversicherung für den Schengenraum
  • Biometrisches Passfoto
  • Verpflichtungserklärung eines Verwandten ersten oder zweiten Grades
  • Kopie des Personalausweises/Passes und ggf. des Aufenthaltstitels der einladenden Person
  • Wohnsitznachweis (der zum Zeitpunkt der Katastrophe im Erdbebengebiet gelegen haben muss)
  • Verwandtschaftsnachweis
  • Schriftliche Schilderung der Notlage
  • Unterschriften/notariell beglaubigte Zustimmung der Eltern bei Minderjährigen

Die Anforderungen des Auswärtigen Amtes sind nicht nur eine Demütigung für die traumatisierten Menschen aus der türkischen Erdbebenregion, die versuchen, ihr Leben zu retten. Die materiellen und bürokratischen Hürden machen es schlicht unmöglich, das Visumverfahren erfolgreich zu durchlaufen.

Eine Sonderregelung für alle, die ihre Reisedokumente in den Trümmern ihres einstigen Zuhauses verloren haben – wovon in den allermeisten Fällen auszugehen ist –, wird vom Auswärtige Amt ausgeschlossen. Betroffene müssen sich in diesem Fall auf die (unwahrscheinliche) Kooperation der türkischen Behörden verlassen.

Zusätzlich muss die Verpflichtungserklärung der Verwandten in Deutschland als Kopie an eine existierende Adresse an den Antragssteller in der Türkei gesendet werden. Ein vollkommen aussichtsloses Vorhaben angesichts der Zerstörung vor Ort. Selbiges gilt für die Kopie des Ausweisdokuments der einladenden Person.

Unterdessen haben sich Familien mit dem Auto auf den Weg in die gefährliche Erdbebenregion gemacht, um ihren Verwandten die benötigten Dokumente persönlich zu bringen. Die Route von Berlin in die völlig zerstörte Stadt Gaziantep beträgt nicht weniger als 3.635 km.

Viele türkischstämmige Familien in Deutschland wissen zudem nicht, ob und wie lange sie die finanzielle Belastung (derzeit bis zu 500 Euro pro Gast und Monat), die mit der Verpflichtungserklärung einhergeht, stemmen können. Doch auch die niederträchtige Forderung, die persönliche Notlage der Antragsstellenden vor Ort schriftlich schildern zu müssen, zeigt, mit welcher Gleichgültigkeit die deutsche herrschende Klasse in die Erdbebenregion blickt.

Während in der Türkei etwa 20 Millionen Menschen von dem Erdbeben betroffen sind, wurden laut Angaben des Auswärtigen Amts bislang gerade einmal 1097 dreimonatige Visa nach dem „vereinfachten“ Verfahren für türkische Staatsbürger ausgestellt. 159 Personen, davon ca. die Hälfte aus Syrien, erhielten ein Visum zum Zweck einer Familienzusammenführung.

Betroffene aus Syrien sind von dem ohnehin aussichtslosen „vereinfachten“ Visumverfahren ausgeschlossen. Für sie wurde ein vorgeblich erleichtertes Verfahren für einen Daueraufenthalt in Deutschland geschaffen, doch die Hürden sind noch höher als für die Betroffenen aus der Türkei.

Wer das Visumverfahren in Anspruch nehmen möchte, muss neben den finanziellen Mitteln, um in den Libanon, nach Jordanien oder Istanbul reisen zu können, eine Reise antreten, die bereits vor den Erdbeben kaum zu bewerkstelligen war. (Die deutsche Botschaft in Damaskus ist nach wie vor geschlossen.) Nur in Ausnahmefällen ist es überhaupt möglich, die syrisch-türkische Grenze zu überqueren.

Die deutsche herrschende Klasse trägt eine massive Mitverantwortung dafür, dass Syrien durch die Erdbeben in eine noch tiefere soziale Katastrophe gestürzt wurde und notwendige Hilfe nicht ankommt. Seit 2011 hat sie den Regimewechsel-Krieg unterstützt, in dessen Verlauf Hunderttausende umgekommen sind, Millionen fliehen mussten und weite Teile des Landes zerstört wurden.

Gleichzeitig befürwortete die damalige Bundesregierung unter Angela Merkel die EU-Sanktionen gegen Syrien, die seitdem jährlich verlängert wurden. Diese erschweren nun laut der Hilfsorganisation Malteser International die Hilfslieferungen in das Erdbebengebiet.

Das Auswärtige Amt brüstete sich Anfang Februar damit, bei den Sanktionen sei berücksichtigt worden, „negative Folgen in irgendeiner Art für die Zivilbevölkerung nach Möglichkeit“ zu vermeiden. Das ist eine offenkundige Lüge. Infolge der Sanktionen sind z.B. direkte Banküberweisungen verboten, mit denen Verwandte vor Ort unterstützt werden könnten. Auch die medizinische Versorgung in Krankenhäusern kann nicht gewährleistet werden, da Geräte, Ersatzteile oder Medikamente ebenfalls nicht per Überweisung bezahlt werden können.

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