Streik im öffentlichen Dienst: „Eigentlich müssten alle Bürger auf die Straße gehen“

Vergangene Woche beteiligten sich in ganz Deutschland erneut Arbeiter im öffentlichen Dienst an Warnstreiks, zu denen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aufgerufen hatte. Während Arbeiter kampfbereit sind und die ständigen Sozialangriffe nicht mehr hinnehmen wollen, versucht Verdi die Warnstreiks zu isolieren und einen Ausverkauf durchzusetzen.

Wochenland organisierte sie die Streiks nach Regionen und Branchen getrennt, um zu verhindern, dass sich die Bewegung ausweitet, mit den Post- und Bahnarbeitern zusammenschließt und sich als Teil der europäischen Protestwelle versteht. Wenn sie am heutigen Montag zum Start der nächsten Verhandlungsrunde den ersten umfassenderen Streik organisieren, tun sie das, um die enorme Wut der Arbeiter unter Kontrolle halten zu können.

Das zeigte sich bei den Streiks in der letzten Woche. In Berlin streikten am Ende der Woche sowohl die Beschäftigten der Kliniken der Charité und des Vivantes-Konzern sowie die Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung (BSR) und der Wasserbetriebe.

Arbeiter auf der Demonstration vor dem Innenministerium

Etwa 3000 Arbeiter nahmen an einer Demonstration vor dem Innenministerium teil. Rund 400 BSR-Beschäftigte beteiligten sich an einer Kundgebung am Freitag vor dem Roten Rathaus. Zu einer Demonstration am Samstag, zu der neben Verdi u. a. auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) sowie der Berliner Mieterverein aufgerufen hatten, kamen rund 500 Menschen.

Die Wut der Beschäftigten war auf all den Demonstrationen mit Händen zu greifen. „Meiner Meinung nach, hat in den letzten 20 Jahren keiner eine richtige Lohnerhöhung gekriegt und jetzt muss endlich die Zeit kommen, dass jeder zufrieden zur Arbeit gehen kann und sagen ,es geht uns jetzt besser‘“, erklärt ein BSR-Beschäftigter. „Man muss die zehn Prozent [die Verdi fordert] nehmen, aber das reicht eigentlich auch nicht. Wenn man einkaufen geht, sieht man selbst: Zehn Prozent reichen da nicht. Auch die Mieten sind erhöht.“

Dass derzeit in ganz Europa Klassenkämpfe ausbrechen, begrüßt er: „Die Franzosen machen das immer wieder. Das einzige Land in Europa, das etwas bewegt. Aber langsam müssen wir auch bei uns hier rauskommen. Wir dürfen nicht immer sagen: ,Wir haben zwei Bier uns geht es noch besser.‘ Uns geht es nicht gut.“

Einen gemeinsamen Kampf mit französischen und britischen Arbeitern würde er „super finden“. „Das müssen wir langsam auch machen – nicht, dass die Zeit abläuft. Wir müssen mit unserer Bevölkerung von 80 Millionen raus, weil es uns alle was angeht. Ich hoffe, dass die französische Bewegung sich weiter ausweitet in Europa.“

BSR-Arbeiter bei der Kundgebung am Freitag vor dem Roten Rathaus

Andere BSR-Arbeiter machen deutlich, dass Verdis Forderungen bei weitem nicht ausreichen. „Wir sind unzufrieden mit dem Angebot der Arbeitgeber. Aber auch was Verdi fordert, ist viel zu wenig bei den explodierenden Preisen“, erklärt einer. „Es fliegt uns alles um die Decke und wir kriegen gar nichts. Wie soll man überhaupt noch leben. Die letzten Jahre haben wir reichlich Reallohnsenkungen bekommen. Die letzten Verhandlungen waren doch alle nichts. Es wird Zeit, dass wir mal richtig was in die Tasche kriegen.“ Auch die Arbeitsbedingungen waren die letzten Jahre von immer weiterer Verdichtung geprägt.

Dass jetzt in ganz Europa Klassenkämpfe ausbrechen, sieht er im Zusammenhang: „Die ganzen letzten 30 Jahre waren ja weitgehend gegen Arbeitnehmende und nicht für Arbeitnehmende. Gemeinsame Kämpfe würden da wahrscheinlich mehr bewirken.“

Diese Einschätzung der aktuellen Situation wird allgemein von Arbeitern geteilt. Ein anderer BSR-Arbeiter erklärt: „Die ganze Volkswirtschaft geht nach unten. Gerade die nächste Generation muss schauen, wo sie bleibt. Und es wird nicht besser, es wird schlechter. Deswegen muss was passieren, es müssen viel mehr auf die Straße gehen. Nicht nur die öffentlichen Dienste. Eigentlich müssten alle Bürger auf die Straße gehen. Ich glaube, das hier ist nur der Anfang. Die Leute sind einfach unzufrieden. Krieg, Inflation, den ganzen Mist mit Corona haben wir aushalten müssen und irgendwann ist mal Ende Gelände.“

Der Kampf der öffentlichen Beschäftigten findet auch unter anderen Teilen der Bevölkerung Unterstützung. Auf der Kundgebung am Samstag sprachen WSWS-Reporter mit Rasmus, der gerade seinen Schulabschluss gemacht hat und hofft, eine Ausbildung als Tischler anfangen zu können. Er erfuhr von der Demonstration am Samstag durch seine Schwester, die in einem Krankenhaus arbeitet, und seine Mutter, die Lehrerin ist. Sowohl seine Schwester als auch seine Mutter beklagen sich über die hohe Arbeitsbelastung und den Personalmangel an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen.

Rasmus und seine beiden Freunde kommentieren die Rolle Verdis bei der Isolation der Proteste, die an der geringen Beteiligung an der Demonstration am Samstag deutlich wird. „Es hat offensichtlich keinen wirklichen Versuch gegeben, die Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Meine Mutter berichtet, dass es an ihrer Schule zwar eine Reihe von Verdi-Mitglieder gibt, aber nur ein oder zwei von ihnen überhaupt an Verdi-Protesten oder Versammlungen teilnehmen. Das hängt eindeutig mit der Enttäuschung über die Gewerkschaft zusammen.“

Rasmus mit Freunden

Er stimmt zu, dass das Grundproblem der Gewerkschaften ihre nationalistische Einstellung ist. „Es ist klar, dass die großen Unternehmen international agieren und alle Probleme, die wir heute haben, nur auf internationaler Ebene gelöst werden können.“

Rasmus unterstützt auch die derzeitige Streikbewegung in Frankreich und verurteilt das brutale Vorgehen der französischen Polizei gegen die Demonstranten. „In Deutschland waren Polizei und Staat nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen, eine gewisse Zurückhaltung im Umgang mit Protesten zu üben. Frankreich hat eine andere Tradition und die Polizei greift ein, um jede Opposition mit der ganzen Macht des Staates zu unterdrücken.“ Er und seine beiden Freunde sind sich einig, dass es notwendig ist, die in Deutschland, Frankreich und vielen anderen Ländern entstehenden Kämpfe zu verbinden.

Auch drei ehemalige Metallarbeiter, die jetzt in Rente sind, aber aus Solidarität an der Kundgebung am Samstag teilnehmen, unterstützen die Proteste in Frankreich, weisen aber auf die Rolle der nominell linken Parteien dort hin: „In Großbritannien stellt sich die Labour Party offen gegen die Streikbewegung“, erklärt einer der drei. „[Labour-Vorsitzender] Keir Starmer spricht sich gegen die Streiks aus und ruft auf, nicht zu den Streikposten zu gehen.“

Sie sind sich bewusst darüber, dass die Rolle der pseudolinken Parteien in Deutschland nicht anders ist. Als ein Mitglied der Linkspartei versucht, ihnen einen Flyer zu geben, reagieren sie empört: „Von der Linkspartei nehmen wir nichts“, erklärt einer der drei und verweist auf die Kriegspositionen ihrer führenden Vertreter zur Ukraine. Ein anderer ergänzt: „Auch Lederer [der amtierende Senator für Kultur und Europa in Berlin] ist nur ein NATO Sprachrohr. Egal wer im Senat dran ist, der Schrecken setzt sich fort.“

Ähnlich äußern sie sich über die Rolle der Gewerkschaften. „[Die DGB-Vorsitzende] Fahimi ist auch nur eine von der SPD eingesetzte Verwalterin. Und die IG Metall arbeitet schon ewig systemstabilisierend. Eine ,Kompromisspolitik‘ fährt sie schon lange, aber mit den jüngsten Abschlüssen treibt sie das wirklich auf die Spitze.“

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