Gestern Abend erfuhren die Leser der Tageszeitung La Provence aus Marseille, dass Jean-Luc Mélenchon, Chef der Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI), für den 6. April einen Generalstreik vorschlägt. Ein ahnungsloser Leser könnte sich fragen, warum dies nicht auf allen Titelseiten steht und in den Abendnachrichten berichtet wird. Schließlich hat Macrons Versuch, seine Rentenkürzungen gegen allen Widerstand durchzusetzen, im ganzen Land explosive Wut provoziert, die sich immer weiter ausbreitet.
Immerhin erhielt Mélenchon bei den letzten Präsidentschaftswahlen knapp acht Millionen Stimmen, was ihn fast in die Stichwahl gegen Emmanuel Macron gebracht hätte. Ein Massenstreik seiner Wähler, die vor allem aus den Arbeitervierteln der größten Städte Frankreichs stammten, würde die Wirtschaft lahmlegen. Umfragen zufolge wären 62 Prozent der Franzosen in dieser Frage für ein Blockieren der Wirtschaft. Dies könnte Macrons Versuch, seinen Rentenkahlschlag gegen den überwältigenden Widerstand der Bevölkerung und Millionen Streikende durchzusetzen, zum Scheitern bringen. Die Frage nach Macrons politischem Überleben würde sich unmittelbar stellen.
Aber die großen französischen Medien haben über Mélenchons Aufruf zum Generalstreik nicht berichtet, denn er hat sie nicht darüber informiert.
Mélenchon macht sehr klar, dass es ihm mit seiner Forderung überhaupt nicht ernst ist: Er hat sie in einem YouTube-Video vergraben, wo sie erst nach zehn Minuten auftaucht. Und der Titel des Videos, das er am Donnerstagnachmittag auf seinem YouTubeKanal einstellte, enthält keinerlei Hinweise auf den Streikaufruf. Die Zeitung La Provence erfuhr nicht etwa durch einen Anruf von einem seiner zahlreicher Berater oder Presseattachés vom Generalstreikvorschlag, sondern weil ein Journalist der Zeitung zufällig das ganze Video angehört hatte.
Die Parti de l'égalité socialiste (PES), die französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), befürwortet Vorbereitungen auf einen Generalstreik. Dieser ist der Schlüssel für die zentrale Aufgabe, die vor der Arbeiterklasse steht: Macron zu stürzen. Allerdings enthält die lächerliche Episode um Mélenchon eine wichtige politische Lehre: Die Vorbereitung eines Generalstreiks kann nicht einem früheren Senator und bürgerlichen Minister wie Mélenchon überlassen werden. Sie erfordert den Aufbau einer Massenbewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die dem politischen Establishment die Stirn bieten.
Mélenchons Vorschlag richtete sich nicht an einfache Arbeiter, sondern an die französische Gewerkschaftsbürokratie, vor allem an die stalinistische Bürokratie der CGT. In seinem Video lobt Mélenchon wiederholt die CGT und spricht die Hoffnung aus, dass ihre Führung unbeschadet aus dem laufenden Kongress, der gerade in erbitterte Machtkämpfe ausartet, hervorgehen werde.
Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez hat den CFDT-Chef Laurent Berger dabei unterstützt, einen Ausverkauf des Kampfs gegen Macron einzufädeln. Berger hat zu einer „Vermittlung“ zwischen den Gewerkschaften und Macron aufgerufen, um die explosive Wut „abzukühlen“, die sich in der Arbeiterklasse gegen Macron ausbreitet, und so einen Ausverkauf vorzubereiten.
Mélenchon bezieht sich in seinem Video nicht auf diese explosive Wut in der Arbeiterklasse gegen Macrons Versuch, gegen den Willen des Volks zu regieren. Er kritisiert auch mit keinem Wort Bergers Verrat. Mélenchons Darstellung zeigt jedoch, dass er sich sehr wohl bewusst darüber ist, dass Berger gerade versucht, die Bewegung gegen Macron auszuverkaufen.
Der eintägige Streik vom 28. März, so Mélenchon, habe „einen Rückgang der Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen“ zur Folge gehabt. Den Streikenden gingen wohl, so sagt er, allmählich die Ersparnisse aus. Mélenchon stellt fest: „Die Zahl der Jugendlichen [unter den Teilnehmern] nimmt beträchtlich zu, und die Zahl der Leute, die mit Kinderwagen dabei sind, geht zurück ... denn die Leute haben Angst vor der Gewalt der Polizei bekommen.“
An Mélenchons Zustandsanalyse der Bewegung gegen Macron sind ein paar größere Abstiche zu machen. Die genaue Angabe, wie viele Menschen jeweils an einer eintägigen Aktion dabei waren, ist in Frankreich immer eine Streitfrage. Unter Macrons Herrschaft würde außerdem kein vernunftbegabter Mensch mit einem Kinderwagen an einer Demonstration teilnehmen: Die Explosion einer Tränengaspatrone im Wagen oder irgendein anderes Polizeigeschoss könnten für das Baby tödlich sein. Dagegen ist die Entschlossenheit von Arbeitern und Jugendlichen nach wie vor groß, den Kampf gegen Macron trotz Bergers „Vermittlungs“-Aufruf fortzusetzen.
Allerdings hat die französische Gewerkschaftsbürokratie den nächsten Protesttag erst auf den 6. April verschoben, und dies und die anhaltende Weigerung, den Streikenden Streikgeld zu zahlen, zielen offensichtlich darauf ab, die Bewegung gegen Macron auszutrocknen.
Mélenchon sagt: „Wir dürfen nicht den Anschein erwecken, als würde die Bewegung allmählich absterben, denn das hieße, sie zu verraten. Der Kampf geht weiter, wir müssen Initiative zeigen, Perspektiven für eine Offensive aufzeigen.“ Und diese angebliche offensive Perspektive, die Mélenchon den Arbeiterinnen und Arbeitern bieten will, um einen Ausverkauf der Gewerkschaften zu verhindern, besteht in seinem Vorschlag, den Aktionstag, den Berger und die CGT-Führung für den 6. April ausgerufen haben, zum Generalstreik zu erklären.
Mélenchons Vorschlag ist absurd und politisch unehrlich. Offensichtlich will er die Vorbereitung seines „Generalstreiks“ Berger, Martinez und den französischen Gewerkschaftsbürokraten überlassen. Aber diese Gewerkschaftsführer, die laut seiner eigenen Analyse vorhaben, einen Ausverkauf zu organisieren und Macrons Regime zu festigen, werden sich nicht plötzlich um 180 Grad drehen und einen Generalstreik gegen Macron organisieren. Mélenchons unseriöser Aufruf zum Generalstreik ist nur eine zynische Worthülse, hinter der er seine Übereinstimmung mit Berger und anderen Komplizen Macrons versteckt.
Im Jahr 1935, vor Ausbruch des französischen Generalstreiks von 1936, goß Leo Trotzki in „Wohin geht Frankreich“ Spott und Hohn über diejenigen aus, die mit dem Begriff Generalstreik spielten. Solche Leute hätten keinen echten Generalstreik im Sinn, ätzte er, sondern nur „einen kleinen ganz friedlichen Streik, gerade gut genug für den persönlichen Hausgebrauch“ des einen oder anderen Mitglieds des politischen Establishments. Im Gegensatz dazu schrieb Trotzki:
Der Generalstreik wird nur möglich, wenn der Klassenkampf über alle Einzelforderungen hinausgeht, sich über alle Berufs- und Wohngebietsunterschiede ausdehnt, die Grenzen zwischen Parteien und Gewerkschaften, zwischen Legalität und Illegalität verwischt, die Mehrheit des Proletariats zu einer aktiven Opposition gegen die Bourgeoisie und den Staat mobilisiert. Über dem Generalstreik kann nur noch der bewaffnete Aufstand stehen. Die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung bezeugt, dass der Generalstreik, mit welchen Losungen er auch auftritt, stets die innere Tendenz hat, in einen offenen revolutionären Zusammenstoß, in einen direkten Kampf um die Macht überzugehen. Mit anderen Worten: Der Generalstreik ist nur möglich unter Bedingungen äußerster politischer Spannung und darum ist er stets ein unverkennbarer Ausdruck des revolutionären Charakters der Situation.
Die explosive Wut breiter Arbeiterschichten gegen Macrons Versuch, gegen das Volk zu regieren, macht heute einen Generalstreik zum Gebot der Stunde. Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung sucht über alle beruflichen und geografischen Grenzen hinweg nach einem Weg, Macron und den Banken ihren Willen aufzuzwingen. Immer breitere Arbeiterschichten verstehen, dass die Gewerkschaftsführer in diesem Kampf keine Verbündeten sind, sondern Feinde, die Macron stützen wollen.
Um die Arbeiterklasse gegen Macron zu mobilisieren, ist der Aufbau neuer Kampforganisationen entscheidend, die in der Arbeiterklasse für ein marxistisches Bewusstsein kämpfen.
Dies erfordert einen politischen Kampf gegen Mélenchon, der für französischen Populismus und für eine „Bürgerrevolution“ eintritt, aber nicht für eine Orientierung auf die internationale Arbeiterklasse und die sozialistische Revolution, die er ablehnt. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, erneut einen Blick in Mélenchons Buch „Qu'ils s'en aillent tous !“ (Die sollen alle gehen) zu werfen, in dem er sein Konzept einer „Bürgerrevolution“ definiert. Er stellt dort klar, dass Streiks und Proteste nicht dazu dienen, den Kapitalismus und die kapitalistischen Regierungen zu stürzen, sondern dazu, durch Wahlen eine neue kapitalistische Regierung in Frankreich zu bilden. Er schreibt:
Ich will eine „Bürgerrevolution“ in Frankreich. Das Adjektiv „Bürger“ weist sowohl auf die Mittel als auch auf die Ziele dieser Aktion hin. Diese beiden Hinweise sind wichtig wegen der kindischen Vorstellung, die dummerweise die Revolution mit einem Ich-weiß-nicht-was-Plan für einen bewaffneten Aufstand verbindet ... Die Revolution, die ich will, ist eine Bürgerrevolution, weil diese in sozialen Bewegungen wurzelt und durch Abstimmungen und Wahlen ausgelöst und durchgeführt wird.
Mélenchon hat immer wieder betont, dass er dagegen sei, dass Arbeiter die Kontrolle über ihre Werke und Arbeitsplätze übernämen und deren private, kapitalistische Eigentümer enteigneten. Diesen wesentlichen Bestandteil der sozialistischen Revolution tat er arrogant als Kapitulation vor „Sonderinteressen“ ab. Die „Bürgerrevolution“, schrieb Mélenchon, „besteht nicht darin, nach alter Manier zu rufen: ‚Die Grube dem Bergarbeiter, und die Erde demjenigen, der sie bebaut.‘ Man bricht nicht die Diktatur der Aktionäre, um eine Regierung der Sonderinteressen zu errichten.“
Die zentrale politische Forderung, die Mélenchon für seine „Bürgerrevolution“ erhebt, ist die Umbenennung der Legislative in eine „verfassungsgebende Versammlung“, d.h. eine, die die Verfassung ändern kann. Doch diese Politik, so macht er deutlich, zielt darauf ab, die gegen die Staatsgewalt Sturm laufenden Arbeiter einzulullen, indem man ihnen verspricht, dass das kapitalistische Establishment selbst eine tiefgreifende demokratische Reform durchführen werde. Letztlich geht es darum, den bestehenden Staatsapparat zu stützen und eine Revolution durch einen Personalwechsel an der Spitze abzuwenden.
Wie Mélenchon schreibt, war er sich auf seiner Lateinamerikareise zunächst nicht sicher, warum die Forderung nach einer „verfassungsgebenden Versammlung“ notwendig sei. Aber, so schreibt er: „Die Erklärung wurde mir nach meiner Ankunft [in Mexiko] vor Ort gegeben. Es war die Voraussetzung dafür, dass die Behörden wieder legitim arbeiten konnten.“
Auf diese Weise versucht Mélenchon, eine Verteidigung des kapitalistischen Staates in „revolutionäre“ Farben zu hüllen. Diese reaktionäre Perspektive hat den Millionen von Arbeitern und Jugendlichen, die gegen Macron und die Diktatur der Finanzoligarchie rebellieren, nichts zu bieten. Mélenchons konterrevolutionären Populismus zurückzuweisen, ist daher sehr wichtig. Es ist eine Voraussetzung dafür, Aktionskomitees und die revolutionäre politische Führung aufzubauen, um einen Generalstreik für Macrons Sturz vorzubereiten und die Arbeitermacht zu errichten.