Beschäftigte über die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst

„Wenn nicht mindestens 400 Euro mehr im Monat rausspringen, ist was los!“

„Wenn nicht mindestens 400 Euro mehr im Monat rausspringen, ist was los!“ Das sind die selbstbewussten Worte eines Müllwerkers der Stadt Essen kurz vor Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung gegenüber der World Socialist Web Site.

Die Vereinigte Dienstleistungsgesellschaft (Verdi) hatte für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ursprünglich 10,5 Prozent mehr Lohn, mindestens 500 Euro im Monat, gefordert – bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Einmalzahlungen in Form von Inflationsausgleichszahlungen lehnte Verdi ab und verlangte stattdessen dauerhafte tabellenwirksame Erhöhungen.

„Unterbezahlt, unterbesetzt, überfordert, überlastet“, diese Sozialarbeiterin aus Hessen drückt die Stimmung im ganzen öffentlichen Dienst aus

Am heutigen Samstag führen Verdi und die öffentlichen Arbeitgeber nach dem Schlichtungsverfahren die Tarifverhandlungen in Potsdam weiter. Die Schlichtungsempfehlung beinhaltet nun eine auf die ersten 14 Monate verteilte Zahlung von 3.000 Euro „Inflationsausgleichszahlung“ und anschließend eine monatliche Erhöhung von 200 Euro plus 5,5 Prozent, mindestens 340 Euro. Die Laufzeit beträgt 24 Monate. Angesichts einer jährlichen Inflationsrate von mindestens 8 Prozent – bei Lebensmitteln und Energie von mindestens 20 Prozent – würde die Umsetzung der Schlichtungsempfehlung empfindliche Reallohnsenkungen bedeuten.

Geht es nach Verdi ist die Annahme der Schlichtungsempfehlung jedoch reine Formsache. Alle zwölf Verdi-Vertreterinnen und Vertreter in der Schlichtungskommission unter Leitung der stellvertretenden Verdi-Vorsitzenden Christine Behle haben der Einigungsempfehlung zugestimmt. Behle wirbt nun in Verdi-Flyern ausdrücklich für das Ergebnis.

Die Beschäftigten sprechen sich klar dagegen aus. Martin arbeitet bei der Agentur für Arbeit in Bielefeld. „Was ich völlig inakzeptabel finde“, sagt er, „ist die Nullrunde bis Februar“. Als letzten Herbst „die Inflationsausgleichszahlungen hochgelobt wurden, habe ich sie als Ausgleich für die Lohnverluste in den Jahren 2021 und 2022 verstanden“. Nun würden sie genutzt, um dauerhafte Gehaltserhöhungen in diesem und nächsten Jahr gering zu halten. „Die Lohnverluste der letzten beiden Jahre müssen wir ausbaden.“

„Viele sind aufgebracht, vor allem deswegen, weil die Arbeitgeber erst gar nichts angeboten haben, dann kaum etwas und nun das“, berichtet er. Er geht davon aus, dass das Schlichtungsergebnis umgesetzt werden soll. „Es ist ja bemerkenswert, dass Faeser [die SPD-Innenministerin] den Schlichterspruch gelobt hat. Alle Verdi-Verantwortlichen haben zugestimmt. Ist doch klar, worauf es hinausläuft.“

Viele des technischen und pflegerischen Personals des Katharinenhospitals (Klinikum Stuttgart), dem größten Krankenhaus in der Region, haben nach eigenen Aussagen bislang von Verdi keine Informationen bekommen, wie es weitergehen soll.

Thomas, Medizintechniker aus Stuttgart, im Gespräch mit einem WSWS-Reporter

Thomas, Medizin-Techniker, hat sich durch die verfügbaren Informationen durchgearbeitet. Er vermutet hinter den komplizierten Vereinbarungen und der verklausulierten Sprache System. Verdi mache alles kompliziert, „um den Stand der Tarifverhandlungen und deren Inhalt zu verschleiern. Keiner von uns versteht die verschiedenen Facetten der Gehaltsstufen und warum das so ist.“ Ein Verdi-Vertreter habe ihm und seinen Kollegen gesagt, dass Verdi die Schlichtungsempfehlung akzeptieren werde. „Als ich mit einigen Kollegen sprach, waren wir alle der Meinung, dass Verdi keinen Streik will.“

Die Streikbereitschaft bei den Beschäftigten ist dagegen groß. Nicht nur wegen der Inflation, auch wegen der katastrophalen Arbeitsbedingungen, die sich durch den Sparkurs in Krankenhäusern, Kitas, Schulen, Einrichtungen, Verwaltungen usw. unaufhörlich verschlechtern.

Beschäftigte am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin-Wedding berichten von immer schlechteren Arbeitsbedingungen und fordern, dass umfassende Streiks organisiert werden, um echte Lohnerhöhungen durchzusetzen und insbesondere die Arbeitsbedingungen grundlegend zu verbessern. Verdis Entscheidung, überhaupt das Schlichtungsverfahren einzugehen, wird skeptisch bis ablehnend betrachtet. Mehrere Klinikum-Beschäftigte reagierten wütend auf die Arbeitgeber und berichteten von verheerenden Einschnitten in die Patientenversorgung.

Ünal (63) arbeitet seit 38 Jahren bei der Charité bzw. seit der Ausgliederung bei Charité Facility Management (CFM) in der Gebäudereinigung: „Obwohl wir in den letzten Jahren immer wieder gestreikt haben, habe ich jedes Jahr immer weniger Geld übrig. Es hat auch nie einen Streik von allen gemeinsam gegeben, z.B. waren bei unseren Streiks die Ärzte nie dabei.“

Eine Kollegin, die als Krankenpflegerin arbeitet, pflichtet ihm bei: „Wir haben schon nicht verstanden, warum die [Verdi] das um Ostern herum mit der Schlichtung abgewürgt und nicht weiter gestreikt haben. Und wieso werden überhaupt die ganze Zeit nur einzelne Stationen bestreikt?“

Sabine, eine Therapeutin, ergänzt: „Ich glaube, dass der Streik weitergehen wird. Als Therapeuten wurden wir zunächst weder vom Marburger Bund noch Verdi vertreten. Jahrelang ist gar nichts passiert. Wir mussten aktiv auf Verdi zugehen, damit wir überhaupt mitberücksichtigt werden. Wir haben nicht die Absicht, hinzunehmen, dass man uns Geld wegnimmt. Wir alle waren diejenigen, die den Laden am Laufen gehalten haben. Jetzt muss ich noch zu meinem Nebenjob, weil ich anders gar nicht überleben kann.“

Eine Beschäftigte, die anonym bleiben möchte, sagt: „Es ist eine Frechheit, was uns angeboten wurde. Ich arbeite im Herzklinikum und auf unserer Station haben allein im letzten Vierteljahr 25 Menschen gekündigt. Die Charité braucht sich nicht wundern, wenn alles den Bach runtergeht und die Leute kündigen.“ Shadi, eine junge Kollegin, die seit kurzem bei der Charité angestellt ist und vorher im Deutschen Herzzentrum gearbeitet hat, bestätigt, dass auf der Intensivstation des Herzzentrums „allein im letzten Monat 20 Leute gekündigt“ haben.

Beschäftigte des Krankenhauses Bad Cannstatt (Klinikum Stuttgart) drücken ihren Unmut nicht nur gegenüber den Arbeitgebern, sondern auch gegenüber Verdi aus. Sabine, Verwaltungsangestellte, sagt, sie habe genug von Verdis angeblichem Kampf. Sie war mehr als 15 Jahre Mitglied bei Verdi, jetzt nicht mehr. „Die Routine des angeblichen Kampfes von Verdi endet immer auf Kosten von uns, das weiß jeder hier.“

Brigitte ist Auszubildende in der Krankenpflege und berichtet, dass alle im Krankenhaus zum Streik bereit seien. Die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen, die seit Jahren arbeiten, sind erschöpft von der ständig steigenden Arbeitsbelastung. „Es geht nicht nur um mehr Geld, was bei den derzeitigen Preissteigerungen sehr notwendig ist, sondern auch um mehr Arbeitskräfte in den Krankenhäusern“, sagt die junge Frau und ergänzt: „Dies ist meine erste Tarifverhandlung, ich bin kein Mitglied von Verdi und meine bisherige Erfahrung ist, dass Verdi nicht wirklich bereit ist zu streiken.“

Mehrere Krankenpflegerinnen und -pfleger betonen im Gespräch, dass sie sehr wohl die internationale Dimension ihres Kampfs sehen. „Es ist ja in jedem Land so“, sagte eine Pflegerin der Charité. „International werden die Bedingungen in der Krankenpflege immer schlechter.“

Obwohl über die Massenproteste und Streiks in Frankreich hier in Deutschland kaum berichtet wird und die Gewerkschaften schweigen, beziehen sich viele Beschäftigte darauf. Lukas, Erzieher aus Aachen, sagt: „Von Frankreich kann man sich eine Scheibe abschneiden.“

Eine Charité-Kollegin meint: „Hier müsste sich auch mal was bewegen. Wir müssen hier auch alle mal rauskommen.“

Zahlreiche Beschäftigte haben sich beim Aktionskomitee Öffentlicher Dienst gemeldet. In dessen letztem Aufruf heißt es:

Um den drohenden Ausverkauf zu verhindern, müssen wir die Kontrolle von Verdi durchbrechen und unabhängige Aktionskomitees aufbauen.

Denn Verdi stehe „genauso wie die anderen Gewerkschaften auf der Seite von Regierung und Unternehmen. Sie alle eint die Furcht vor einer europäischen Streikbewegung. In Frankreich gehen gerade Millionen gegen Macrons Rentenkürzungen auf die Straße, in Großbritannien streikten Hunderttausende gegen Lohnsenkungen und die Einschränkung des Streikrechts und in Spanien, Portugal, Belgien und vielen anderen Ländern entwickeln sich massive Streiks. Verdi will um jeden Preis verhindern, dass diese Bewegung auch in Deutschland um sich greift und die Regierung mit ihrer Kürzungs- und Kriegspolitik herausfordert.

So schreibt Katrin aus Franken, dass sie unbedingt für Streik sei, denn: „Ohne Kampf geht es nicht. STREIK Ich bin dabei.“

Auch Lukas aus Aachen sagt: „Die Streikbereitschaft ist hoch, wenn Verdi jetzt den Schlichtungsspruch zur Empfehlung vorlegt, dann ist die Wut bestimmt groß.“

Martin von der Arbeitsagentur Bielefeld unterstützt ausdrücklich den Aufruf: „Bei dem Aufruf finde am wichtigsten, dass die Notwendigkeit einer internationalen Koordination benannt wird. Weltweit haben die Arbeitenden mit denselben Problemen zu kämpfen: Wirtschaftskrisen, Verarmung, Umweltverschmutzung und Krieg. Wir sollten uns international zusammenschließen, um diese Probleme zu lösen!“

Wir rufen alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf: Kontaktiert uns und schickt eine Whatsapp-Nachricht an folgende Nummer: +491633378340, um den drohenden Ausverkauf zu verhindern und unabhängige Aktionskomitees aufzubauen.

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