Seit drei Monaten rebellieren Woche für Woche Millionen Franzosen gegen die Rentenkürzungen Präsident Emmanuel Macrons, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden. Es ist die größte Klassenbewegung in Frankreich seit Mai/Juni 1968, als ein Generalstreik wochenlang das Land lahmlegte. Die Proteste gehen auch weiter, nachdem Macron das Gesetz ohne parlamentarische Abstimmung durchgeboxt und der Verfassungsrat – ein handverlesenes Gremium ehemaliger Politiker – es genehmigt hat.
Die deutschen Gewerkschaften hat diese mächtige Bewegung der französischen Arbeiter in panische Angst versetzt. Anders kann man sich ihr penetrantes Schweigen nicht erklären. Obwohl Deutschland und Frankreich aneinandergrenzen und zusammen rund die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Eurozone ausmachen, meiden die Gewerkschaften das Thema wie der Teufel das Weihwasser.
Der Maiaufruf des DGB, der unter dem Motto „ungebrochen solidarisch“ steht, erwähnt die Ereignisse im Nachbarland mit keiner Silbe. Und dies, obwohl die zentrale Mai-Kundgebung des DGB, auf der auch Bundeskanzler Olaf Scholz sprechen wird, in Köln stattfindet, das keine 200 Kilometer von der französischen Grenze entfernt liegt.
In den Publikationen und auf den Websites der Gewerkschaften findet man bestenfalls nach intensiver Suche einen Hinweis auf die Ereignisse in Frankreich, von Solidaritätserklärungen keine Spur.
metall, das Magazin der IG Metall, das in zwei Millionen Exemplaren gedruckt und an sämtliche Mitglieder verschickt wird, berichtet weder in der Januar/Februar- noch in der März/April-Ausgabe über den Aufstand in Frankreich. Das einzige internationale Thema ist der Ukrainekrieg, in dem die Gewerkschaft – garniert mit einigen „friedenspolitischen“ Phrasen – den Kriegskurs der Nato und der Bundesregierung unterstützt, einschließlich Waffenlieferungen an die Ukraine und Wirtschaftssanktionen gegen Russland.
Geht man auf die offizielle Website der laut Eigenwerbung „größten Gewerkschaft der Welt“, findet man unter der Rubrik „Internationales“ vorwiegend Artikel über den Ukrainekrieg und die Verfolgung von Gewerkschaftern in Belarus. Am 11. März hatte die IG Metall gemeinsam mit dem Unternehmerverband Gesamtmetall sogar zu einer Schweigeminute in den Betrieben aufgerufen, um „gemeinsam der Opfer des von Russlands Präsident Wladimir Putin ausgehenden Angriffskriegs zu gedenken“.
Nicht anders ist es auf der internationalen und auf der europäischen Website von IndustriALL, einem Zusammenschluss von knapp 200 Gewerkschaften der Metall-, Chemie-, Bergbau- und Textilindustrie mit ungefähr 50 Millionen Mitgliedern, dem IG Metall-Chef Jörg Hofmann vorsteht. Obwohl alle französischen Gewerkschaftsverbände Mitglied von IndustriALL sind, fristen die Massenproteste in Frankreich auch hier ein Schattendasein.
Der letzte Eintrag stammt vom 19. Januar, dem Beginn der Proteste. Auf weniger als zwanzig Zeilen appelliert IndustriALL an sämtliche Regierungen, „ihre Arbeitnehmer zu unterstützen und faire und angemessene Arbeitsbedingungen zu schaffen“, und fordert „Präsident Emmanuel Macron auf, die Reform sofort zurückzuziehen“. Das ist alles!
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die erst kürzlich die Tarifauseinandersetzung bei der Post ausverkauft hat und nun dasselbe für 2,5 Millionen Beschäftigte von Bund und Kommunen vorbereitet, hüllt sich ebenfalls in Schweigen.
Anders als metall brachte die Verdi-Mitgliederzeitung publik im März zwar einen journalistischen Bericht über die Rentenproteste, der die Fakten einigermaßen objektiv darstellt. So räumt er mit dem von den Medien verbreiteten Märchen auf, nach der Reform könnten alle Franzosen mit 64 statt bisher mit 62 Jahren in Rente gehen: „Allerdings existiert der Anspruch auf volle Rente mit 64 in Frankreich nicht automatisch. Dafür müssen Beschäftigte 43 Jahre eingezahlt haben. Eine Rente ohne Abschlag unabhängig von der Einzahldauer gibt es auch in Frankreich erst mit 67.“
Doch mit den Protesten solidarisieren wollen sich auch die Verdi-Funktionäre nicht – noch nicht einmal in unverbindlichen Worten. Sie haben viel zu große Angst, dass die Kampfbereitschaft der französischen Arbeiter ihre eigenen Mitglieder anstecken könnte, die die Lohnsenkungen satt sind, die Verdi-Funktionäre regelmäßig mit ihren Parteifreunden in Regierung und Verwaltung vereinbaren.
Die Angst der deutschen Gewerkschaften ist umso größer, als sie ähnliche Rentenkürzungen, wie sie nun Macron mit diktatorischen Mitteln erzwingt, bereits vor über zehn Jahren widerstandlos akzeptiert haben.
2006 beschloss die erste Große Koalition unter Angela Merkel auf Initiative des Vizekanzlers und Arbeitsministers Franz Müntefering die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre bis 2031. Der SPD-Politiker, seit 40 Jahren IG-Metall-Mitglied, arbeitete dabei eng mit den Gewerkschaften zusammen. Diese lehnten die Erhöhung zwar formal ab, weil sie eine Rebellion der Mitglieder fürchteten, taten aber alles, um jeden Widerstand dagegen zu sabotieren.
Wenn die deutschen Gewerkschaften nun den Aufstand in Frankreich totschweigen, geht es um mehr als um Renteneintrittsalter und Lohnprozente. Wie die WSWS dargelegt hat, entwickelt sich in Europa eine revolutionäre Krise.
„In Europa ist eine Massenstreikbewegung ausgebrochen, in die Millionen von Arbeitern aus allen Teilen des Kontinents einbezogen werden,“ schrieben wir in einer gemeinsamen Erklärung der Sozialistischen Gleichheitspartei und ihrer französischen, britischen und türkischen Schwesterorganisationen. „Was sich hier abspielt, ist keine Serie von nationalen Gewerkschaftskämpfen, die durch getrennte Verhandlungen mit der einen oder anderen kapitalistischen Regierung gelöst werden können. Vielmehr handelt es sich um einen internationalen politischen Kampf, in dem Arbeiter in allen Ländern ähnliche Forderungen aufstellen. Den Arbeitern stehen Regierungen gegenüber, die diskreditiert sind und weithin verachtet werden und die mit dem Einsatz der Polizei und juristischen Drohungen reagieren.“
Die Brutalität, mit der Macron die Rentenkürzungen durchgepeitscht und sich über elementare demokratische Regeln hinweggesetzt hat, bestätigt diese Einschätzung. Nach Jahrzehnten des Einkommens- und Sozialabbaus und der Bereicherung milliardenschwerer Oligarchen haben die sozialen Gegensätze eine Schärfe erreicht, die sich nicht mehr überbrücken lässt. Die systematische Eskalation des Kriegs mit Russland in der Ukraine, die Milliarden für Krieg und Aufrüstung und angeschlagene Finanzmärkte spitzen die Krise weiter zu.
Das treibt immer breitere Schichten von Arbeitern und Jugendlichen in soziale und politische Kämpfe, während alle Parteien, die den Kapitalismus verteidigen – von den angeblich „linken“ über die sozialdemokratischen und konservativen bis zu den ultrarechten – weiter nach rechts schwenken.
Die Gewerkschaften sind Teil dieser Front gegen die Arbeiterklasse. Es handelt sich um korporatistische Apparate, die tief in die Unternehmen und den Staat integriert sind, die Kriegspolitik unterstützen, den Klassenkampf zügeln und unterdrücken und dafür gut bezahlt werden. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Frankreich, wo die Gewerkschaften alles tun, um die Bewegung unter Kontrolle zu halten und den Sturz von Präsident Macron zu verhindern.
Die Auseinandersetzung über die Rentenkürzungen in Frankreich, die mit großen Streikbewegungen in Großbritannien, Griechenland, Portugal und zahlreichen anderen Ländern zusammenfällt, ist der Beginn einer internationalen Welle von Klassenkämpfen.
Frankreich hat eine über 200-jährige Tradition, das Signal für revolutionäre Kämpfe in ganz Europa zu geben. Schon der junge Marx hatte geschrieben, der „deutsche Auferstehungstag“ (gemeint war die Revolution) werde „durch das Schmettern des gallischen Hahns“ verkündet. Bereits 1789 hatte die Französische Revolution Schockwellen durch ganz Europa geschickt. Es folgten die Revolutionen von 1831 und 1848 sowie die Parier Kommune von 1871. Im zwanzigsten Jahrhundert waren es die Generalstreiks von 1936 und 1968.
Die Arbeiterklasse und die Jugend kann diese Kämpfe nur gewinnen, ihre sozialen Errungenschaften verteidigen und die Gefahr von Krieg und Diktatur besiegen, wenn sie mit allen pro-kapitalistischen Parteien und den Gewerkschaften bricht, die nationalen Schranken überwindet, sich europa- und weltweit zusammenschließt, den Kampf für ein sozialistisches Programm aufnimmt und das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) aufbaut. Die großen Vermögen, Banken und Konzerne müssen enteignet, die Produktion muss nach den Bedürfnissen der Gesellschaft statt den Profitinteressen der Reichen organisiert werden.
Das IKVI hat die Initiative zum Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) ergriffen. Diese baut, wie es im Maiaufruf des IKVI heißt, „ein weltweites Netzwerk auf, um die Entwicklung einer globalen Strategie und die taktische Koordinierung des Klassenkampfs gegen die Macht der Konzerne und die kapitalistische Herrschaft zu unterstützen. Ihr Ziel ist es nicht, Druck auf die reaktionären Bürokratien auszuüben und sie zu reformieren, sondern die gesamte Entscheidungsfindung und Macht auf die Basis zu übertragen.“