Dies ist die Rede von David North, dem Vorsitzenden der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, auf einer Versammlung, die am Samstag an der University of London in Birkbeck, im Rahmen einer internationalen Vortragsreihe zu Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert stattfand.
Der Offene Brief und die Ursprünge des Internationalen Komitees
Vor siebzig Jahren, am 16. November 1953, wurde in der Zeitung The Militant der Socialist Workers Party – der damaligen trotzkistischen Organisation in den USA – ein „Brief an die Trotzkisten in aller Welt“ veröffentlicht. Verfasser des im Namen des Nationalen Komitees der Partei herausgegebenen Dokuments war James P. Cannon, der 63-jährige nationale Vorsitzende der SWP.
Die Socialist Workers Party war aufgrund antikommunistischer Gesetze in den Vereinigten Staaten nicht formell mit der Vierten Internationale verbunden. Ungeachtet dieser technischen Einschränkung beruhte Cannons politische Autorität auf der entscheidenden Rolle, die er bei der Gründung der Internationalen Linken Opposition im Jahr 1928 gespielt hatte, auf seiner anschließenden engen Zusammenarbeit mit Trotzki im Kampf für die Vierte Internationale und der Vorbereitung ihres Gründungskongresses im September 1938, seine zentrale Rolle in dem von Trotzki geführten Kampf gegen die kleinbürgerlich-revisionistische Tendenz von Max Shachtman, James Burnham und Martin Abern in den Jahren 1939-40 und, nach Trotzkis Ermordung im August 1940, seine unnachgiebige Verteidigung des programmatischen Erbes der Vierten Internationale im reaktionären Umfeld des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Jahren des Kalten Krieges.
Doch 1953 sah sich Cannon mit einer starken revisionistischen Tendenz im Internationalen Sekretariat der Vierten Internationale konfrontiert, die von Michel Pablo und Ernest Mandel vertreten wurde und die Abkehr von den wesentlichen programmatischen Grundlagen der trotzkistischen Bewegung vorschlug. Die zentralen Elemente von Pablos Revisionismus bestanden darin, dass Trotzkis Beharren auf dem konterrevolutionären Charakter des Stalinismus und die Perspektive des Aufbaus der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution zurückgewiesen wurden. Pablo und sein Gefolgsmann Mandel befürworteten die Auflösung der Sektionen der Vierten Internationale in den stalinistischen Massenparteien oder, je nach Kräfteverhältnis in einem Land, in den sozialdemokratischen, bürgerlich-nationalistischen und kleinbürgerlich-radikalen Bewegungen.
In den Vereinigten Staaten trieben die Anhänger von Pablo dieses Liquidationsprogramm unter dem Banner „Junk the Old Trotskyism“ („Werft den alten Trotzkismus auf den Müll“) voran. Sie verspotteten Cannon und die altgediente Führung der SWP als „Museumsstücke“, deren Verteidigung des „orthodoxen Trotzkismus“ politisch irrelevant sei. Pablo entfesselte dabei nicht einfach einen Krieg der Worte. Er nutzte seine Position im Internationalen Sekretariat, um antitrotzkistische Fraktionen in der Vierten Internationale zu organisieren und Einzelpersonen und sogar ganze Sektionen auszuschließen, die sich seinem Bestreben widersetzten, die Vierte Internationale als unabhängige revolutionäre Bewegung zu liquidieren.
Die politische Konzeption, die Pablos Krieg gegen die Vierte Internationale zugrunde lag, war seine Auffassung, dass der Stalinismus im Gegensatz zu Trotzkis Analyse eine mächtige revolutionäre Kraft blieb. Unter dem Druck der Massen und unter den Bedingungen eines globalen Atomkriegs würden die Stalinisten gezwungen sein, die Macht zu übernehmen. Das Ergebnis dieses Prozesses wäre die Schaffung „deformierter Arbeiterstaaten“, die sich im Laufe eines Zeitraums von mehreren Jahrhunderten auf unerfindliche Weise zu sozialistischen Gesellschaften entwickeln würden.
Dass diese bizarre Perspektive eine beträchtliche Anhängerschaft fand, zeugte nicht nur von der politischen Orientierungslosigkeit, die sich innerhalb der Vierten Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, sondern auch vom wachsenden Einfluss eines zunehmend wohlhabenden und politisch selbstbewussten Kleinbürgertums, das in linksradikaler Politik eine Rolle spielte.
Die Grundprinzipien des IKVI
Cannons Veröffentlichung des später so bekannten „Offenen Briefs“ war eine entscheidende politische Initiative zur Verteidigung der Vierten Internationale. Ausgehend von seiner immensen politischen Erfahrung fasste Cannon die Grundprinzipien der trotzkistischen Bewegung prägnant zusammen. Er schrieb:
1. Der Todeskampf des kapitalistischen Systems droht, die Zivilisation durch immer schlimmere Depressionen, Weltkriege und barbarische Erscheinungen wie den Faschismus zu zerstören. Die Entwicklung von Atomwaffen unterstreicht heute diese Gefahr auf das Ernsteste und Nachdrücklichste.
2. Der Sturz in den Abgrund kann nur verhindert werden, indem der Kapitalismus weltweit durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzt und so die Spirale des Fortschritts, die der Kapitalismus in seiner Frühzeit in Gang gesetzt hat, wieder aufgenommen wird.
3. Dies kann nur unter der Führung der Arbeiterklasse geschehen, da sie die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse in der Gesellschaft ist. Doch die Arbeiterklasse selbst ist mit einer Krise der Führung konfrontiert, obwohl die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf Weltebene noch nie so günstig wie heute dafür waren, dass die Arbeiter den Weg der Machteroberung beschreiten können.
4. Um sich für die Durchsetzung dieses welthistorischen Zieles zu organisieren, muss die Arbeiterklasse in jedem Land eine revolutionäre Partei nach dem Muster, wie es Lenin entwickelt hat, aufbauen; d.h. eine Kampfpartei, die in der Lage ist, Demokratie und Zentralismus dialektisch zu vereinen, – Demokratie in der Entscheidungsfindung, Zentralismus bei der Durchführung dieser Beschlüsse –, mit einer Führung, die von den einfachen Mitgliedern kontrolliert wird, Mitgliedern, die fähig sind, diszipliniert vorzugehen, auch wenn sie unter Feuer stehen.
5. Das Haupthindernis hierfür ist der Stalinismus, der dadurch, dass er das Ansehen der Oktoberrevolution von 1917 in Rußland ausnutzt, Arbeiter anzieht, nur um dann später ihr Vertrauen zu missbrauchen und sie entweder in die Arme der Sozialdemokratie, in Apathie oder zurück zu Illusionen über den Kapitalismus zu treiben. Den Preis für diese Verrätereien hat dann das arbeitende Volk zu zahlen, in Form einer Stärkung faschistischer oder monarchistischer Kräfte und durch neue Kriege, die der Kapitalismus hervorbringt und vorbereitet. Seit ihrer Gründung stellte sich die Vierte Internationale als eine ihrer Hauptaufgaben den Sturz des Stalinismus innerhalb und außerhalb der UdSSR.
6. Viele Sektionen der Vierten Internationale, wie auch Parteien und Gruppen, die mit ihrem Programm sympathisieren, stehen vor der Notwendigkeit einer flexiblen Taktik. Es ist daher um so dringender, dass sie wissen, wie man den Imperialismus und alle seine kleinbürgerlichen Agenturen (wie z.B. nationalistische Organisationen und Gewerkschaftsbürokratien) bekämpft, ohne vor dem Stalinismus zu kapitulieren; dass sie umgekehrt wissen, wie man gegen den Stalinismus kämpft (der letzten Endes eine kleinbürgerliche Agentur des Imperialismus ist), ohne vor dem Imperialismus zu kapitulieren.
Diese grundlegenden Prinzipien, die Leo Trotzki aufgestellt hat, behalten auch in der heutigen, immer komplizierteren und sich verändernden politischen Weltlage ihre volle Gültigkeit. Tatsächlich haben die revolutionären Situationen, die sich, wie Trotzki vorhersah, überall eröffnen, erst jetzt vollen konkreten Inhalt all dem verliehen, was früher als eine Reihe von etwas entrückten, in keinem Zusammenhang mit der damaligen lebendigen Wirklichkeit stehenden Abstraktionen erschienen sein mag. In Wahrheit gewinnen diese Prinzipien zunehmend an Gültigkeit und Stärke, sowohl in der politischen Analyse als auch bei der Bestimmung des Kurses für das praktische Handeln.
Siebzig Jahre nach seiner Veröffentlichung hat der Offene Brief als Zusammenfassung der gegenwärtigen politischen Situation und der Aufgaben der Vierten Internationale unter Führung des Internationalen Komitees nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Cannons Warnung vor dem Einsatz von Atomwaffen und der Gefahr faschistischer Barbarei ist heute noch aktueller als 1953.
Die größte Veränderung besteht darin, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert und die stalinistischen Massenparteien hinweggefegt wurden. In dem Maße, wie die reaktionäre stalinistische Politik von Klassenzusammenarbeit, Nationalismus und Antisozialismus in neuem politischem Gewand fortbesteht, ist sie als Hindernis für die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse natürlich nicht verschwunden.
Die Arbeiterklasse ist nach wie vor mit dem systematischen und organisierten Verrat der Gewerkschaftsbürokratien und der reaktionären Organisationen konfrontiert, die sich immer noch als „Labour-Parteien“, als „Sozialdemokraten“ und „Grüne“ bezeichnen. Das Gleiche gilt für die unzähligen pseudolinken, bürgerlichen und kleinbürgerlichen nationalistischen Parteien und Organisationen, von denen viele ihren Ursprung in der pablistischen Zurückweisung des Programms der Vierten Internationale haben. Die Krise der revolutionären Führung muss nach wie vor gelöst werden.
Doch von der falschen und politisch desorientierenden Identifikation des Stalinismus mit dem Erbe und Programm der Oktoberrevolution ist absolut nichts übrig geblieben. Der Kollaps der stalinistischen Massenorganisationen hat den Kampf bestätigt, den Trotzki vor einem Jahrhundert mit der Gründung der Linken Opposition einleitete, und die politische Perspektive der Weltrevolution des Internationalen Komitees der Vierten Internationale untermauert. Dies sind politische Tatsachen von immenser Bedeutung in der gegenwärtigen internationalen Krise des kapitalistischen Weltsystems.
Sturz in den Abgrund: Der Völkermord in Gaza
Wir versammeln uns heute inmitten des um sich greifenden Völkermordes in Gaza. Es handelt sich um eine Verwirklichung dessen, was der Offene Brief warnend als „Sturz in den Abgrund“ bezeichnet hat. Der Kapitalismus ist, wie Marx schrieb, „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ geschichtlich ins Leben getreten. Und so wird es auch enden.
Milliarden Menschen auf der ganzen Welt sind empört über die täglichen Bilder der Gräueltaten, die das israelische Regime mit der vollen Unterstützung aller imperialistischen Mächte begeht. All die heuchlerischen Beschwörungen der „Menschenrechte“, mit denen die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten ihre Kriege rechtfertigen – meist als „humanitäre Interventionen“ bezeichnet –, sind völlig entlarvt und diskreditiert worden.
Jeder einzelne imperialistische Führer – Biden in den Vereinigten Staaten, Trudeau in Kanada, Sunak in Großbritannien, Macron in Frankreich, Scholz in Deutschland, Meloni in Italien – ist als Komplize Netanjahus vollständig am Massenmord beteiligt. Wenn es zu Kriegsverbrecherprozessen käme, könnten sie sich nicht darauf berufen, dass sie von den Gräueltaten des israelisch-zionistischen Regimes nichts gewusst hätten, wie es einige der Nazi-Rädelsführer in Nürnberg absurderweise versuchten. Sie sind sich dieser Verbrechen nicht nur bewusst, sie haben sie auch gerechtfertigt und sogar begrüßt.
Bis zum 16. November wurde der Tod von 11.500 Menschen im Gazastreifen bestätigt, darunter mindestens 4.710 Kinder. Die Rate, mit der palästinensische Kinder getötet werden, ist um Größenordnungen höher als in jedem anderen Konflikt des 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus wurden mehr als 29.800 Palästinenser verletzt. Ohne Kommunikationsmöglichkeiten hat das Gesundheitsministerium im Gazastreifen aufgehört, die Zahl der Toten und Verletzten zu zählen. Seit dem 7. Oktober wurden bei israelischen Angriffen täglich durchschnittlich 320 Menschen im Gazastreifen ermordet. Wenn diese Rate bis heute anhält, wird die Zahl der Toten wahrscheinlich über 13.000 liegen. Mehr als die Hälfte davon sind Frauen und Kinder. Durch die Bombardierung des Gazastreifens wurden 40 Prozent der Häuser im nördlichen Gazastreifen zerstört oder beschädigt und die Systeme für die Gesundheitsversorgung, die Lebensmittelverteilung und die Wasseraufbereitung zerstört, was nach internationalem Recht eindeutig als Kriegsverbrechen gilt. Und während sich die Gewalt der israelischen Militärmaschinerie vor allem gegen die Menschen im Gazastreifen richtet, haben die Armee und die faschistischen Siedler etwa 175 Palästinenser im Westjordanland ermordet.
Der völkermörderische Charakter des israelischen Angriffs steht außer Frage. Er wird auch von ausdrücklichen Statements der israelischen Führung bestätigt. Der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir hat erklärt, dass jeder, der die Hamas unterstützt, „eliminiert“ werden sollte. Amihai Eliyahu, ein Koalitionspartner Netanjahus und Minister für das israelische Kulturerbe, sagte, dass der Abwurf einer Atombombe auf den Gazastreifen eine Option sein sollte. Galit Distel Atbaryan, bis vor kurzem Israels Informationsministerin, forderte die Auslöschung „des gesamten Gazastreifens vom Angesicht der Erde“ und die Vertreibung der Bevölkerung nach Ägypten.
Ende Oktober erklärte Craig Mokhiber, als er von seinem Posten als Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zurücktrat: „Dies ist ein Fall von Völkermord wie aus dem Lehrbuch. Das europäische, ethno-nationalistische, koloniale Projekt der Siedler in Palästina ist in seine letzte Phase eingetreten, in der es um die beschleunigte Zerstörung der letzten Überreste einheimischen palästinensischen Lebens in Palästina geht. Darüber hinaus sind die Regierungen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und eines Großteils von Europa an diesem schrecklichen Angriff beteiligt.“ Volker Turk, UN-Kommissar für Menschenrechte, erklärte in Genf: „Die grundlegendsten menschlichen Werte sind nicht mehr geachtet worden. Die Tötung so vieler Zivilisten kann nicht als Kollateralschaden abgetan werden.“
Die Erstürmung und Durchsuchung des Al-Shifa-Krankenhauses – von der das Netanjahu-Regime behauptet hatte, sie würde dessen Nutzung durch die Hamas als Zentrum für militärische Operationen aufdecken – hat nur weitere Beweise für Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit geliefert.
Der Schlachtruf des Imperialismus: „Kein Waffenstillstand“
Im Angesicht der unwiderlegbaren, täglich sichtbaren Beweise für die hemmungslose Gewalt gegen die Zivilbevölkerung haben sich die imperialistischen Mächte wiederholt und nachdrücklich gegen Forderungen nach einem Waffenstillstand ausgesprochen. „Kein Waffenstillstand“ ist zum mörderischen Kriegsschrei der Verbündeten des israelischen Regimes geworden. Stattdessen haben die Euphemismusexperten der US-Regierung und ihrer Nato-Verbündeten den Ausdruck „humanitäre Feuerpause“ erfunden – eine bemerkenswerte Art, das Nachladen der Waffen und die Neujustierung der Ziele durch die israelischen Streitkräfte zu beschreiben.
Die israelische Regierung und ihre imperialistischen Unterstützer rechtfertigen die völkermörderische Terrorkampagne als legitime Reaktion auf den Aufstand der Hamas vom 7. Oktober. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es keine offizielle Untersuchung der Ereignisse dieses Tages gegeben hat. Es gibt keine genauen Angaben über die Zahl der Todesopfer, geschweige denn darüber, wie sie ums Leben kamen. Es gibt keine zuverlässigen Informationen darüber, wie viele israelische Opfer durch die Hamas und wie viele durch die massiven Vergeltungsmaßnahmen des israelischen Militärs ums Leben kamen. Zu den unbeantworteten Fragen gehört auch, inwieweit die Netanjahu-Regierung auf der Suche nach einem Vorwand für einen Angriff auf den Gazastreifen absichtlich Geheimdienstinformationen übersehen hat, die auf eine von der Hamas geplante Operation hinwiesen. Es ist zwar durchaus möglich, dass das Netanjahu-Regime das Ausmaß des Einmarsches in Israel nicht vorhergesehen hat, aber es ist kaum anzunehmen, dass die israelischen Geheimdienste, deren Agenten im gesamten Gazastreifen und im Westjordanland tätig sind, von den Vorbereitungen der Hamas auf eine größere Militäroperation nichts mitbekommen haben.
Weitere Informationen werden sicherlich noch folgen. Doch der Versuch des israelischen Regimes, seine gegenwärtigen Maßnahmen als angemessene Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober zu rechtfertigen, ist ein grundlegender Betrug und geht, um es ganz offen zu sagen, weitgehend am Thema vorbei. Der Versuch, den Angriff auf den Gazastreifen als legitime Vergeltung für den Angriff der Hamas zu rechtfertigen, ist nichts anderes als die Argumente, die Unterdrücker im Laufe der Geschichte immer benutzt haben, um die Niederschlagung des Widerstands der Unterdrückten zu rechtfertigen.
Wenn ich aus einem Vortrag zitieren darf, den ich letzten Monat an der Universität von Michigan gehalten habe:
Der Tod so vieler unschuldiger Menschen ist tragisch. Aber die Wurzeln dieser Tragödie liegen in objektiven historischen Entwicklungen und politischen Bedingungen, die ein solches Ereignis unvermeidlich machten. Wie immer sträuben sich die herrschenden Klassen gegen jeden Hinweis auf die Ursachen des Aufstands. Ihre eigenen Massaker und das gesamte blutige System der Unterdrückung, das sie in aller Brutalität betreiben, dürfen nicht erwähnt werden.
Aber ist es wirklich überraschend, dass sich die Wut über die jahrzehntelange Unterdrückung durch das zionistische Regime explosiv Bahn gebrochen hat? So ist es auch früher gewesen, und solange Menschen unterdrückt und misshandelt werden, wird es auch in Zukunft so bleiben. Von denjenigen, die unter Unterdrückung leiden, kann nicht erwartet werden, dass sie in einer verzweifelten Rebellion, bei der ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht, ihren Peinigern mit zartfühlender Höflichkeit begegnen. Solche Aufstände sind oft durch grausame und blutige Racheakte gekennzeichnet.
Es gibt viele Beispiele: der Sepoy-Aufstand in Indien, der Aufstand der Dakota-Indianer gegen die Siedler, der Boxeraufstand in China, der Aufstand der Hereros in Südwestafrika und, in jüngerer Zeit, der Aufstand der Mau Mau in Kenia. Jedes Mal wurden die Aufständischen als herzlose Mörder und Dämonen beschimpft und mit brutaler Vergeltung überzogen. Es mussten Jahrzehnte, wenn nicht gar ein Jahrhundert oder mehr vergehen, bis sie mit Verspätung als Freiheitskämpfer geehrt wurden.
Terroristische Vorfälle als Vorwand für Krieg und Unterdrückung
Was das kalkulierte Ausnutzen eines terroristischen Vorfalls als Vorwand für die Verwirklichung der politischen Ziele einer Regierung betrifft, so gibt es eine Reihe von Beispielen. 1914 nutzte die österreichisch-ungarische Monarchie die Gelegenheit der Ermordung ihres Erzherzogs in Sarajewo, um Serbien ein inakzeptables Ultimatum zu stellen und in den Krieg zu ziehen.
Im November 1938 verübte der 17-jährige polnische Flüchtling Herschel Grynszpan, der in Paris lebte, ein Attentat auf Ernst von Rath, einen Angehörigen des deutschen diplomatischen Corps. Mit dieser Tat protestierte er gegen die brutale antijüdische Politik des Naziregimes. Die Nazis nutzten die Verzweiflungstat dieses jungen Mannes, um in ganz Deutschland ein gewalttätiges antijüdisches Pogrom zu orchestrieren, das als „Reichspogromnacht“ berüchtigt wurde. Über 100 Juden wurden ermordet und 30.000 wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Fast 300 Synagogen wurden zerstört und tausende Geschäfte in jüdischem Besitz geplündert.
Es ließen sich noch viele andere Vorfälle anführen, wie etwa der Mordanschlag auf Shlomo Argov, den israelischen Botschafter in Großbritannien, am 3. Juni 1982 in London. Die israelische Regierung nutzte dieses Ereignis als Vorwand für eine groß angelegte Invasion des Libanons, die sie als „Operation Frieden für Galiläa“ bezeichnete und deren Ziel die Einrichtung einer Sicherheitszone im Südlibanon war.
Eine Folge dieser Invasion war das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila in Beirut. Die Massaker wurden drei Tage lang, vom 16. bis 18. September, von libanesischen christlich-faschistischen Milizen verübt, die mit Israel verbündet waren. Den Faschisten wurde von den israelischen Streitkräften, die Beirut umzingelt hatten, der Zugang zu den Lagern gestattet. Dort schlachteten sie mit Billigung des israelischen Verteidigungsministers und späteren Premierministers Ariel Sharon mehrere tausend palästinensische Flüchtlinge ab.
Schließlich ist da noch die Zerstörung der Zwillingstürme des World Trade Centers am 11. September 2001. Das undurchsichtige Ereignis wurde aus einer „Sicherheitslücke“ in Folge eines „Versäumnisses, die Zusammenhänge zu erkennen“ erklärt und von der Bush-Regierung genutzt, um in Afghanistan und im Irak einzumarschieren. Gleichzeitig weitete man die militärischen Operationen der Vereinigten Staaten im gesamten Nahen Osten und in Zentralasien erheblich aus, übernahm die israelische Praxis der „gezielten Tötungen“ und schuf innerhalb der Vereinigten Staaten das Heimatschutzministerium, stärkte die repressive Macht des Staates und untergrub die demokratischen Rechte der Amerikaner.
Trotz der uneingeschränkten Unterstützung der israelischen Invasion, die Verstärkung durch eine massive Propagandakampagne in den Medien erhält, ist der Genozid auf eine mächtige internationale Protestbewegung von beispiellosem Ausmaß gestoßen. Überall auf der Welt wurden Demonstrationen von Zehn- und sogar Hunderttausenden organisiert.
In einem Versuch, die Proteste zu diskreditieren, haben Israel, die mit ihm verbündeten Regierungen und natürlich pro-zionistische Organisationen diese Demonstrationen als „antisemitisch“ denunziert. Damit werden die Bemühungen der letzten Jahrzehnte fortgesetzt und verschärft, allen Gegnern von Israels Unterdrückung der Palästinenser dieses Etikett anzuheften.
Angesichts der Tatsache, dass Menschen jüdischer Herkunft und insbesondere jüdische Jugendliche eine außerordentlich prominente Rolle bei den Demonstrationen gespielt haben – vor allem in den Vereinigten Staaten, die den größten jüdischen Bevölkerungsanteil außerhalb Israels aufweisen – mag der Vorwurf des Antisemitismus schlicht absurd erscheinen.
Schlimmer noch – angesichts der Tatsache, dass Opposition gegen den Genozid unablässig als Ausdruck von Antisemitismus identifiziert wird, kann man berechtigterweise die Befürchtung äußern, dass dieser reaktionäre Missbrauch dieses Wortes zu einer Legitimierung antijüdischer Ressentiments führen wird.
Die Ursprünge des Zionismus
Die gegenwärtigen politischen Beweggründe für die Hetzkampagne sind offensichtlich. Doch die Bedeutung des Antisemitismusvorwurfs geht über seine unmittelbar pragmatische Anwendung hinaus. Antisemitismus allen Gegnern des israelischen Staates zuzuschreiben, hat seine Wurzel in der irrationalistischen und nationalchauvinistischen Ideologie, auf der das gesamte zionistische Projekt seit seiner Entstehung als bedeutende politische Bewegung im späten neunzehnten Jahrhundert beruht.
Nachdem jüdische Intellektuelle und Mittelschichten in weiten Teilen West- und Mitteleuropas durch den Siegeszug der Aufklärung und die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Französischen Revolution allmählich aus der Enge des Ghettos befreit worden waren, verbanden sie sozialen Fortschritt und die Erlangung demokratischer Rechte eher mit ihrer Assimilation als mit ihrer Segregation aus der Gesellschaft. Sie wollten, dass ihre Religion als Privatsache betrachtet wird und somit keine Auswirkungen auf ihren Status als Bürger mit vollen demokratischen Rechten hat. Eine beträchtliche Zahl von Juden erachtete ihr eigenes Streben nach demokratischen Rechten zunehmend als Bestandteil des größeren und weitaus bedeutenderen welthistorischen Kampfes des Proletariats gegen die Hauptursache der sozialen Unterdrückung in der modernen Welt – das kapitalistische System – und ordnete es diesem Kampf unter.
Darüber hinaus war der proletarische Kampf für Sozialismus seinem Wesen nach international und widersprach der Priorisierung jeglicher Form von religiöser, ethnischer oder nationaler Identität gegenüber der universellen Solidarität der Arbeiterklasse. Aus diesem Grund war die Haltung der sozialistischen Bewegung gegenüber der zionistischen Bewegung, als sie in den späten 1880er und 1890er Jahren aufkam, von unversöhnlicher Feindseligkeit geprägt.
Die Behauptung, wonach „Rasse“ vor Klasse Vorrang genieße, wurde von Moses Hess in seinem Buch Rom und Jerusalem, das 1862 veröffentlicht wurde, mit Nachdruck vertreten. Hess hatte in den frühen 1840er Jahren eine bedeutende Rolle in der frühen sozialistischen Bewegung gespielt, wurde aber durch die am Ende des Jahrzehnts erlittenen Niederlagen demoralisiert. Als erste bedeutende Persönlichkeit, die die Perspektive eines jüdischen Staates in Palästina vertrat, erklärte Hess – in direktem Gegensatz zur Perspektive von Marx: „Die ganze bisherige Geschichte bewegte sich in Rassen- und Klassenkämpfen. Der Rassenkampf ist das Ursprüngliche, der Klassenkampf das Sekundäre.“
In Rom und Jerusalem sind bereits mehrere wesentliche Elemente der zionistischen Ideologie beinhaltet. Die erste ist, wie in der soeben zitierten Erklärung dargelegt, der Vorrang der „Rasse“ gegenüber der Klasse.
Zweitens beharrt Hess darauf, dass der Nationalstaat die wesentliche Grundlage allen politischen Lebens und der unverzichtbare Rahmen für das Überleben und den Fortschritt der Juden ist. „Die jüdische Volksmasse“, schrieb er, „wird sich an der großen geschichtlichen Bewegung der modernen Menschheit erst dann betheiligen, wann sie ein jüdisches Vaterland haben wird.“
Das dritte wesentliche Element ist die zutiefst demoralisierte und pessimistische Überzeugung, dass die Juden in den bestehenden europäischen Staaten niemals assimiliert werden können. Zu glauben, dass Juden die Verfolgung überwinden und durch den Kampf der europäischen Arbeiterklasse für den Sozialismus ihre volle Emanzipation erreichen könnten, sei eine Illusion: „Wozu die Täuschung? — Die europäischen Völker haben die Existenz der Juden in ihrer Mitte niemals anders denn als eine Anomalie betrachtet. Wir werden stets Fremde unter Nationen bleiben... Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Race... Weder Reform, noch Taufe, weder Bildung, noch Emancipation erschliesst den deutschen Juden vollständig die Pforten des socialen Lebens.“
Das vierte Element war die Überzeugung, dass die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina nur insoweit möglich wäre, wie sie als vorteilhaft für die Interessen einer europäischen Großmacht angesehen wurde. Für Hess, der im Europa der 1860er Jahre lebte, war diese Macht Frankreich, das damals von der reaktionären Diktatur des Kaisers Louis Bonaparte regiert wurde. Frankreich, schrieb er, werde „der Gründung von jüdischen Colonieen am Canal von Suez und an den Ufern des Jordans in einer nicht mehr fernen Zeit Vorschub leisten“. Im zwanzigsten Jahrhundert verfolgte die zionistische Bewegung ihre Ziele, indem sie dem türkischen Sultan, dem russischen Zaren und etwas später dem britischen und schließlich dem amerikanischen Imperialismus ihre Dienste anbot.
Obwohl es zu seinen Lebzeiten relativ unbekannt blieb, nahm Hess’ Rom und Jerusalem viele der Konzepte vorweg, die mehrere Jahrzehnte später die Politik der zionistischen Bewegung bestimmen sollten. Theodor Herzl sagte später, wenn er das Buch von Hess gekannt hätte, wäre es nicht nötig gewesen, sein eigenes Buch Der Judenstaat zu schreiben. Es muss jedoch sofort festgestellt werden, dass Herzl Hess intellektuell in jeder Hinsicht unterlegen war und im Gegensatz zu letzterem, der sich nach der Gründung der Ersten Internationale wieder der sozialistischen Bewegung annäherte, dem Sozialismus und einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse feindlich gegenüberstand.
Sozialistische Opposition gegen den Zionismus
Die Pogrome – gewalttätige antijüdische Ausschreitungen –, die 1881 im Russischen Reich ausbrachen und mit Unterstützung des zaristischen Regimes bis 1882 andauerten, hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die politische Einstellung breiter Teile der jüdischen Bevölkerung. Diese blutigen Ereignisse gaben den Anstoß zu einem immensen Anwachsen der politischen Aktivität unter Juden. In dieser Zeit begann der Zionismus, der das Programm der jüdischen Auswanderung nach Palästina propagierte, eine bedeutende Anhängerschaft zu gewinnen. Eine weitaus stärkere Tendenz war jedoch die Beteiligung der jüdischen Jugend an sozialistischer Politik. In den späten 1890er Jahren manifestierten sich diese Aktivitäten vor allem in der entstehenden Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und im Sozialistischen Bund, die eine unabhängige politische Organisation der jüdischen Arbeiter auf der Grundlage sozialistischer Politik anstrebten.
Beide sozialistischen Strömungen standen der zionistischen Bewegung unversöhnlich gegenüber und wiesen ihren Anspruch, die Interessen des jüdischen Volkes zu vertreten, entschieden zurück. Bezeichnenderweise lagen die Sympathien des zaristischen Regimes im politischen Kampf zwischen Zionisten und Sozialisten ganz auf der Seite der Zionisten, die sie als Verbündete im Kampf gegen den zunehmend gefährlichen Einfluss der sozialistischen Bewegung auf die jüdische Jugend betrachteten. Sie sympathisierte mit dem Ziel des zionistischen Projekts, der Auswanderung von Juden aus Russland nach Palästina.
Der Historiker Jossi Goldstein schrieb:
Die positive Haltung der Behörden gegenüber den Aktivitäten der zionistischen Bewegung hatte weitreichende Folgen. Im Gegensatz zu ihren Konkurrenten im Sozialistischen Bund mussten die zionistischen Aktivisten nicht die Geheimhaltung wahren, die die Ausbreitung ihrer Bewegung behindert hätte. Die Dynamik, die für die Jahre 1898-1900 charakteristisch war, war weitgehend auf die von den Behörden gewährte Legitimation zurückzuführen. Damit eröffnete sich den Leitern der Bewegung (den Murshim) und anderen Organisatoren ein weites Betätigungsfeld, das anderen Bewegungen verwehrt blieb. Dies verschaffte dem Zionismus einen bedeutenden Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten im Wettbewerb um Anhängerschaft in der jüdischen Bevölkerung.[1]
Die heutige Behauptung, Antizionismus sei Antisemitismus, wäre damals – als tausende jüdische Arbeiter und sogar beträchtliche Teile der jüdischen Mittelklasse-Intelligenz ihre politische Energie auf den Kampf für Sozialismus richteten – als bösartige Verleumdung oder gar als politischer Wahnsinn abgetan worden.
Goldstein stellte fest: „In der Propaganda des Bundes wurde der Schwerpunkt auf die Klassenunterschiede gelegt, wobei der Zionismus das Klein- und Mittelbürgertum und der Bund das jüdische Proletariat vertrat.“[2] Die Feindseligkeit des Bundes gegenüber dem Zionismus war so tiefgehend und von so grundlegendem Charakter, dass auf dem Vierten Kongress des Bundes im Mai 1901 „zum ersten Mal beschlossen wurde“, schrieb Goldstein, „einen Krieg bis zum Tod gegen den Zionismus zu führen“[3]. In bündischen Publikationen wurde gewarnt, dass „der Zionismus nur eine Maske ist, hinter der man die Arbeiter ausbeutet und das werktätige Volk betrügt“. Der Bund rief seine Mitglieder dazu auf, sich von „den Hunderten üblen kleinen Kreaturen fernzuhalten, die aus dem verrotteten Leichnam des Zionismus hervorkriechen und auf das Proletariat zugehen, um es dazu zu bringen, vom Weg des Klassenkampfes abzuweichen“[4].
Die Feindseligkeit der Sozialisten gegenüber dem Zionismus wurde weitgehend von großen Teilen der russischen Intelligenz geteilt, die, wie Goldstein schrieb, „die zionistische Bewegung angriffen und ihre Ideen verabscheuten. Die meisten von ihnen wünschten sich ihr Verschwinden. Die Motive und Gründe für die einmütige antizionistische Front der russischen Intelligenz... waren im Rationalismus verwurzelt, der die allgemeine Theoriebildung der Intelligenz zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmte. Für viele blieb der Zionismus eine Art Utopie, verbunden mit der Sehnsucht nach Zion und jüdischem eschatologischen Denken außerhalb der rationalen, intellektuellen Welt. Herzl und seinesgleichen wurden in Westeuropa eher als Verbündete der jüdischen Orthodoxie denn als Abkömmlinge der westlichen Aufklärung betrachtet“[5].
Der Antizionismus aller Fraktionen der sozialistischen Bewegung verhinderte, dass die Zionisten ernstlich in der Arbeiterklasse Fuß fassen konnten. „Von Anfang an“, schreibt Goldstein am Ende seines historischen Essays, „zog die zionistische Bewegung vor allem Mitglieder der jüdischen Mittelschicht an“[6].
Die Zionisten erlangten nie die für den Erfolg ihres reaktionären Kolonisierungsprojekts notwendige Massenbasis, bis die Katastrophe des Holocausts ihnen mehrere Hunderttausend verzweifelt verfolgte und staatenlose Menschen, Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords, in die Arme trieb.
Zionistische Kollaboration mit den Nazis
Es gibt vor der Gründung Israels im Jahr 1948 keine Periode in der Geschichte, die den reaktionären Charakter des Zionismus und seinen betrügerischen Anspruch, die Interessen des jüdischen Volkes zu vertreten, so gründlich entlarvt hat wie sein Verhalten in den 1930er Jahren. Das Ausmaß der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Nazis und den Zionisten ist von Historikern ausführlich dokumentiert worden. Viele der wichtigsten Werke zu diesem Thema wurden von jüdischen Historikern verfasst, von denen Saul Friedlander und Tom Segev die bekanntesten sind.
Nach Hitlers Machtergreifung neigten die zionistischen Organisationen dazu, mit den Nazis zu kollaborieren, und argumentierten sogar, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch der Zionismus nationale Bewegungen seien, deren „völkische“ Prinzipien miteinander vereinbar seien.
Zionistische Vertreter aus Deutschland und Palästina lehnten Massenproteste und einen Wirtschaftsboykott des Nazi-Regimes ab. Stattdessen trafen sie sich mit Vertretern des Dritten Reichs und schlossen am 27. August 1933 ein als Haavarah bekanntes Finanzabkommen. Es sah vor, wie Friedlander erklärt, „jüdischen Emigranten den indirekten Transfer eines Teils ihres Vermögens zu ermöglichen und die Ausfuhr von Waren aus Nazi-Deutschland nach Palästina zu erleichtern“[7].
Friedlander fährt fort:
Einer der wichtigsten Vorteile, die sich das neue Regime von Haavarah erhoffte, war ein Bruch des jüdischen Wirtschaftsboykotts gegen Deutschland... Die zionistischen Organisationen und die Führung des Jischuw (der jüdischen Gemeinde in Palästina) distanzierten sich von jeder Form von Massenprotest oder Boykott, um die neuen Vereinbarungen nicht zu behindern. Schon vor dem Abschluss des Haavarah-Abkommens nahm diese „Zusammenarbeit“ manchmal bizarre Formen an. So wurde Anfang 1933 Baron Leopold Itz Edler von Mildenstein, ein Mann, der einige Jahre später Chef der jüdischen Abteilung des SD (des Sicherheitsdienstes, des von Reinhard Heydrich geleiteten Nachrichtendienstes der SS) werden sollte, zusammen mit seiner Frau eingeladen, Palästina zu bereisen und eine Reihe von Artikeln für Goebbels’ Der Angriff zu schreiben. Und so besuchten die Mildensteins in Begleitung von Kurt Tuchler, einem führenden Mitglied der zionistischen Organisation Berlins, und seiner Frau jüdische Siedlungen in Eretz Israel. Die äußerst positiven Artikel mit dem Titel „Ein Nazi besucht Palästina“ wurden ordnungsgemäß veröffentlicht, und aus diesem Anlass wurde ein spezielles Medaillon gegossen, das auf der einen Seite ein Hakenkreuz und auf der anderen einen Davidstern zeigt.
Am 22. Juni 1933 schickten die Führer der Zionistischen Vereinigung für Deutschland ein Memorandum an Hitler, in dem sie erklärten:
Der Zionismus ist der Ansicht, dass die Wiedergeburt des nationalen Lebens eines Volkes, wie sie jetzt in Deutschland durch die Betonung seines christlichen und nationalen Charakters stattfindet, auch im jüdischen Volk stattfinden muss. Auch für das jüdische Volk müssen die nationale Herkunft, die Religion, die Schicksalsgemeinschaft und das Gefühl der Einzigartigkeit von entscheidender Bedeutung für seine Existenz sein. Dies erfordert die Abschaffung des egoistischen Individualismus der liberalen Ära und seine Ersetzung durch einen Sinn für Gemeinschaft und kollektive Verantwortung.
Später versuchten die Apologeten der Zionisten, solche Äußerungen und die Haavarah als Überlebensmaßnahmen unter verzweifelten Umständen zu erklären, als ob der Triumph des Faschismus die Kollaboration rechtfertige. Die Reaktion der Zionisten auf die brutale Verfolgung der Juden durch die Nazis und sogar auf ihre Ermordung wurde durch Berechnungen der Auswirkungen auf die Aussichten für die jüdische Auswanderung nach Palästina bestimmt. Wie David Ben-Gurion, der Führer der zionistischen Bewegung, in einem berühmt-berüchtigten Zitat erklärte:
Wenn ich wüsste, dass es möglich wäre, alle [jüdischen] Kinder in Deutschland zu retten, indem man sie nach England transportiert, aber nur die Hälfte von ihnen, indem man sie nach Palästina transportiert, würde ich mich für die zweite Möglichkeit entscheiden – denn wir stehen nicht nur vor der Abrechnung mit diesen Kindern, sondern vor der historischen Abrechnung mit dem jüdischen Volk.[8]
Nach den „Kristallnacht“-Pogromen äußerte Ben-Gurion darüber hinaus die Befürchtung, dass das Ereignis zu internationaler Sympathie für die Notlage der Juden führen könnte, so dass verschiedene Länder ihre Einwanderungsbeschränkungen lockern und den Juden so Alternativen zu Palästina bieten würden.
Zionismus gegen Aufklärung: Die Metaphysik des nationalistischen Irrationalismus
Die von den zionistischen Organisationen geäußerte Sympathie für den Nationalsozialismus kann jedoch nicht nur als Ausdruck von Feigheit und groteskem taktischen Opportunismus erklärt werden. Der Zionismus, der aus dem imperialistischen Kolonialismus hervorging und ein Feind des Sozialismus und einer wissenschaftlichen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung war, stützte sich notwendigerweise auf die reaktionärsten Elemente nationalistischer Politik und Ideologie.
In einer Epoche, in der die treibende Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts der revolutionäre Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Nationalstaat geworden war, stützte der Zionismus sein Programm auf die Verherrlichung des nationalen Prinzips als wesentliche Grundlage der jüdischen Existenz. Alle aus der Aufklärung und den späteren sozialistischen Bewegungen stammenden Geschichtsauffassungen, die das Prinzip der nationalen Exklusivität untergruben – insbesondere diejenigen, die auf der Grundlage von Wissenschaft und Vernunft die nationale Identität als ein historisch begrenztes und vorübergehendes Phänomen ansahen, das mit einer bestimmten Phase der Entwicklung der Produktivkräfte und ihrer Beziehung zum Weltmarkt verbunden war –, wurden als unvereinbar mit dem Zionismus verurteilt, der sich nicht nur als politisches Programm, sondern auch als alleiniger Ausdruck der jüdischen Identität verstand. Die Legitimität des Zionismus zu leugnen, bedeutete also, das Existenzrecht der Juden zu leugnen.
Daraus folgt die heimtückische Behauptung, dass Opposition gegen den Zionismus antisemitisch ist, auch wenn der Opponent selbst Jude ist. In einem Buch mit dem Titel „Antisemitism and its Metaphysical Origins“ (Antisemitismus und seine metaphysischen Ursprünge), das 2015 bei Cambridge University Press erschienen ist, rechtfertigt Professor David Patterson – Professor für Geschichte am Ackerman Center for Holocaust Studies an der University of Texas in Dallas – diese Verleumdungen, indem er religiöse Mythen und Irrationalismus verteidigt. Er behauptet, dass der Ursprung des modernen Antisemitismus in der Aufklärung und insbesondere in der Philosophie von Immanuel Kant zu suchen ist. Er schreibt:
Die Doktrinen der Aufklärung wurden durch eine Denkweise hervorgebracht, die von Natur aus antisemitisch war: Die Philosophie der Aufklärung muss, wenn sie sich selbst treu bleiben will, antisemitisch sein. Wenn die menschliche Freiheit in der menschlichen Autonomie liegt, und wenn die menschliche Autonomie darin besteht, selbstbestimmt zu sein, wie Kant behauptet, dann erkennt man, dass nichts die selbstbestimmte menschliche Autonomie mehr bedroht als die befehlende Stimme vom Berg Sinai, die Stimme, die die moderne Sichtweise untergräbt, für die Kant eintritt und die die Welt heute annimmt.
Patterson fährt fort:
Wenn man sich die Prämisse der Aufklärung zu eigen macht, dass es keine getrennten Völker geben kann, sondern nur eine universelle, in der Vernunft begründete Humanität, dann muss man zwangsläufig eine antisemitische Position einnehmen... Wenn wir die Vaterschaft Gottes verlieren, verlieren wir die Brüderlichkeit der Menschheit: Sobald Gott überflüssig ist, ist auch der Mensch überflüssig. Der jüdische Staat ist also nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich. Für den linksintellektuellen Antizionisten gipfelt die moderne Geschichte des Ausschlusses von Gott in der Streichung des zionistischen Staates von der Landkarte.
Diese Worte stammen nicht aus einem fundamentalistischen Taschenbuch evangelikaler Christen, wie es sie in vielen amerikanischen Apotheken zu kaufen gibt. Es erschien unter dem Imprimatur der Cambridge University Press, einem der renommiertesten Verlage der Welt.
Der Angriff auf Gaza als Epizentrum der imperialistischen Barbarei
Sie zeugt nicht nur vom durch und durch reaktionären Charakter des Zionismus, sondern auch von der weit fortgeschrittenen politischen, gesellschaftlichen, intellektuellen und moralischen Fäulnis eines kapitalistischen Systems, das im nationalstaatlichen System verwurzelt ist. Hierin liegt die allgemeine Bedeutung der unnachgiebigen Solidarität aller imperialistischen Mächte mit dem israelischen Staat. Natürlich gibt es pragmatische geopolitische Interessen, die die Unterstützung der Vereinigten Staaten und ihrer Nato-Verbündeten für den Krieg Israels gegen das palästinensische Volk bestimmen.
Hinter dieser Einheitsfront gegen die Palästinenser steht jedoch die Erkenntnis, dass deren demokratische Bestrebungen, die die Auflösung des bestehenden israelischen Staates und die Schaffung einer neuen binationalen Föderation erfordern, nicht nur die Interessen des Imperialismus im Nahen Osten, sondern die gesamte historisch überholte Staatsstruktur der imperialistischen Geopolitik und der kapitalistischen Herrschaft bedrohen.
Weder die Unterdrückung des palästinensischen Volkes noch das historische und immer noch sehr reale Problem des Antisemitismus können im Rahmen des kapitalistischen Systems und seiner Nationalstaaten gelöst werden. Der Imperialismus hat mit der Gründung des israelischen Staates das „jüdische Problem“ nicht gelöst. Er hat die ungeheure Tragödie des Holocaust – eines der größten Verbrechen des Imperialismus – vielmehr für seine eigenen Zwecke gebraucht und ausgenutzt.
Eine Fokussierung auf den Krieg in Gaza ist angesichts des Ausmaßes des Verbrechens, das an der Bevölkerung begangen wird, sicherlich gerechtfertigt. Doch der Kampf für die Beendigung des Völkermordes rechtfertigt und verleiht der zentralen Perspektive und dem Daseinszweck des Internationalen Komitees der Vierten Internationale die größte Dringlichkeit: dem Kampf für die sozialistische Weltrevolution. Es gibt keine andere Antwort auf die Todeskrise des kapitalistischen Systems. Cannon fasste die Bedeutung der Spaltung der Vierten Internationale im Jahr 1953 zusammen, als er schrieb: „Es geht um die Entwicklung der internationalen Revolution und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.“
Angesichts des Völkermordes in Gaza, des Krieges in der Ukraine, der Gefahr einer Eskalation hin zu einem globalen Atomkrieg, der Angriffe auf demokratische Rechte, der schwindelerregenden sozialen Ungleichheit, der unkontrollierten Ausbreitung der Pandemie und der drohenden Umweltkatastrophe wendet sich das Internationale Komitee an die wachsende Massenbewegung der Arbeiter und Jugendlichen auf der ganzen Welt und sagt mit Nachdruck: „Die Aufgabe, mit der ihr konfrontiert seid, ist die Entwicklung der internationalen Revolution und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.“
Und deshalb müsst ihr euch den Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale anschließen und sie auf der ganzen Welt aufbauen.
Mehr lesen
“The Attitude of the Jewish and the Russian Intelligentsia to Zionism in the Initial Period (1897-1904)“, in: The Slavonic and East European Review, Vol. 64, No. 4 (October 1986), S. 547-48. (aus dem Englischen)
Ebd., S. 550
Ebd., S. 551
Ebd., S. 550
Ebd., S. 555
Ebd., S. 555
Friedlander, Nazi Germany and the Jews, S. 86 (aus dem Englischen)
Segev, Tom. The Seventh Million (S. 26). Farrar, Straus and Giroux. Kindle Edition (aus dem Englischen)